Jura Soyfer: Astoria; DNT Weimar

Das Verwunderliche zuerst: Corinna von Rad (Regie) fand die wunderbare Idee Jura Soyfers, den Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1925, George Bernard Shaw, leibhaftig auf die Bühne zu stellen, so wenig toll, dass sie seinen Text zwar nicht gänzlich strich, ihn selbst aber verschwinden ließ. Dafür darf eine Großfürstin Anastasia eine kleine und gar nicht unfeine Rolle spielen, die es bei Soyfer nicht gibt. Das Bewundernswerte sofort hinterher: Corinna von Rad hat einen Bühnentext auf die Bühne gestellt, nicht etwa den 614. Roman der vorigen Saison oder die zwölfte Spielfilmadaption. Dramaturgin Julie Paucker verriet allen, die zeitig genug im e-Werk erschienen waren, in ihrer Stückeinführung, dass eigentlich Dirk Laucke das Verdienst zugeschrieben werden muss, auf diesen Österreicher aufmerksam gemacht zu haben. Wer das Stück kennt, wird wissen: Das ist spielbar. Das ist von einer bestrickenden Frische, die mancher frisch in die Tastatur gehackte postdramatische Problembewältigungsdiskurstext nicht einmal hat, bevor er aus dem Projekthirn entweichen darf. Dabei ist Soyfer schon seit 1939 tot. Ausgerechnet in Weimar gestorben.

Im Abstand der Jahre möchte man meinen, dass so ein Kommunist, falls denn Jura Soyfer tatsächlich mit diesem Etikett beklebt werden soll, so etwas wie die fröhlichste Baracke im Sozialismus gewesen wäre, wozu es nicht kam wegen Typhustodes nach KZ-Haft. Auf einer Liste von Ausreiseantragstellern ist er dagegen gut vorstellbar. Wer ihn jetzt in deutscher Sprache weitgehend vergessen nennt, offenbart günstigenfalls unbewusst den guten alten westdeutschen Alleinvertretungsanspruch der kulturellen Hallstein-Doktrin, denn die DDR hatte ihn, wie Julie Paucker, eine Schweizerin, ihren Zuhörern und Zuhörerinnen zu deren wohl eher geringer Überraschung verriet, und Österreich selbstverständlich. Es gibt eine ganz und gar rührende und verdienstvolle Soyfer-Pflege in Österreich mit einer Gesellschaft seines Namens, mit Publikationen, Aufführungen sowieso, mit Aufsehen erregenden internationalen Übersetzungsprojekten und eine Weile hieß sogar das Wiener Theater auf dem Spittelberg nach ihm, die Neueröffnung 1983 übrigens mit „Astoria“.

Wer das Stück kennt, weiß freilich auch, dass man einigen Mutwillen aufbringen muss, um das Flüchtlingsproblem aufzupfropfen. Zwei Obdachlose, die bei Soyfer gar noch Vagabunden genannt sind, assoziieren nicht zwanglos zehntausend tägliche Syrer, Afghanen und Iraker zwischen Österreich und Deutschland an der Grenze. Und die Frage, ob es sich in diesen acht Bildern von zweieinhalb bis acht Druckseiten um eine theatralische Abhandlung des Staatsproblems handelt, das ja erst einmal gar keines ist, stellt sich gerade in diesem Jahr völlig neu, wenn man Timothy Snyders Buch „Black Earth“ vorsichtig in eine mögliche Debatte einbezieht. Was Soyfer seine Personen zum Staat sagen lässt, darunter den gestrichenen Bernard Shaw, schwingt sich ja nicht auf die Ebene der Theorie, sondern kommt als schwarzes Bonmot, aphoristisch-sentenziös. Soyfer ist bei Nestroy in der Schule gewesen mehr als bei irgendwem sonst. Und nicht nur die Bilderstruktur statt Aktfolge erinnert heftig an Ödön von Horvath und dessen so ganz andere Volksstücke. Von grotesk bis surreal könnte das Vokabular lauten, das hierzu nicht in die Irre führen würde.

Zugespitzt gesagt, lässt die Regie eine wirklich durchgehende Idee vermissen, führt dafür aber eine bisweilen begeisternde Menge einzelner Ideen vor. Das Premierenlob für Krunoslav Šebrek als Kilian Hupka im September war mehr als verdient. Hier konnte einer seinem Affen derart viel Zucker geben, dass der Gott der Diabetiker schon bedenklich sein Haupt zu wiegen hatte. Der astorische Sprachschwall war Soyfer Plus, das Plus wie Ilsebills Nachsalzen. Natürlich ist das letztlich eine Nummernrevue. Es vorbeugend zu leugnen wie in der Einführung, hilft wenig. Es ist auch nicht schlimm, es sei denn, man hat bei Nummernrevue unkorrekte Assoziationen. Theater muss (auch) unterhalten, die vielfachen kleinen Reaktionen im Publikum ließen erkennen, wie gut es funktioniert. Muss sich eine Regie schämen, die ihr Publikum nicht betroffen weinend von den Parkettsitzen rutschen lässt: man fiel sich schluchzend in die Arme? Nicht umsonst sind Schiller-Sentenzen in den Soyfer-Text implantiert. Sie werden ironisiert. Und sie ironisieren selbst. Wird da tatsächlich eine Utopie verhandelt? Die Bevölkerung, in der es keinen Arbeitslosen, keinen Kranken, keine Säuglingssterblichkeit gibt – ist eine Nullmenge. „Astoria“ ist eine Komödie der Nullmenge.

Die Inszenierung oszilliert zwischen purem Klamauk und echter Poesie, das stimmt seltsamerweise ineinander, als ginge es gar nicht anders. Die Szenen werden ausgespielt bis haarscharf zu dem Punkt, wo die Luft raus wäre. Wo anderwärts schwere Fünfakter auf Spielfilmlänge gepresst werden, als wäre das Theater der Gegenwart eine Art Readers Digest für Schauspielfreunde in Zeitnot, lagen hier einige knappe Bilder buchstäblich unter dem Nudelholz und der Teig hat kaum verloren. Wie schön zelebrieren Krunoslav Šebrek und Bastian Heidenreich das Entree auf dem Balken mit selbstzündender Schuhsohle! Wie nutzt Maik Thon die poplige Rolle als Genarm, der Drillingsvater wurde! Aber warum sind die zweiten Drillinge am Ende gestrichen? Bernd Lange in Bismarck-Outfit als Graf Luitpold Buckelburg-Marasquino, ein wenig Großvater aus Klimbim seligen Andenkens, etwas weniger Ingrid Steeger dagegen Dascha Trautwein als seine zugriffige Gattin Gwendolyn. Es wird gesungen, getanzt, Musik eigens geschrieben von Biber Gullatz, die Band live auf der Drehbühne. Und, nicht nebenbei: Elke Wieditz dreht auf der Glatze ihrer Nicht-Rolle eine glänzende Locke.

Am Ende steht alles auf Anfang. Fridolin Sandmeyer als Butler James hat seine finale Rede vor der astorischen Flagge mit dem dreibeinigen Löwen gehalten, es gab eine Art Wellensalat mit Kilian Hupka vorn und allen anderen im verdunkelten Hintergrund an Mikrofonen. Bei den schon Genannten noch Julius Kuhn, der als Lord R agierte und als Auslandsastorier/Flüchtling wie Lars Kreuzburg, Wolfgang Denner, Michael Lüttig und Erika Krämer. Nora Quest in überlappender Dreifachrolle: sie war der weibliche Paul Soyfers (sprich: Pauline), Rosa ohne die gestrichene Hortensia und Lady P. Geopolitik auf astorisch mit Dartpfeilen, Ordensverleihung auf astorisch mit Brustgreifhemmung des 88 Jahre alten Lord, Beamte lesen nur Meldezettel, keine Zeitungen (bei Soyfer), im e-Werk sind die Zeitungen gestrichen, auch die heftige Pressekritik ist klein gespielt, die seit Soyfer keineswegs an Bedeutung verloren hat. Das alles ist jetzt zu Ende. Zwei Vagabunden sind wieder zwei Vagabunden. Der Traum vom Traumstaat, der keiner war, war keiner. Ein DDR-Kritiker hat genau deshalb Soyfer einmal einen Vorläufer des absurden Theaters genannt. Ein paar Vorstellungen gibt es noch am Kirschberg in Weimar. Vgl. auch „Jura Soyfer 100“ in meiner Rubrik JAHRESTAGE unter dem Datum 8. Dezember 2012.
www.nationaltheater-weimar.de


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