Shakespeare: Julius Cäsar / Wolfram Lotz: Die Politiker; Staatstheater Meiningen

Man stelle sich vor: ein wuchtiger ovaler Tisch, sagen wir Chippendale XXL, bedeckt mit feinem Tuch, wahlweise auch unbedeckt, wenn Hausherr oder Hausherrin Wert darauf legen, die polierte Maserung des edlen Tropenholzes sehen zu lassen. In der Mitte, genauer auf den Schwerpunkten des Ovals zwei Karaffen roten Weines: es ist Chateau Margaux, Jahrgang 1989, der 24 Stunden atmen durfte. Der Hausherr erscheint mit einem Kännchen Fencheltee, wahlweise auch Kamille, und gießt daraus schwungvoll in beide Karaffen. Die Gäste rund um den Tisch sind provoziert: mutig, wird einer sagen, witzig, werden einige sagen, spannend andere und eine nennenswerte Gruppe wird es sowohl spannend als auch witzig finden. Was aus der Karaffe in die Gläser gelangt, wage ich mir geschmacklich nicht vorzustellen. Bin mir aber sicher, dass mehr als nur einem der Gäste, gleich welchen Geschlechts, das munden wird, was ihm Zunge und Gaumen netzt. Und das auch zum Ausdruck bringt. Wir sind im Theater. Fencheltee wäre für „Die Politiker“ eine bösartig falsche Charakteristik, hätten sie allein die Bühne betreten. Das haben sie aber nicht. Sie kamen als Appendix, sie kamen vielleicht auch, wie ganz früher beim Eiskunstlauf alten Stils, als die freie Kür, nach der öden Pflicht mit ihren nachzuzeichnenden Schlingen und Figuren, für die Schönheit des Sports stand, die erst nach langen Reformschrittchen auch goldene Medaillen eintrug.

Es vorwegzunehmen: „Die Politiker“ von Wolfram Lotz sind witzig, spannend eher nicht. Im Abgang, den Weinvergleich letztmalig zu bemühen, durchaus kräftig, aber rasch verfliegend. Das Loblied wäre aus vollem Halse für Claudia Sendlinger zu singen, die die Sprachregie führte, um aus dem Text-Sturzbach, der aus einem Tagebuch erwachsen ist, wie ich nachlesen durfte, weil ich es vorher nicht wusste, etwas zwischen Standup Comedy und Poetry Slam zu gestalten. Alle neun Spielenden (sagt man das korrekt so??) hatten die zweite Gelegenheit, ihr Tun zu individualisieren, wovon am kräftigsten Renatus Scheibe und Evelyn Fuchs profitierten, die zuvor als Verschwörer Decius und Gattin Portia eher sehr linear waren. Lassen wir alle Erörterungen beiseite, ob der Titel „Die Politiker“ schlicht unkorrekt und sehr falsch verallgemeinernd ist, oder als Parodie zu sehen, immerhin erklingt im gesprochenen Trommelfeuer auch einmal „Politikerinnen“ und einmal sogar „Politiker- (Kunstpause) -innen“, was die Lacher im Parkett nach sich zieht wie die Knoblauchzehe den Mundgeruch. Früher waren mir Kopplungsgeschäfte ein Graus: ich hatte als junger Vater, wenn ich nicht einen wunden Baby-Popo riskieren wollte, die guten kochfesten Mullwindeln mit unguten und Rötungen erzeugenden Kunststoffwindeln dazu in gleicher Menge zu erwerben. DDR eben. Wie komme ich nur darauf? Ach ja, „Die Politiker“. Vorher aber gab es „Julius Cäsar“.

In Meiningen ist „Julius Cäsar“ (von einem gewissen William Shakespeare) so etwas wie ein Gründungsmythos für jene Geschichte, die „Die Meininger“ heißt. Ein einst berühmter und wohl vor allem deshalb vergessener Kritiker namens Karl Frenzel erlebte am 28. Mai 1874 jene Aufführung in Berlin, die den Ruhm der bald ganz Europa bereisenden Meininger begründete. Er war nicht der einzige Kritiker im Bühnenhaus der Friedrich-Wilhelmstadt, sicher aber der einzige, der diesen „Julius Cäsar“ des Meininger Hoftheaters schon einmal dort gesehen hatte, woher er kam. Frenzel erlebte am 1. und 2. Januar 1870 „Der „Wiederspenstigen Zähmung“ (so im Original) und eben „Julius Cäsar“. Heute schreiben Kritiker bisweilen, das Römerstück gehöre zu den selten gespielten. Tatsächlich war der Text mehr als ein Jahrhundert lang bis deutlich ins 20. hinein Schulstoff, galt als leicht und als Einstieg ins Shakespeare-Universum. Gespielt wurde es immer und immer wieder. Was je Rang und Namen hatte auf deutschsprachigen Bühnen, gehörte auch mindestens einmal zur Besetzung. Was Rang und Namen hatte in der deutschsprachigen Kritik, besprach auch mindestens einmal diesen „Julius Cäsar“ und selbst die berühmtesten Inszenatoren, die berühmtesten Mimen durften sich nie des einfach Lobes sicher sein, oft blieb es aus, öfter kamen die Urteile ausgewogen ambivalent. Lange aber hieß eine kritische Assoziation: Meiningen.

Tatsächlich, und damit sei der Exkurs auch schon beendet, setzten „die Meininger“ Maßstäbe, sie brachten das Berliner Publikum zum Staunen und Bewundern, ohne dass je die Schwächen dessen, was später despektierlich „Meiningerei“ genannt wurde, unbemerkt blieben. Um auch das gleich zu sagen: auf die Idee, die Morddolche der Geschichte und des Dichters durch Pistolen zu ersetzen, die fast gleichzeitig abgeschossen werden (also knallen, wie eben Theaterpistolen knallen, manche Theater verteilen für solche Fälle sogar schon Warnhinweise), wäre unter dem Theaterherzog und allen, die den so genannten Tyrannenmord auf ihre jeweilige Bühne zu bringen hatten, nie jemand gekommen. Zumal in eben dieser Inszenierung im Staatstheater mit Langschwertern hantiert wird, die eher dem späteren Mittelalter entstammen, und nicht etwa mit Panzerbüchsen oder Granatwerfern. Das aber wäre ein eigenes Thema und ist ein weites Feld. Wer unter Spielplan-Gestaltern und Inszenatoren meint, „Julius Cäsar“ sei aktuell, habe Relevanz (und nicht nur als leicht überlanges Vorspiel für etwas wie „Die Politiker“), sollte sich fragen, ob er das wirklich glaubt. Dann wären anachronistische Kostüme natürlich überflüssig. Noch das dümmste Theaterpublikum hört am Text, ob das auf der Bühne berührt oder fern, fremd und staubig ist. In Meiningen sehen die Verschwörer aus wie die Saxophonlinie einer Big Band der Nachkriegszeit.

Wenn sie dann zum Zwecke der Verschwörung bäuchlings auf dem Boden liegen, erinnert das an Kinderspiele und diese Infantilität ist sicher gewollt. Denn letztlich hat die tatsächliche Geschichte wie auch der Dichter William Shakespeare das Urteil über diese Männer gefällt. Ihre Mordtat verhinderte nicht nur nicht, was sie verhindern wollten, in gewisser Weise beschleunigte sie sogar den Ablauf. Octavius, der später der große Augustus wurde, ist bei Shakespeare schon auf der Bühne. In Meiningen freilich gestrichen. Wogegen prinzipiell nie etwas zu sagen ist: Gestrichen werden muss fast immer, mehr noch in Zeiten, da Theaterabende oft aus Prinzip auf Spielfilmlänge gequetscht werden: wegen der Sehgewohnheiten. Bisweilen, und daran halte ich fest, selbst wenn ich kaum Beifall dafür finde, bisweilen darf auch vom Blatt gespielt werden, was ja eine andere Art von Werktreue wäre als die, jede Szenenanweisung zu befolgen, die bisweilen von praxisfernen Dramatikern zu Papier gebracht wurde. Shakespeare, das gehört zu dem, was man „Die Politiker“ Grundüberzeugungen oder Grundwerte nennen hört, wusste, was Bühne ist, wie man auf Bühnen wirkt, wenngleich er natürlich nur die elisabethanische Bühne kannte. Man muss ihm nicht aufhelfen. Man sollte, ehe man Programmhefte mit dubiosen Philosophemen füllt, die dem verantwortlichen Dramaturgen gefielen, als er Student war, Shakespeare-Aufklärung treiben.

In Meiningen ist Vivian Frey Julius Cäsar. Sein allererster Auftritt durch eine Tür macht klar: das ist weder der Cäsar der Geschichte noch der von Shakespeare. Es ist der Cäsar der Verschwörer, die sich einen Popanz aus ihm gemacht haben, weil sie nur diesen Popanz weitgehend ohne Skrupel töten können. Es passt nicht zu einem Tyrannen, vom Volk geliebt und bejubelt zu werden, sonst wäre Tyrannei ja eine sehr ernst zu nehmende Alternative zum Demokratiespiel in Republiken. Nimmt man als gegeben hin, dass hier Shakespeare nur den Namen hergibt, wenngleich natürlich der Text von ihm kräftig benutzt wird, kaum weniger kräftig, als er selbst den Plutarch benutzte und streckenweise wörtlich übernahm, dann wäre das Ergebnis auf der Bühne, inklusive Pause und Wolfram Lotz, 2 Stunden und 45 Minuten, unbefangen zu betrachten. Regisseur Frank Behnke hat nicht weniger als sechs Neumitgliedern des Meininger Ensembles eine Chance gegeben. Den beiden Frauen-Rollen Calpurnia und Portia bleibt wenig Spielraum im Männer-Stück „Julius Cäsar“. Was sie tun und sagen auf der schräg nach vorn abfallenden Spielfläche, kommt unvorbereitet, was am Text des Meisters selbst liegt. Emma Suthe und Evelyn Fuchs sind Gattinnen und kaum mehr. Um einer dritten Frau eine Rolle zu geben, machte die Regie aus Antonius eine Frau: Miriam Haltmeier hat zunächst kaum mehr als eine hängende Schulter, den Mann zu mimen. Sie steigert sich sehr.

Dafür hält Brutus (Lukas Umlauft) fast bis zum Schluss seine Geste durch, mit dem Daumen kurz unterm Haaransatz über die Stirn zu streichen, was wohl Nachdenklichkeit bedeuten soll. Nun, da wäre Variation das nächste Trainingsziel. Für alle ein weiteres: die Lautstärke dämpfen, das Sprechtempo bremsen, die Tonhöhe variieren, Pausen setzen, um Text nachvollziehbar zu machen, Basisfertigkeiten, die alle ganz sicher mehr oder minder gut beherrschen, aber eben nicht zeigen. Vielleicht spukten „Die Politiker“, die herunterzurattern waren, schon zu sehr in den Hinterköpfen. In allen großen Inszenierungen des „Julius Cäsar“ waren die Verschwörer und Mörder immer Individuen und Charaktere, hier zwang schon das einheitliche Glitzerkostüm zu falscher Homogenität, zu Ein-Tönigkeit. Keinem glaubt man, was er sagt: falls das eine Botschaft der Regie ans Parkett war, dann kam das gut. Aber. Diesem Aber wären Exkurse anzudocken. Es soll aber nicht über die vermeintliche Zweiteilung der Tragödie gesprochen werden, nicht über den vermeintlich falschen Titel des Dramas, der besser „Brutus“ gewesen wäre. Wer das glaubt, muss es spielen lassen. Miriam Haltmeier gab der nun wahrlich berühmten Rede des Mark Anton an der Leiche des Cäsar den spielerischen Höhepunkt des Abends. Hier war all das, was vorher fehlte und eben benannt wurde: Pausen, Lautstärkewechsel von lauten zu leisen Tönen und so fort. Sehr gut.

Wäre man böse, ließe sich eine Botschaft aus Meiningen so formulieren: Das „Wehret den Anfängen!“ hat eine akute Tendenz, in die Hose zu gehen. Das Volk übrigens ist entweder Akteur in echten Massenszenen, früher ein sehr hohes C der Regiekunst, den rhabarbernden Opernchor zu meiden und gleichzeitig die gegenstehenden Individuen nicht oder nur sehr kurz zu übertönen oder es ist nicht. Sechsergruppen sind kein Volk. Der Witz, oder ein Witz des „Julius Cäsar“ liegt ja wohl seit seiner Uraufführung im Jahr 1599 (vermutlich) darin, die Wankelmütigkeit des Volks zu zeigen. In Meiningen gab es die Tribunen am Anfang, die auch Shakespeare hat, die das Volk beschimpfen. Rhetorik macht den Erfolg, Charisma klingt heute bisweilen aus den Deutungen von Erfolgen und Misserfolgen. Manche Rhetorik, die vor Jahren noch zog, wirkt heute unfassbar lächerlich: man schaue sich einen Duce auf seinem römischen Balkon in einem Dokumentarfilm an oder höre jenen Propagandaminister brüllen nach dem totalen Krieg, totaler als total. Dennoch: das Prinzip funktioniert. Und Miriam Haltmeier, siehe oben, war sehr nahe daran, es perfekt vorzuzeigen. Casca (Leo Goldberg), der mit den Luftballons, der in der Geschichte zuerst zusticht, tat dagegen des Illustrierens seiner Rede derart zu viel, dass es schmerzte. Man muss sich nicht auf der Bühne wälzen, um einen epileptischen Anfall Cäsars vorzuführen: noch dazu als Argument.

Jens Neundorff von Enzberg, der neue Intendant, der in der Pause in der alten Dramaturgie auch seinen Vorgänger Ansgar Haag begrüßte, tat nach dem ersten Schlussbeifall etwas, was es nur dank Corona fürs komplette Publikum gegeben haben wird: er stellte die komplette Crew vor. Die Neuen im Ensemble wie auch die Verbliebenen, soweit sie mitwirkten, er rief auch die, die nicht schon zum Verbeugen auf der Bühne standen, inklusive Souffleuse und Bühnenarbeiter. So erlebte man mit Maske, dass diese Epidemie zu Dingen führt, die gar nicht so schlecht sind, dass man sie rasch wieder vergessen sollte. Es war der Ersatz für die von den Pandemie-Regeln verbotene Premieren-Feier. Ein Zitat aus vielen, vielen möglichen führe zum Ende: „Wo im gesamten Shakespeare, und das will was heißen, wird das Abschiedsgespräch zwischen Brutus und Cassius überboten?“ Das schrieb Siegfried Jacobsohn 1917 nach einem „Julius Cäsar“ unter Victor Barnowsky. In Meiningen saßen Lukas Umlauf und Stefan Willi Wang nebeneinander am Boden, als sie just dieses Gespräch führten. Leise im Vergleich zu den lauten Anfängen des Abends, die Wirkung ging dennoch verloren, weil sie keine gespielte Vorgeschichte hatte. Alles aber verdeckt schließlich Wolfram Lotz mit seinem „Die Politiker“. Sollte das Absicht gewesen sein, wäre es fast so listig wie die Antonius-Rhetorik mit dem Testament in der Westentasche, die eben eine römische Toga leider nie hatte.


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