Schiller: Kabale und Liebe; Staatstheater Meiningen

Einen Aberglauben verbinde ich nicht mit der Zahl Elf, denn ich kann den Zufall ins Feld führen, der diese Inszenierung von „Kabale und Liebe“ in Meiningen im Großen Haus meine elfte sein ließ, die ich seit September 2009, also noch im zweiten Schiller-Jahr nach 2005, sehen konnte. Ich sah das „bürgerliche Trauerspiel“ dreimal in Berlin: an der Schaubühne, im Deutschen Theater und im Berliner Ensemble, einmal in Dresden, einmal in Leipzig, zweimal in Rudolstadt, zweimal in Weimar und jetzt zum zweiten Mal in Meiningen. Ich will nicht sagen, dass ich die Dialoge längst mitsprechen kann, das kann angesichts der Sprache Schillers wohl kaum jemand, es sei denn, er spiele selbst auf einer Bühne. Aber ich bin von Anfang an nie gespannt gewesen, was wohl auf der Bühne passieren wird, kannte ich doch den Text in seiner gedruckten Fassung. Ich wundere mich aber inzwischen nicht mehr, wenn Theaterbesucher emsig in den Programmheften blättern. Die fast immer anwesenden Schülerscharen ersparen sich in Parkett und Rang mehrheitlich wohl eher die Lektüre als dass sie eigene Vorstellungen mit dem auf der Bühne Erlebbaren vergleichen wollen. Was ich anhand von „Kabale und Liebe“ immer gern behaupte: Man erkennt den Klassiker ziemlich sicher daran, dass man ihn immer wieder sehen kann. Elfriede Jelinek ist somit keine Klassikerin.

Meine erste und bisher einzige Erfahrung mit „Kabale und Liebe“ in Meiningen betrifft jene Inszenierung in den Kammerspielen, die am 7. Oktober 2006 Premiere hatte und vom Ensemble mit auf seine Gastspielreise nach China genommen werden sollte 2009. Was ich sah, war somit gewissermaßen eine Generalprobe vor dieser Reise. Regie führte Kerstin Jakobssen, Dagmar Geppert spielte mit leichtem Handicap aus einer Erkrankung die Titelrolle, Evelyn Fuchs, die immer noch zum Ensemble gehört, ersetzte Linda Sixt als Lady Milford und sie bekam, nicht nur vom damaligen Intendanten Ansgar Haag, Sonderbeifall für ihre Leistung. Ich zitiere aus meinen Notizen vom November 2009: „Fazit am Ende: eine beeindruckende Aufführung, die das Komische zurückdrängte und das Tragische, das Ernste, in den Vordergrund brachte. Komplett gestrichen ist auch hier der Kammerdiener und mit ihm die berühmteste Szene des Stückes, die in der DDR-Schiller-Rezeption so etwas wie das Kernstück der Lesarten überhaupt war. Man könnte also eine neue Schiller-Erörterung auch VERLUSTANZEIGE KAMMERDIENER nennen oder VOM VERSCHWINDEN DER KAMMERDIENER. Es bleibt wie immer bei solchen Streichungen das Anschlussproblem. Denn ohne die Szene mit dem Kammerdiener und seinen Anklagen ist natürlich der Abschiedsbrief der Lady Milford an den Herzog kaum nachvollziehbar.“ Das ist immer noch so.

Aber die Situation hat sich geändert: Der Ehrgeiz, sich unbedingt von Vorgängerinnen und Vorgängern zu unterscheiden, betrifft heute abermals den Kammerdiener, nur in die Gegenrichtung. Jetzt darf er nicht fehlen, jetzt kommt ihm die Bedeutung (wieder) zu, die er eigentlich immer hatte, nur waren eben die allmächtigen Regie-Ideen wichtiger als die innere Substanz und die Dramaturgie des vom Dichter geschriebenen Textes. „Die Streichung der Zofe der Lady ist leichter zu verkraften“, schrieb ich 2009. Von ihr kann man inzwischen sagen, sie ist wohl endgültig im Orkus der Theatergeschichte verschwunden. Der jetzigen Inszenierung in der Regie von Julia Prechsl kann man neben vielem vorwerfen, dass sie ihre eigenen Prinzipien vergisst, wenn sie eine von nur drei Frauen-Rollen einfach streicht. Ausgleichend pumpt sie die von Schiller leichter Hand und fern schlechten Gewissens entworfene Rolle der Mutter Miller in einem Maße auf, das „Kabale und Liebe“, freundlicher kann ich das nicht sagen, auf bisher (mir) unbekannte Weise verfälscht. Dabei ist es mir pure Freude, Anja Lenßen überhaupt auf der Besetzungsliste zu sehen und dann auch noch in einer Doppelrolle, am Ende gar zusätzlich in einer traurig unpassenden dritten. Nein, diese Art Missbrauch von Stücken zum Verlesen irgendwelcher Leitartikel und Gesinnungsbekundungen ist, unabhängig, vollkommen unabhängig vom Verkündeten selbst, widerlich und theaterfremd.

Um auch das gleich noch zu sagen: Anja Lenßen wäre vermutlich die Lady Milford des Abends und aller Abende dieser Inszenierung geworden, was man von Larissa Aimée Breidbach auf gar keinen Fall sagen kann. Als Neumitglied des Meininger Ensembles steckte sie nicht nur in einem sehr merkwürdigen Kostüm (das traf fast alle Mitwirkenden und verdient noch eine spezielle Fußnote) und trug eine Frisur, die mit dem ständigen Wippen einer Stirnlocke zusätzlich vom deklamierten Text ablenkte. Solche Effekte muss Regie vermeiden, falls sie nicht ein Faible für unfreiwillige Komik hat (in einem Trauerspiel besonders unpassend). Frau Breidbach muss, wie fast alle anderen Mitwirkenden des Abends, auch offensichtliche Dialog-Texte, bei denen der/die Angesprochene auf der Bühne ist, ins Publikum sprechen, meist direkt an der Rampe, mit Klassiker-Humor könnte man das den Versuch eine Wiederbelebung der Unarten des Goetheschen Inszenierungsstils nennen. Die runde Spielfläche nach vorn abfallend und drehbar, erzwingt ständige Anstiege und Abstiege wie eben auch seltsame Schritte und Schrittlängen der Lady mit der Wipp-Locke. Am Anfang des Abends ist die runde Spielfläche von Stoffbahnen eingeschlossen, die transparent sind und bei Bedarf heruntergerissen werden. „Wenn alle unten sind, sind sie fertig“, hörte ich in der Pause und es war wohlgesprochen. Am Anfang des Abends gibt es auch ein Vorspiel (nicht von Schiller).

Das Liebespaar, von dem wir annehmen dürfen, es handele sich um Ferdinand und Luise, entwirft etwas: es kann die künftige Wohnung sein, es könnte auch nur das Fest sein, auf das sich beide freuen. Es ist auf alle Fälle die einzige Situation mit beiden, die sie in einem Umgang miteinander zeigt, der die Liebe auch vorführt, nicht nur hochgestochen und hyperpathetisch behauptet, die zur Unsichtbarkeit verdammte. Die Regeln vorehelichen Umgangs zu Schillers Zeiten sind ungeeignet, allzu wilde Hüpf-, Sause- und Wälzszenen zu inszenieren, wie man sie dennoch immer wieder sieht, wenn der Schulstoff auf eine der vielen deutschen Sprechbühnen gebracht wird. Ferdinand drängt verbal, man muss nicht sonderlich genau hinhören, das festzustellen, auf Vollzug der Liebe, was einem 16 Jahre alten Mädchen streng christlichen Glaubens auch heute noch und sogar heute wieder mehr sicher die Ohren sausen lässt, falls sie aufgeklärt wurde. Wenn irgend ein Drama der Weltliteratur das vorführt, was mit dem Sprüchlein „Liebe macht blind“ gemeint ist, dann dieses dritte Stück des jungen Schiller. Ein Maulwurf ist ein Kondor an Sehkraft verglichen mit diesem Ferdinand in seinem verbalen Dauerrausch. Deshalb und nur deshalb merkt er nichts, aber auch gar nichts von allem, was Luise bewegt und bedrängt, deshalb schwenkt er von himmelhoch jauchzend auf zu Tode betrübt noch schneller als Lady Milford sich auf dem Absatz dreht und eine andere ist.

Das wäre also die Figur des Ferdinand, seines militärischen Ranges nach ein Major. Schillers Vater wurde nach langer Dienstzeit zum Hauptmann ernannt, das ist um einen Rang niedriger. Ich hatte einst in Zeiten absoluten Personalmangels einige Monate einen Major als Regimentskommandeur in Rostock. Junge Altbürger, denen ich das erzählte, hielten es für ein Märchen und ich glaube ihnen inzwischen ihren Unglauben. Sagen will ich lediglich: bis an die diversen Regieklassen deutscher Universitäten und Hochschulen hat es sich offenbar nicht herumgesprochen: ein Major ist ein ziemlich hoher Rang in einer militärischen Hierarchie. Einen solchen Mann lässt man auf keiner Bühne der Welt pimpfartig in kurzen Hosen mit Kniestrümpfen bis unter die Kniescheibe herumlaufen. Nach der Pause waren sie nach unten geschoben, was wenig besserte. Was aber noch weniger denkbar ist: dass ein Vater einem Major die Hosen vom Hintern zerrt, ihn sich übers Knie legt und ihm mit seinem Gürtel den nackten, in Meiningen halbnackten, Hintern versohlt. Dass Ferdinand ein Major ist, der Gerechtigkeit halber sei es gesagt, spielt bei Schiller selbst keine Rolle. Wenn er sich von allem lossagt, fehlt bei Schiller klar auffallend die Absage an seinen Beruf: ein Major reist nicht einfach ab, er flieht nicht einfach. Das wäre Fahnenflucht, er wäre ein Deserteur. Der Vater, der Präsident von Walter (Stefan Willi Wang) fällt in Meiningen komplett aus der Rolle.

Wobei gleich zu sagen wäre, dass Stefan Willi Wang rein darstellerisch hervorragend aus der Rolle fällt: er spielt mit vollem, mit letztem Einsatz ein derwischartiges, ein dauergrimassierendes Rumpelstilzchen, das über die Bühne hüpft, springt, sich krümmt, sich wälzt. Als ihn sein Sohn mit dem Verrat seines Geheimnisses bedroht (wie man Präsident wird), packt ihn eine Kombination von Schnappatmung mit Herzkasper, es sind zu diesem Zeitpunkt bereits genügend Stoffbahnen abgerissen, sich darin leidend zu suhlen. Diese Witzfigur soll Stellvertreter eines Herzogs sein, sein Ministerpräsident gewissermaßen? Unfassbar. Auch sein Kostüm spottet jeder Beschreibung. Was Anna Brandstätter bewegte, das gesamte Stück allein mit Kostümen zu konterkarieren, will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht wirklich wissen, das Ergebnis war fürchterlich genug: Musikus Miller (Gunnar Blume) im südosteuropäisch geliebten Jogginganzug, im Vergleich mit sonstigen Miller-Darstellern ein Lappen. Das muss er sein, weil die Regisseurin das so will. Die hat, man kann es im Interview im Programmheft nachlesen, den Ehrgeiz, aus Millers Gattin, die sich unter anderer Regie auch schon mal in den Hintern treten lassen musste von ihrem „Hausvater“, eine starke Frau zu machen. Das soll durch Umverteilung von Text geschehen: sie muss also sprechen, was bei Schiller eigentlich er spricht, sie muss ihn, den in Meiningen Schwachen, tröstend in den Arm nehmen.

Das verkündet die Regisseurin nicht als einmalige Angelegenheit, sondern als Prinzip: negative Charakeristika will sie aus Frauenrollen und Rollentexten tilgen. Das wäre schon eine höchst streitbare These. Da sie aber, frei erfunden, die deklamierend stolzierende Lady Milford auch mit einem Satz ausstattet, in dem davon die Rede ist, sie hätte sich von einem alten weißen Mann vögeln lassen müssen (was nebenbei allem vorigen Rollentext komplett widerspricht), kann ich den Verdacht nicht unterdrücken, dass hier eine ach so originell sein wollende junge Frau auffällig blind Versatzstücke des neorassistischen Geschwafels aufgreift, mit dem erschrockene Intellektuelle von links außen bis Mitte innen vor einigen Jahren ihre peinlichen Fehlprognosen kaschierten, Donald Trump betreffend. Der Popanz alter weißer Mann ist einfach nur Stuss. Nimmt man aber noch die krude Schluss-Tirade hinzu, die Anja Lenßen zu sprechen hat, nachdem Miriam Haltmeier, die den Sekretär Wurm spielen musste wegen der Unwucht von weiblichen und männlichen Rollen bei diesem Schiller, englisch singend das Schiller-Finale unhörbar machte, dann kann man zu schlimmen Ahnungen kommen. Schiller, ein junger weißer Mann (mit roten Haaren und grässlich schwäbelnd) hat in seinen ersten drei Stücken junge weiße Männer junge weiße Frauen umbringen lassen. Haben wir unter unseren Weimarer Klassikern gar einen Femizid-Aktivisten übersehen?

Den Wurm, auch das ist dem Interview entnehmbar, wollte Julia Prechsl quasi entwurmen. Die Wurmkur der Regie führt dazu, dass dieser Sekretär gar nicht mehr so böse ist, wie ihn die Tradition uns alle zu sehen gelehrt hat. Im Gegenteil, als der Präsident in einer Phase heulenden Elends sich findet, bettet sie, also er, sein geplagtes Haupt in ihren Schoß, was bei einem männlichen Akteur eine andere Szene geworden wäre und streicht ihm durch die Haare. Der Text, den die Wurmin stimmgewaltig singen darf, ist vollständig im Programmheft nachzulesen. Für die wenigen Theaterbesucher, die des Englischen auf der Ebene höherer Lyrik nicht mächtig sind, wäre eine wenigstens interlineare Übersetzung durchaus keine strafbare Handlung gewesen. Ob nun in Meiningen der Ferdinand in Kniestrümpfen auch stirbt oder ob er nicht stirbt, ob er dem Vater lebend oder sterbend vergibt, war im Gewusel mit Gesang für mich nicht auszumachen, alles kann sein, alles auch nicht. Manche nennen so etwas offenes Ende, ich nenne es Inkonsequenz. Die wäre es widerum meinerseits, wenn ich die Namen der Akteure, die noch fehlen, nicht nennen würde. Pauline Gloger war Luise, viel Luft nach oben in der Skala der Töne, Jan Wenglarz hatte als Ferdinands-Pimpf zu viel Scheitel, nicht nur auf dem Kopf, mit so einem flieht niemand. Yannick Fischer als Kalb musste sich per Podcast dem Jungvolk im Parkett anbiedern, was gelang.

An Anja Lenßens Kammerdiener sah ich, wie in Meiningen auch gespielt werden kann: Wohltat. Als Millerin senior hat sie sogar einen Vornamen bekommen, Therese, ebenso Lady Milford: Emilie. Bald werden wohl die Hexen bei Shakespeare Vornamen erhalten nach diesen Vorstößen ins Neuland unterm Regie-Pflug. Kleiner Tipp: auch Schiller-Freund Goethe hat da und dort Frauen mit zu wenig Text und zu wenig Namen, Hexen werden anscheinend durchweg diskriminiert, was man als die andere Art der Verbrennung in Zeiten alter weißer Klassiker sehen interpretieren könnte. Noch ein Zitat aus dem Mund der Regisseurin: „Schiller möchte alle Gedanken in Dialoge pressen, hat man das Gefühl, alles wird ausgesprochen. Wahrheiten werden geschaffen durch Worte und auch wieder zerstört durch Worte. Es ist meine Aufgabe, dafür eine szenische Lösung zu finden.“ Man sollte das keinesfalls lesen, bevor man sich eine der nächsten Vorstellungen ansieht, denn die Kluft zwischen Wollen und Vermögen fiele kräftiger in Auge und Ohr als so. „Kabale und Liebe“ hermetisch zu finden, das ist eine Leistung, Innerlichkeit in Körpern sichtbar werden zu lassen ein heroischer Ehrgeiz, wie ihn vermutlich nicht einmal Pina Bausch hatte mit ihrem bis heute sensationellen Tanztheater. Dass Sturm und Drang übrigens weitgehend identisch ist mit Empfindsamkeit, muss man nicht wissen, aber wenn man es weiß, schützt es vor allerlei Unsinn.

P.S. in eigener Sache: den eingangs genannten elf „Kabale und Liebe“ gesellt sich eine zwölfte, die ich nicht vergaß, aber separat zähle: Andreas Kriegenburgs Inszenierung in Düsseldorf. Die sah ich nicht in der Altbier-Hauptstadt im Parkett, sondern im Sessel bei ARTE. Und siehe: Julia Prechsls Ideen vom Geschlechtertausch sind altbacken: bei Kriegenburg war Kalb eine Frau, die Mutter Miller ein Mann und den Wurm gab es gleich zweimal in verdoppelter Männlichkeit. Und weil es beiden Wurms an Papier mangelte für ihren perfiden Brief, musste Luise selbigen auf den nackten Bauch des einen Wurmes schreiben. Da war der beim Schreiben am Boden zerrupfte Papierbrief in Meiningen fast pure Meiningerei seligen Andenkens, sprich: herzoglicher Naturalismus.
www.staatstheater-meiningen.de


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