Schnitzler: Liebelei, Thalia Theater Hamburg

Vermutlich sitzt bei ZDF.Kultur ein besonders harter Thalheimer-Fan in der Programmredaktion, weshalb ich nach einer „Emilia Galotti“ nun rasch eine „Liebelei“ sehen durfte. Die Schuhe, die es mir bei Lessing auszog, also bei dem, was Thalheimer da als Lessing auf seine Bühne schummelte, habe ich mir inzwischen wieder angezogen. Und bekenne Lernfähigkeit. Nicht nur Staatssekretäre können bei sich selbst abschreiben, auch Star-Regisseure. Da der Schnitzler früher entstand als der Lessing, sehe ich den Lessing nun als Ideen-Nachnutzung und in Zeiten der Nachhaltigkeitsdebatten ist das vielleicht der Beitrag des Bühnenwesens zur Nachhaltigkeitsagenda.

Man nehme also drei Wände, möglichst keine vorn, sonst würde der Zuschauer nichts sehen. Man nehme ein Stück, von dem man vermutet, es ziehe hinreichend viele Erwartungshaltungen auf sich, damit es auch Spaß mache, sie zu enttäuschen. Die Komiker, die die Videotexte verfassen und der Komiker, der die Anmoderation macht (und mich ungefragt duzt, dieser Troll), sollten möglichst weit an dem vorbei schreiben und reden, was dann auch tatsächlich zu sehen ist. Vielleicht ist das der Rest, der von einer Verfremdungsdramaturgie a la Brecht hineinragt in unsere schöne neue Theaterwelt. Verblüffend an der „Liebelei“ von Thalheimer ist, dass tatsächlich viel Schnitzler gesprochen wird. Nicht mehr verblüffend ist, dass sich die Darsteller nicht ansehen dürfen, wenn sie miteinander, respektive aneinander vorbei, reden.

Mitten in Geratter und Geknatter der Überkreuzmonologe müssen die Darsteller, weil es nur den kahlen Raum zwischen den drei Wänden gibt, irgendwas machen. Also sie müssen Grimassen schneiden, ein wenig zappeln, sich biegen, man wähnt, sie übten das Fragezeichen für die Sesamstraße, falls sie einmal dorthin geladen werden sollten. Im Zuschauerraum sitzt vermutlich oder wird erwartet, die Generation Spannend Und Witzig (SPUW), also jene postjugendlichen Biorettichfresser, die glauben, was nicht spannend, nicht witzig, nicht spannend und/oder witzig ist, sei eine unverhältnismäßige Zumutung. Auch bei Fernsehaufzeichnungen hört man die Lacher. Die Lacher sagen bei dieser Aufführung fast alles. Wenn also der Theodor sich mal setzen will kurz und kein Stuhl ist da, weil auch sonst nichts da ist, dann verbiegt und verkrümmt und verknuselt sich der Darsteller des Theodor und wupps, es ist witzig.

Zwischendurch gibt es Brüllausbrüche. Die wecken jene Zuschauer, die es vielleicht witzig, aber nicht hinreichend spannend fanden und deshalb den nicht vorhandenen Pausenvorhang durch ihre Augenlider ersetzen. Das wirklich Verrückte an diesen Thalheimereien ist ja, dass er mit traumhafter Sicherheit eine DARSTELLERIN hat, die alles rausreißt. Die heimst dann gleich die Preise ein wie in diesem Falle Fritzi Haberlandt den Alfred-Kerr-Preis und das vollkommen zu recht. Ihre Mizi ist grandios. Dagegen haben die anderen kaum Chancen, so gut sie auch sein mögen. Bei Lessing war es Nina Hoss, ebenfalls nicht die Hauptrolle. Vielleicht ist ja Thalheimer der Regisseur für Nebenrollen-Oscars.

Das eindrucksvolle Abbild des modernen Lifestyle-Zeitgeistes (Videotext) ist meiner Blindheit entgangen. Dafür überlege ich, was Thalheimer denn nun wirklich macht. Hier also soll er radikal entkernt haben, was mir die Vorstellung einer reinen Fassade mit nichts dahinter unabweisbar macht. Ohnlängst (schönes Wort) sah ich ihn als Eindampfer gepriesen, das wäre dann vielleicht ein Mann, der aus saftigen tropfenden Früchten Dörrobst fabriziert, von dem abführende Wirkung zu erwarten ist, was insbesondere Frauen wegen ihres vergleichsweise unorganisierten Verdauungsablaufs mögen sollen. Auf den Verfasser Arthur Schnitzler angewendet, sähe übrigens die radikal entkernte Fassung so aus: A...r  S...r, was im Refill dann auch Armenischer Suppenkaspar heißen könnte.

Musik gibt es ebenfalls, sie ist immer englisch und wahrscheinlich eine Abart der Feuilleton-Band Tocotronic, von der ich unmittelbar vor der Ausstrahlung im einstigen Theaterkanal erfuhr, sie sei eine verkopfte Diskurs-Indie-Rockband und habe eine ganze Generation dazu gebracht, eine Nummer zu kleine komische Trainingsjacken geil zu finden. Ich gebe zu, dass taillierte Hemden zu Schlaghosen vielleicht auch nicht wesentlich geiler waren. Man sollte, falls die wahrscheinlich extrem tiefsinnigen englischen Texte die tragende Rolle tatsächlich spielen, die ich tapfer unterstelle, im wirklichen Theater wie in der Kirche die Liedtexte austeilen und im Fernsehen als Untertitel laufen lassen. Könnte ja sein, dass man dann rätselhaften Mummenschanz als des Pudels radikal entkernten Kern erkennt.

Nächst Fritzi Haberlandt ist mir Anna Steffens auffällig geworden. Als Katharina Binder, Gattin des Strumpfwirkers Binder (bei Schnitzler) trippelte sie, pantomimte sie in aller Herrlichkeit. Mit den Rollen, die in ihren vorentkernten Fassungen tragisch sind, Emilia bei Lessing, Christine bei Schnitzler, schiebt Thalheimer seinen Darstellerinnen undankbare Aufgaben zu. Der dämliche Text von den vier gelangweilten jungen Menschen (welcher Schwachkopf hat das denn nun geschrieben für das gebührengestützte Zweite Deutsche Fernsehen???) trifft ja nicht zu. Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt einer von den gemeinten Menschen, möglicherweise allerdings ihre Darsteller, gelangweilt waren. Jedenfalls muss die arme Maren Eggert das irgendwie hinbiegen und sieht dann doch bisweilen so aus, wie sie wohl nicht aussehen sollte laut Regie.

Nicht nur Michael Thalheimer darf sich selbst zitieren, auch ich wiederhole mich gern. Hieße dergleichen „Liebelei. Sehr frei nach Schnitzler“, dann würde ich nicht hingehen oder einschalten,  es käme der Sache jedoch nahe. So aber ist ist wie immer in diesen Fällen aktiver Zurücknahme des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern der Chor der Haute-Couture-Reporter deutlich lauter und melodiöser als das Stimmchen, welches das frei sichtbare Baumeln des kaiserlichen Schniedelchens vermeldet. Der Blick in den Stücktext (27 Auflagen von 1896 bis 1933 allein) stößt auf Substanz hinter der Fassade. Große Gefühle sind nur denen Kitsch, die zu feige sind, sich zu ihren eigenen kleinen Gefühlen zu bekennen. Bei Schnitzler ist unter der Oberfläche nicht nichts. Einer, der den vermurksten deutschen Umgang mit dem Österreicher Schnitzler schon vor 50 Jahren prägnant wie wohl niemand später formulierte, war Richard Alewyn. Nicht zufällig in einem Vorwort zu einer „Liebelei“-Ausgabe, die auch den „Reigen“ enthielt. Bruchlos steht Michael Thalheimers Hamburger Inszenierung aus 2002, die natürlich auch zum Theatertreffen in Berlin geladen war, nicht in der bezeichneten Tradition. Was trotzdem kaum tatsächlich tröstlich ist.


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