Schnitzler: Reigen, Landestheater Coburg

Der unglücklichste unter allen möglichen Gründen, aus dem vielfältigen und umfänglichen Bühnenschaffen Arthur Schnitzlers gerade den „Reigen“ herauszugreifen für eine neue Inszenierung, wäre zweifellos der, dass diese Einakter-Folge vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts einmal in Wien und Berlin ein Skandalauslöser allerersten Ranges war. Jede beliebige Realisierung liefe Gefahr, zuallererst und fast ausschließlich Kopfschütteln zu erzeugen. Seit einem knappen halben Jahrhundert gehören nackte Frauen und Männer zum Bühneninventar und zwar ganz nackte und zwar demonstrativ und vordergründig. Bei Schnitzler ist niemand nackt. Die hechelnde Erwartung, ein wenig Brust auf der Bühne zu erblicken, ist spätestens seit Susanne Lothars Hamburger „Lulu“ keine mehr, wird heute irgendwo nach Knopf und Hosenbund gegriffen, lautet die bange Frage im Parkett eher: Zieht er/sie sich jetzt tatsächlich aus?

Pornographie soll das einmal gewesen sein? Waren unsere Altvorderen tatsächlich solche Molche? Das, um was es in den zehn Szenen geht, die in der durch Schnitzler bereits in „Anatol“ erprobten Form als separate Einakter miteinander verbunden sind, ist in der Tat der sexuelle Vollzug. Man sieht ihn nicht. Man hört ihn bei Schnitzler nicht einmal. Im Text bei ihm sind an den jeweiligen Stellen Gedankenstriche quer über die Druckseite gesetzt, auf der Bühne fällt der Vorhang, um sich wieder zu heben, wenn alles vorbei ist. Der Zuschauer erlebt gewissermaßen zehnfach die verbal-handgreifliche Erregungskurve, darf sich, was Rammstein in die einprägsame Sangeszeile: „Rrein-Rraus“ fasst, eilig vorstellen, dann geht es schon wieder weiter, entsprechend postkoital in ziemlich genau allen Varianten, die man in ziemlich zweitausend Filmen längst bis zum Überdruss gesehen hat. Man kann wirklich alle postkoitalen Dialoge ohne Souffleur mitsprechen, auch wenn man den konkreten Text nicht wortgetreu kennt.

Bei Arthur Schnitzler, der so eine Art Wiener Neben-Freud war, was Freud selbst wenig freute, ist alles zusammen vielleicht so etwas wie die Soziologie der heterosexuellen „Liebelei“ im Wien des Fin de Siecle. Ihm schwante seinerzeit, dass sein Werk nicht ohne Probleme auf die Bühne zu bringen sei, selbst beim Druck war er zögerlich, zunächst gab es einen Privatdruck, dann 1903 einen öffentlichen in Mini-Auflage und der gute alte Samuel Fischer nahm den „Reigen“ erst 1931 in seine Schnitzler-Werke auf. Das Problem am Skandal, dessen traurige Chronologie man in Renate Wagners Schnitzler-Biographie am kompaktesten nachlesen kann, war, dass die Entrüstung über Pornographie, Unmoral, Unzucht, Verführung Minderjähriger durch Theater, die in einem sechstägigen Prozess zu Berlin gipfelte, eine organisierte war. Die sehr zielstrebig auf das zu steuerte, was eigentlich gemeint war: Es war antijüdische Hetze, es war Antisemitismus in seiner ekelhaftesten, weil noch verhüllten Form. Dennoch hat Arthur Schnitzler weitere Aufführungen wenig später untersagt, sein Sohn Heinrich hat über die Einhaltung dieses letzten Willens gewacht.

Das vermeintliche Skandalpotential des über Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum nicht mehr gespielten Zyklus war immerhin so groß, dass noch 1981 am 14. September der SPIEGEL eine ganze Seite abräumte, um dem Freiwerden des Schnitzler-Textes Nachrichtenwert zu verleihen. Die erste Aufführung nach der Endlospause gab es in Basel. Zum Ruhm des Zyklus trugen  Verfilmungen bei, deren bekannteste von Max Ophüls und Roger Vadim stammen, sie konnten den Willen Schnitzlers umgehen, weil sie auf den französischen Rechten fußten, die der Autor seiner Übersetzerin übertragen hatte. Und heute? Heute in Coburg? Regisseur Sebastian Pass, im Hauptberuf Schauspieler, zu Füßen der Veste zuletzt unter anderem der Präsident des Staatsrates in „Leonce und Lena“, Alfred in „Geschichten aus dem Wienerwald“ oder Don John in „Viel Lärm um nichts“, wollte vermutlich kein höheres Risiko eingehen. Neugier auf vermeintlich oder tatsächlich Bekanntes kann auch ein sehr guter Grund sein, ins Theater zu gehen, es ist da nicht wesentlich anders als beim Sex. Man weiß, was passiert, und verzichtet trotzdem nicht.

Die Regie-Idee: Alle zehn Szenen werden von nur zwei Darstellern gespielt, Anna Staab, die die Marianne im „Wienerwald“, die Lena bei Büchner und die Margaret bei Shakespeare war, fängt als Dirne Leocadia an und hört als Dirne Leocadia auf, dazwischen verwandelt sie sich in das Stubenmädchen, die junge Frau, das süße Mädel, die Schauspielerin, während Nils Liebscher, in den schon genannten Stücken auch immer auf der Bühne als Benedikt, als Zeremonienmeister, als Oskar der Soldat, der junge Herr, der Ehegatte, der Dichter und der Graf ist. Ich gestehe, dass ich Sorgen hatte, als er zu Beginn an der Seite stand wie nun wirklich jeder Strizzi in jedem Chargenwien jeder Chargenbühne. Wie ich über das Höllentempo der ersten Szenen besorgt war und mich fragte, wie die wohl ohne Pause auf zwei volle Stunden Spielzeit kommen wollen. Sie kamen und erst ganz am Ende wäre dann doch wieder mehr Tempo besser gewesen, da zog es sich.

Sonst aber im handhablichen Bühnenbild der drei sehr jungen Damen Mia Hartmann, Vanessa Singer und Bianka Wilk vom Bühnenbildworkshop der Hochschule Coburg ging es zu, wie es wohl zugehen kann, wenn man eine Mitte treffen will zwischen Überdeutlichkeit  und reinem Andeutungsspiel. Schnitzler hat keine Komödie geschrieben und noch weniger einen Schwank. Dennoch waren drei Damen aus den obersten Gewichtsklassen des Sumo-Ringens in der premierenvollen Reithalle gestimmt, gerade dann am emsigsten sich zu amüsieren und sich gegenseitig die Finger in die fülligen Seiten zu bohren, wenn es vorn zuging wie im Schwank. Um solchen Beifall zu buhlen, sollte sich Regie verkneifen, das hat weder Schnitzler allgemein noch gerade dieser verdient. Dafür gibt es genug geeignete Bühnentexte. Das Bühnenbild spielte mit den Vorhängen und damit genau an der richtigen Requisitenstelle. Sie waren leicht abzuziehen und konnten Bettdecke sein, Schleier, Kopfkissen, sie konnten ihre Durchsichtigkeit bei entsprechender Lichtregie einbringen und einfach auch der Szenentrennung hilfreich dienen, denn auch die kleinen Umkleideübungen brauchen Zeit und keineswegs zwingend volle Ausleuchtung.

Regisseur Pass hat auf zu viel Wiener Sprachkolorit verzichtet, er hat auch die Örtlichkeiten Wiens nicht akzentuiert, die man ja kennen müsste, um die spezifischen Anspielungen als Subtext-Inhalte zu verstehen. Auch die natürlich höchst subtilen Bezüglichkeiten des Dialogs auf andere Literatur, Stendhal, Schiller, Flaubert, sie waren da, drängten aber nicht zur Rampe. Anna Staab und Nils Liebscher haben das dankbare Rollenangebot genutzt, ihre Fähigkeiten zu zeigen. Verwandlung in Kostüm und Tonfall, in Haltung und Lautstärken, die leisen Töne, die es natürlich hat bei Schnitzler, die urplötzlichen Melancholien, die allem scheinbar Oberflächlichen, allem vermeintlichen Pur-Geplänkel plötzlich Tiefe verleihen, das vermittelte sich zwanglos. Und warum nicht auch ein gespielter Orgasmus unterm Vorhang, während sich der Dichter in den Grafen verwandelt? Was für ein Dichter, dem entscheidend ist, dass sie seinen Namen noch nie gehört hat!

Die Regie hat sich in der sozialen Akzentuierung der Personen für gebremste Kontraste entschieden, Schnitzler-Expertin Konstanze Fliedl sieht bis heute jedoch genau das als entscheidenden Zug des Spiels, wenn es nicht in komplette Unverbindlichkeit übergleiten soll. Die Wiener Typologie von 1896/97 ist freilich heute kaum noch geeignet, analytische Reflexionen über gesellschaftliches Rollenverhalten von Männern und Frauen zwanglos auszulösen. Dann auf alle Fälle besser keinen Krampf. Und doch bleibt am Schluss das Gefühl in der Schwebe. Es liegt am Stück, nicht an der Inszenierung. Das Stück will einfach nicht mehr so richtig funktionieren. Jeder Schritt ins Gezeigte macht das Spiel ums Verborgene gestriger. Das Premierenpublikum, darunter etliche Kollegen, die spielfrei hatten, applaudierte herzlich und ausdauernd.
   www.landestheater-coburg.de


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