Hauptmann: Einsame Menschen, Landestheater Coburg

Der Autor Gerhart Hauptmann wird gern zitiert mit seiner Aussage, „Einsame Menschen“ sei ihm das liebste von seinen frühen Stücken. Die Tücke dieser Aussage: sie stammt ihrerseits noch aus Hauptmanns früher Zeit, ist also angesichts der schieren Masse zur Wahl stehender früher Lieblingsstücke ein typisch falscher Superlativ im Stil des Allerweltsfeuilletons, das gern vom wahrscheinlich aufregendsten Antikeprojekt des Frühjahrs spricht, obwohl es in diesem Lenz nur ganze zwei Antikeprojekte gibt. Dabei ist es letztlich nichts sagend, denn man weiß, dass selbst Hauptmanns am Ende sogar optisches Vorbild Goethe seine eigene Jugend am liebsten vollkommen vergessen und/oder verdrängt hätte. Was deren Werken nichts nahm und nichts hinzufügte.

Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“ bietet dem Leser fünf Akte, bei denen man sich immer mehr und immer drängender fragt, ob deren vermeintlicher Handlungskern tatsächlich noch Interesse zu wecken vermag. Und sie lassen rasch diverse Stolperstellen und Fallstricke erkennbar werden, die aktuelle Regie mindestens zu gewärtigen hat, möchte sie keine unfreiwilligen Nebenwirkungen riskieren. Das beginnt mit dem Dialektanteil im Dialog und endet bei den gegenseitigen Anreden innerhalb der Familie Vockerat. Hier können Lacher provoziert werden, die weder der Verfasser vor mehr als hundert Jahren wollte noch heute eine Inszenierung wollen sollte. Es vorwegzunehmen: der 1982 geborene Regisseur Michael Götz hat diese Klippen souverän umschifft, die weitestgehend stringente Strichfassung offenbart eher zu viel als zu wenig Vorsorge.

Zum Stück: Das Ehepaar Vockerat besteht aus dem hochehrgeizigen, mit einer nur vage beschriebenen wissenschaftlichen Arbeit befassten Johannes (28) und dessen Gattin Käthe (22, die Coburger Inszenierung macht sie aus nicht ersichtlichen Gründen sechs Jahre älter). Ihr  gemeinsames Kind ist eben getauft worden, als die Handlung des ersten Aktes einsetzt. Zu den handelnden Personen gehören die Eltern, Hauptmann nennt die Mutter eine Matrone, was heute sicher so gut wie jede Frau in den Fünfzigern mit berechtigter Empörung von sich weisen würde, der Vater ist zirka zehn Jahre älter, sowie der 25 Jahre alte Freund Braun, der ein Maler ist. In den Familienkreis tritt zufällig eine Studentin ein, 24 Jahre alt, Anna Mahr. Sie bewirkt ohne eigene Ambition, sehr rasch, aber mit sehr präziser Erkenntnis und deshalb voller Dezenz und Zurückhaltung, das Aufbrechen latent vorhandener Konflikte zwischen Johannes und seiner Frau wie auch zwischen Johannes und seinen Eltern.

Schon dem Leser des Textes erschließt sich bald, dass die dramaturgische Vordergrundstellung des Intellektuellen Johannes inklusive seines Endes den tragischen Kern des Geschehens eher verdeckt als entfaltet. Denn den behaupteten und durchlebten beziehungsweise vorgespielten Konflikt des „unverstandenen“ Mannes, den alles hemmt, was um ihn ist und der insbesondere mit seiner jungen Frau umgeht wie nur irgendein fühlloser  Seelenrüpel, nimmt heutiges Publikum dem Autor Hauptmann nicht mehr hingerissen ab. Das Coburger Premierenpublikum des Pfingstabends jedenfalls reagierte immer dann am hörbarsten, wenn Johannes seine Käthe wieder wie der sattsam bekannte Elefant im Porzellanladen mit seinen Unterstellungen verletzte und sich in ungebremstem wie unkontrolliertem Selbstmitleid erging. Sein Verhalten wirkt anno 2013 auf der Bühne mindestens anteilig albern.

An dieser Stelle wäre über die Kostüme zu reden. Die hübsch anspruchsvoll formulierte Deutung dieser Kostüme (Imke Paulick), wie sie Dramaturg Georg Mellert in seiner Einführung zum Stück vortrug, ist mir schon wieder entfallen. Die seltsame Gewandung (roter Pflanzendruck auf weißem Stoff) des Johannes Vockerat aber illustriert genau diese Ambition von allen Outfits aller Spieler vielleicht am klarsten, weil sie genau diesen Schuss unfreiwilliger Albernheit sichtbar macht. Dagegen sah mir etwa der Maler Braun, den Anna Mahr Kopfmaler nennt, weil er weniger malt als redet, eher wie Boheme-Klischee aus, was in Kombination mit dem Darsteller (Sebastian Pass) dann auch zu so vermutlich kaum gewollten Lachern im Parkett führte. Man kann heute keinen Künstlerschal mehr mit Heesters-Gebärde über die Schulter werfen ohne Parodieeffekte. Ein Wiedersehen mit dem klassischen Sockenhalter auf dünner Wade bescherte Vater Vockerat: So etwas trug Mann eben. Man ahnt erheitert, wie erotisch es auf eroberte Damen wirkte bei laufender Entblätterung.

Die Regie wollte - weil ich es in der Einführung hörte, will ich nicht den Anschein erwecken, es nicht zu wissen -, Konzentration der Bühnenhandlung auf das intim Private. Sie verzichtete deshalb auf fast alles Zeitbezogene vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem die Namen, die heute vergessen sind. In einem Fall bedauere ich dies sehr. Es ist der Fall des russischen Dichters  Wsewolod Garschin, dessen Novelle „Künstler“ dem Maler Braun bei Hauptmann die Argumente liefert für sein wortreiches Nichtstun. Garschin war nicht lange vor Entstehung von „Einsame Menschen“ erst gestorben, also ein hochaktueller Autor für Hauptmann, und die Phrasen, die Braun absondert, hätten Potential, heutiges Gutmenschen-Geschwafel als alte Intellektuellen-Hüte zu entlarven. Das aber hätte das Konzentrationskonzept der Regie aufs familiär Intime überfordert. Und auch als die Dialogstelle zwischen Braun und Anna Mahr auf das Gewissen kommt, fällt eine folgenreichere Streichung unvorteilhaft auf: Anna zitiert bei Hauptmann ausgerechnet einen Pfarrer als Kronzeugen gegen moralinsaures Gewissensgeschwätz.

Schon öfter sind mir in Coburg Streichungen im Umfeld des Religiös-Kirchlichen in den Stücktexten aufgefallen, wie mir bei diesem Hauptmann-Drama endgültig bewusst wurde. Ich gestehe, mir darüber bisher noch keine tiefer reichenden Gedanken gemacht zu haben. Dass eine gravierende Streichung am Ende des Stücks aber unter Umständen eine wunderbar vorausdeutende Dialogstelle vom Anfang in der Luft hängen lässt, demonstriert die Inszenierung leider auch: Mutter Vockerat sagt schon sehr zeitig den für das Finale bei Hauptmann essentiellen Satz, sie habe es nicht gern, wenn ihre Kinder Kahn fahren. Die Finesse solcher Vorausdeutung, große Dramatiker nutzen das Mittel seit Urzeiten mit Genuss, geht dem Zuschauer in Coburg natürlich verloren, wenn dem Selbstmörder Johannes die Kahnfahrt des Originalschlusses und deren verzögerte Offenbarung genommen wird. Als Johannes die Pistole an seine Schläfe setzt, hält sich ein Zuschauer vor mir vorsorglich die Ohren zu. Der Schuss fällt aber nicht, auch nicht beim zweiten Ansetzen.

Den dramatischen Höhepunkt zwischen Johannes, gespielt von Frederik Leberle, und Käthe (Sandrina Nitschke) gibt es, als letztere dem dauernd mit sich selbst unzufriedenen und dafür die Ursache nie bei sich selbst suchenden Johannes mit einer aus seiner Sicht profanen Frage kommt. Es geht um Geld, es geht, Käthe bringt es auf den Punkt, ums Praktische, welches für den Pseudophilosophen, dessen Fähigkeiten nur behauptet, nicht einmal im Ansatz auch spürbar gemacht werden, was ein Manko bei Hauptmann ist, keines in Coburg, das von vornherein Niedere, das zu Verachtende ist. Ausgerechnet hier fordert er seine junge, kränkelnde und vom noch sehr kleinen Kind fast überforderte Frau zu mehr Selbständigkeit auf. Und ihre beinahe devote, ihre auf Ausgleich und Nachgeben gerichtete Art fällt für Momente fast ganz von ihr ab. Das wiederum reizt bei Hauptmann, weniger in Coburg, den auf hoher Wolke schwebenden Gatten fast sexuell zu Versöhnungrethorik und Verzeihensgestik.

Hier hatte Sandrina Nitschke, die ein wenig Witwe-Bolte-haft begann und etwas zu oft am Kragen und an den Ärmeln nestelte, plötzlich und um so angenehmer überraschend starke spielerische Höhepunkte. Denn ihr Part ist im Stück eigentlich der tragische, sie ist, wenn man den männlichen Blick Gerhart Hauptmanns einmal als gesetzt nimmt, die kaum verborgene Hauptperson, sie ist Opfer, nicht Johannes, der mit seiner Opferrolle bisweilen sogar nur kokettiert, sie schließlich freilich mit erschreckender Konsequenz zu Ende spielt. 2013 gilt es nüchtern festzuhalten, dass sich einer wie er aus den Gründen, die das Stück entfaltet, einfach nicht umbringt. Freilich weiß der Kenner aus der Literaturgeschichte, dass das Thema des leidenden Künstlers, des leidenden Intellektuellen über mehrere Ismen hinweg zentral blieb. In der Kunst starben deutlich mehr meist männliche Menschen an Weltschmerz als im wirklichen Leben je, die Weltuntergangsstimmung der Jahrhundertwende bis mindestens zum ersten Weltkrieg forderte mehr Literaturtote als alle anderen Stimmungen.

Das alles nachvollziehbarer zu machen, hätten Teile der Streichungen eben doch nicht gestrichen werden dürfen. Dennoch ist, es sei wiederholt, keine Schieflage entstanden. Das liegt an den reichlich vorhandenen und nie sich verselbständigenden Regieeinfällen von Michael Götze. Das Pantomimisch-Tänzerische etwa, das wie ein Schattenspiel inszeniert war, sparsam eingesetzt und eben deshalb überaus passend. Ditteke Waidelichs Bühnenbild mit einfacher Vorn-Hinten-Teilung, die erst gegen Ende hin aufgehoben wurde durch schlichtes Heben des transparenten Raumteilers, eröffnet die Möglichkeiten reiner Aktion ohne Dialog, macht Synchronitäten spielbar, die sich rein optisch selbst erklären. Und alles in allem passiert, was auf fast schon wundersame Weise immer wieder in Coburg passiert, es rundet sich, als wäre gar nichts anderes möglich. Die nur sieben Darsteller, einige Nebenrollen sind gestrichen, Frau Lehmann (Philippine Pachl) hat nur einen einzigen und dennoch einprägsamen Auftritt, spielen souverän, der Schlussbeifall erkennt es verdientermaßen anhaltend an.

Anna Staab als Anna Mahr, Kerstin Hänel als Mutter Vockerat, Thomas Straus als Vater Vockerat sorgen mit den schon Genannten dafür, dass die Coburg-Premiere des dritten Hauptmann-Stückes, es ist dort nie zuvor gespielt worden, wie Georg Mellert als Ergebnis seiner Recherche in den Hausarchiven mitteilte, durchaus ein Ereignis genannt werden darf. Das Hauptmann-Jubiläum 2012 hat bisher zu keiner deutschlandweiten Inszenierungswelle geführt, aber doch Entdeckerambitionen ausgelöst, die zu Füßen der Veste Coburg eine unbedingt empfehlenswerte Produktion hervorbrachte. Kleiner Nachtrag für alle, denen intertextuelle Entdeckungen zusätzliches Vergnügen bereiten: Es ist erstaunlich viel Kleist in diesem Hauptmann. Wenn Johannes seiner Käthe erklärt, dass er das allgemeine Interesse verkörpert, sie das private, dann liest sich das wie direkt aus den Briefen Kleists an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge übernommen. Und wollte nicht auch Kleist mit Wilhelmine in die Schweiz, Kleist, der ein Käthchen erfand?
  www.landestheater-coburg.de


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