Marie Luise Kaschnitz: Romeo und Julia

1960 ist Marie Luise Kaschnitz Inhaberin des Lehrstuhls für Poetik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie hält ihre Vorlesungen unter dem Titel „Gestalten europäischer Dichtung von Shakespeare bis Beckett“. Anders als bei anderen Lehrstuhl-Inhabern sind diese Vorlesungen nie separat und zeitnah veröffentlicht worden, sie erschienen gesammelt und vollständig erst 1971 in „Zwischen Immer und Nie“ bei Insel, später dann als Band 425 in der Reihe „suhrkamp taschenbuch“. Und als Hermann Kesten für den „Insel Almanach auf das Jahr 1971“, den Hans Bender ausschließlich für Marie Luise Kaschnitz herausgab anlässlich ihres siebzigsten Geburtstages, seine „Beschwörung“ genannte erweiterte Besprechung der Kurzprosa „Steht noch dahin“ verfasste, war sein Lobeswort für die Essays der Jubilarin inklusive der Vorlesungen so auffallend, dass er seinerseits gelobt wurde, obwohl ihm doch mehr als zwei Sätze gar nicht eingefallen waren.

Der Passus sei zitiert: „Von hohem Rang ist auch die Essayistin Kaschnitz. Ihre Feuilletons, ihre Beschreibungen, zeigen fühlende Weisheit, quasi unausgesprochene Phantasie und Poesie, dank der exakten Betrachtung, der genauen Sprache, dem präzisen Gefühl.“ Dass klingt besser, als es bei näherem Hinsehen gesagt ist, denn irgendwie ist hier ein Abschlag auf Weiblichkeit einformuliert, dessen demonstratives Wohlwollen leicht aus der Zeit gefallen wirkt. Um so mehr erstaunt, dass die Schweizerin Elsbeth Pulver für ihr zur Reihe der Autorenbücher gehörendes 175-Seiten-Bändchen an den Essays gleich ganz vorbeischaut, sie weder für die Zeitetappe, als sie entstanden, noch für die, als sie gedruckt erschienen, einer Würdigung für wert hält. Vielleicht täuschte ein oberflächlicher Eindruck von Nacherzählung in der Gestalten-Reihe, der freilich nur bei sehr oberflächlichem Lesen aufrecht erhalten werden kann. Man halte probehalber den Text eines beliebigen Schauspielführers neben die Darstellungen, die Kaschnitz von „Romeo und Julia“ und von „Der Sturm“ gibt, es sind die beiden Shakespeare-Dramen, denen sie sich zuwendet. Man wird dann nicht gezwungen, bei ihr die ultimative Lesart anzuerkennen, Interesse beanspruchen die knapp zwanzig Druckseiten auf jeden Fall.

„Zwischen Immer und Nie“ versammelt weitere Texte zum Untertitel „Gestalten und Themen der Dichtung“ mit dem Effekt, dass die zu Shakespeare nicht eröffnen, sondern eingerahmt erscheinen. Drei bibelbezogene Essays gehen voran, zu Daniel, zu Jesus als Ärgernis und zu Tobias, der dritte darf als Seitenstück zum Hörspiel „Tobias oder Das Ende der Angst“ betrachtet werden. Sappho und Lysistrata werden auch noch vorgezogen, ehe endlich die größte Liebesgeschichte der Welt zu Wort kommt (eröffnet ist der Band mit Engidu, weil das Ordnungsprinzip ein zeitliches ist, die behandelten Literaturdenkmäler betreffend). Hans Bender lobt in seinem fast unterkühlten Nachwort: „Die Nacherzählung in konziser Prosa steigert die Faszination der jeweils vorgegebenen Gestalt. Sie verstärkt Konturen, die andere Leser nicht wahrgenommen haben.“ Sie steigert die Faszination aber nicht bis zur Verschiebung der tatsächlichen Akzente, was heißen soll: weder Julia noch Miranda sind anders als an ihrem Platz bei Shakespeare gesehen.

„Romeo und Julia“ als Kaschnitz-Titel nimmt nur scheinbar den Tragödien-Titel auf, das „Prospero“ über dem zweiten Versuch belegt, dass es um die Gestalten geht, die das Interesse der Leserin Marie Luise Kaschnitz erregt haben, welches sie an ihre Hörer in Frankfurt am Main weiterreichen will und dann auch an die Leser des gedruckten Wortes. „Romeo in Staatsdiensten, Julia von einer Schar kleiner Kinder umgeben sind undenkbar, nicht weil sie nicht in der Welt hätten leben wollen, sondern weil sie es nicht können. Weil sie, einmal auf so stürmische Weise zur Liebe erwacht, nicht im eigentlichen Sinne Menschen, sondern die Verkörperung eines menschlichen Zustandes sind.“ Es ist keine Frage, ob man so an diesen Klassiker aller Klassiker herangehen kann, man kann, man darf, man soll. Ohne die ungeduldige Erwartung freilich, ringsum nur Zustimmung zu erzielen. „Genügen ein paar Tage, um aus dem gekränkt redseligen Jüngling einen stummen, zum Äußersten entschlossenen Mann zu machen, so reichen sie auch hin, das Kind Julia zu verwandeln von Grund auf.“

Tempo hat Kaschnitz gesehen, kombiniert mit Unvernunft: „Vernünftig ist er auch jetzt nicht, wie denn überhaupt in diesem Trauerspiel das hohe Lied der Unvernunft gesungen wird, ihr Untergang und überwältigender Sieg.“ Darüber hinwegzulesen, geht kaum. Weil doch der Gedanke einer untergehenden und zugleich siegenden Unvernunft nicht der erste und auch nicht gleich der zweite ist, der sich anbietet. Wer etwas mehr von Marie Luise Kaschnitz weiß, wird kaum umhinkommen, hier und sonst in diesen Essays ganz eigene Erfahrungen unterlegt zu finden, die, was ein sprengendes Nebenthema wäre, sehr viel mit Frauenbild, Weiblichkeitsbild, Liebesbild zu tun haben und eben ohne die Ehe mit dem Archäologen und Altertumsexperten Guido Freiherr von Kaschnitz-Weinberg nicht gedacht werden können. Als Marie Lusie Kaschnitz ihre Vorlesungen in Frankfurt am Main hielt, war der Ehemann ja noch nicht so lange tot, war die Erfahrung seines Sterbens, die Erinnerung an das gemeinsame Leben seit 1925 noch nicht so verarbeitet, dass sie zu den Aufzeichnungen „Wohin denn ich“ geworden wären, die erst 1963 Buch-Premiere hatten.

Natürlich liegt es nahe, vom hohen Lied der Unvernunft zu sprechen, wenn von solcher Liebe berichtet wird, die den wundersamen Versuch unternahm, Herkommen im Rahmen des Herkommens zu sprengen. Denn bis zur Missachtung des Sakraments der Ehe reicht der Aufstand gegen die Welt der Eltern natürlich nicht, der heimlich und ohne Erlaubnis geschlossene Bund hat aber doch seinen Priester, seinen Segen. Marie Luise Kaschnitz lässt in ihrer Wiedergabe des Geschehens das Pendel nicht schwingen zwischen Schicksal und Zufälligkeiten, sehr vernünftig neigt sie dazu, in der Folge der Zufälligkeiten das Schicksal zu erkennen, das diesen Namen gar nicht braucht, um die Tragödie zu vollenden. „Wie sehr allein diese Liebenden sind, das ist das Bewegendste von Anfang an. Allein in der bösen Welt, so empfindet man es, obwohl diese Welt gar nicht so arg ist, gar nicht besonders böse, sondern eben nur die wirkliche Welt, ein Bereich, in den Kinder und Liebende nicht passen, die einen noch nicht, die anderen bereits nicht mehr.“ So hebt er an, der Text und es ist ein gar nicht so leiser Paukenschlag.

Denn leichter wäre es, einfacher, wenn auch wirklichkeitsferner, auf dem Bösen zu beharren, ihm metaphysische Dimensionen zuzuordnen. Wer sich dem so beschaffenen Bösen entgegen stellt, kann keinen Fehler machen, kann keine Schuld auf sich laden, ist von Verantwortung frei, die ja sonst, eben im wirklichen Leben, an jeder Freiheit hängt wie die Kehrseite an der sprichwörtlichen Medaille. Marie Luise Kaschnitz aber sieht Schuld, Verantwortung, Fehler im Tun der unvernünftig Liebenden. Die Welt ist, wie sie ist, wird nicht anders durch diese Liebe, wohl aber ihr Bild: „Tatsächlich bedarf es der Erscheinung dieser jungen Liebe, um das alles einmal anders zu sehen, nichtsnutzig, alt und verrottet und eben als die böse Welt...“. Bei Julia: „Gar kein Widerstand, gar kein Schuldbewußtsein, nur Ungeduld, große, von Anfang an.“ Kurz vorher schon: „Die kleine Julia ist die wahre Schönheit, die weiße Taube, die sich nicht ziert, sich schon hingibt mit dem ersten Händedruck, dem ersten Kuß.“ Würde ein Mann das so sehen, so deuten, einer, dem Hingabe bekannt ist als Nehmen, Hinnehmen?

Wieviel Erfahrung, Wissen steckt in: „Die alte Frauenangst, getäuscht zu werden, stellt sich bald ein, auch die kleine Besorgnis um ihr Ansehen bei ihm.“ Alt ist die Erfahrung, klein ist die Besorgnis, doch weder Alter noch Kleinheit helfen wirklich relativieren, auch alte Angst ist Angst, kleine Besorgnis ist Besorgnis, Verdrängungen fordern Vernunft inmitten der Unvernunft. Wie sollte das gehen? Julia muss plötzlich lügen. Und Romeo: „Ein Verschulden ist dennoch im Spiel und ein tragisches, weil es so reinen Willens begangen wird. Romeo selbst nämlich stört den friedlichen Ablauf des Geschehens.“ Das allen bekannte Ende: „Romeo und Julia, die dort tot liegen, waren keine Menschen, die in dieser Welt leben konnten, also konnten sie auch nicht sterben in unserem, dem herkömmlichen Sinn.“ Den versöhnlichen Schluss mit der Aussöhnung dieser Sippen von Montague und Capulet will Marie Luise Kaschnitz als verzichtbar ansehen, ihr Abwenden geht so weit, dass sie lebenssüchtige Greise sieht, wo bei Shakespeare gar keine sind. Und die Visitenkarten auf dem Marmorsarg in Verona will sie als Beweis sehen, „Beweis dafür, wie mächtig dieses reine Liebeslied durch alle Zeiten forttönt....“.
(Geschrieben im Mai 2014 für ein Buch-Projekt, das nicht zustande kam, bisher unveröffentlicht)


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