Doppelt Erwin Strittmatter

„Mit der Dialektik sollten wir so umgehen wie unsere Altvorderen mit ihrem Gott. Niemand kann ungestraft gegen sie verstoßen.“ In einem Blätterbüchlein finde ich diese Sätze, das den Titel „Selbstermunterungen“ trägt. Sein Autor hat vor nunmehr zwanzig Jahren niedergeschrieben, was erst sehr viel später – 1981 – auch die Leser erreichte. Gedankensplitter, Aphorismen, Sentenzen – wie auch immer man sich benennt, welcher Art das schmale Bändchen ist: es versammelt festgehaltene Erfahrungen, die vielfach tiefe Betroffenheit auslösen. Erwin Strittmatter nämlich, der sie notierte, scheinbar fest umrissene Gestalt der DDR-Literatur-Gesellschaft, eröffnete neue Zugänge in die Zusammenhänge seines Werkes. „So etwas gab es in unserer Gegenwartsliteratur noch nicht“, hatte 1964 eine Leserin geschrieben, „daß Helden, die ihr ganzes Leben ihrer Idee, der Idee des Fortschritts, treu geblieben sind, am Ende sterben.“ Ole Bienkopp, der am Ende des gleichnamigen Strittmatter-Romans nach Mergel grabend starb, lieferte den Anstoß zu derart fundamentalen Mißverständnissen. Daß er damit in einer Reihe stand mit anderen Strittmatter-Helden, ist heute besser überschaubar: treu begleitet wurde ein großes Werk von großer Hilflosigkeit nicht weniger Leser und Kritiker. Den Dichter hat das mehr getroffen, als er lange Zeit verriet. Mit den „Selbstermunterungen“ ist er seinen Lesern näher getreten als vielleicht je zuvor. Lope Kleinermann und Stanislaus Büdner, Tinko und Esau Matt – all die eigenartigen, die unverwechselbaren, die lebensprallen Figuren Strittmatters, die ja auch immer Figurationen seines Ich sind, werden reicher mit der Eröffnung:  „Der Sinn meines Lebens scheint mir darin zu bestehen, hinter den Sinn meines Lebens zu kommen.“ Für dieses Jahr ist noch der zweite Band des „Laden“ angekündigt und Reclam hat die bisher erschienenen „Nachtigall-Geschichten“ in einem Band zusammenfaßt. Weil am 14. August der 75. Geburtstag von Erwin Strittmatter ist, wird es wohl Ehrungen geben. Villeicht wird man ihn auch einen modernen Klassiker nennen. Er selbst aber wird auf die ersten Leserbriefe warten wie nach jedem neuen Buch.
 Zuerst veröffentlicht unter dem Titel „75 in Sicht“ in: Neue Hochschule,
 30. Jahrgang 1987, Nr. 15, Seite 5

Schon vor zehn Jahren wurde die Gesamtauflage aller Werke Erwin Strittmatters in der DDR mit rund 2 Millionen angegeben und vor 15 Jahren schrieb ein Kritiker: „Ein neues Buch von Erwin Strittmatter wird erwartet wie ein guter Freund; Vorfreude und Neugier verbinden sich, denn jeder hat seine Vorstellung vom Werk Strittmatters...“. Für dieses Jahr ist der zweite Band seines jüngsten Romans „Der Laden“ angekündigt und der Reclam-verlag hat die bisher erschienenen „Nachtigall-Geschichten“ zu einem Band zusammengefaßt. Beides hat mit dem Datum 14. August zu tun: das ist der 75. Geburtstag Strittmatters. Der Poststrom zum Schulzenhof wird wohl zur Flutwelle werden.

In der Arbeitsgruppe III des VII. Schriftstellerkongresses der DDR hat Erwin Strittmatter verraten: „Ich gebe gern zu, daß ich über meine umfangreiche Korrespondenz mit Lesern nicht immer erfreut bin.“ Missen wolle er sie jedoch nicht: „... weil diese Verbindungen mir zeigen, daß ich als Schriftsteller in unserer Gesellschaft gebraucht werde.“ Seit 1951 sein erstes Buch erschien, der Roman „Ochsenkutscher“, ist Erwin Strittmatter ein repräsentativer Schriftsteller der DDR, jedes neue Werk hat das Gesicht ihrer Literatur wesentlich mitgeprägt. Ein Kunststück, das wahrlich nicht häufig gelingt, ist ihm gelungen: jeder „neue Strittmatter“ war wirklich eine neuer Strittmatter und doch zugleich auch immer unverwechselbar er.

Seine Helden haben Diskussionen ausgelöst in den fünfziger und sechziger Jahren, die manchen Leser heute mit Wehmut zurückblicken lassen und manchen Kritiker auch. Mißverständnisse gab es, die heute undenkbar sind. So schrieb etwa eine Leserin zu „Ole Bienkopp“: „So etwas gab es in unserer Gegenwartsliteratur noch nicht, daß Helden, die ihr ganzes Leben ihrer Idee, der Idee des Fortschritts, treu geblieben sind, am Ende sterben.“ Daß manche Diskussion auch schmerzhaft war für den Autor und seinem Werke hinderlich, kann nunmehr nachgelesen werden. „Selbstermunterungen“ hat Strittmatter einen Band mit Notaten der Jahre 1966/67 genannt und ihn eröffnet mit dem Satz, der auch den Schutzumschlag des „Laden“ ziert:„Der Sinn meines Lebens scheint mir darin zu bestehen, hinter den Sinn meines Lebens zu kommen.“ Daraus wuchsen seine Bücher.

„Alle Bücher von Strittmatter enthalten Autobiographisches, keines ist eine Autobiographie. Es handelt sich immer um Transponierungen“, teilte Eva Strittmatter einmal einem Leser mit. Von Lope Kleinermann über Tinko und Stanislaus Büdner bis zu Esau Matt hat Erwin Strittmatter seine spezifischen Lebenserfahrungen Gestalt werden lassen, die „dürre Dame Lebensunkenntnis“, von der er 1955 einmal geschrieben hatte, war seine Muse nie, in seinen Büchern ist pralles, volles Menschenleben und – vor allem – Menschensprache. Ob es die vertrackten Kapitelüberschriften im „Wundertäter“, die köstlichen sprechenden Personennamen sind, die überwältigende Fähigkeit, Natur erlebbar zu machen, Genüsse über Genüsse bieten seine Bücher.

Die Vorstellung, auf den Sockel des Klassikers der sozialistischen deutschen Nationalliteratur steigen zu müssen, wird ihm wenig gefallen. Vielleicht aber schickt ihm ein Bäcker ein Geburtstagsbrot und bittet ihn, weiter über die Zunft zu schreiben. Dann wird er sich wohl überzeugen lassen.
  Zuerst veröffentlicht in: Freies Wort, Beilage Nr. 33, 14./15. August 1987
  unter der Überschrift „Seine Muse ist das pralle Leben“, Manuskriptfassung


Joomla 2.5 Templates von SiteGround