Dora Wentscher: Heinrich von Kleist

Im Volksverlag Weimar, der später in den Berliner Aufbau-Verlag integriert wurde, der fortan unter der Ortsangabe Berlin und Weimar firmierte, erschien 1956 ein immerhin rund 250 Seiten starkes Buch mit dem wenig spektakulären Titel „Heinrich von Kleist“. Die Autorin Dora Wentscher war nach dem Krieg aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrt, sie hatte 1946 Johannes Nohl geheiratet und mit ihm gemeinsam in Weimar gelebt. Dora Wentscher, sie wurde am 6. November 1883 in Berlin geboren und starb in Erfurt am 3. September 1964, ist heute nicht nur vollkommen vergessen, es besteht auch nicht einmal im Kleist-Jahr das geringste Interesse daran, wenigstens für den Augenblick an sie zu erinnern. Meine diesbezüglichen Versuche bei der Kulturverwaltung Weimar und bei der Literaturzeitschrift PALMBAUM blieben ohne das geringste Echo.

Das fügt sich seltsam nahtlos an den nicht anders als ignorant zu nennenden Umgang mit Dora Wentscher, den die Exilforschung der DDR mit ihr pflegte. In sieben voluminösen Bänden des Leipziger Reclam-Verlages taucht ihr Name ganze zweimal auf und zwar beide Male lediglich in einer längeren Namenreihe. Deutlich eifriger gab sich da David Pike in seiner vor Jahren bei Suhrkamp erschienenen Darstellung „Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933 – 1945“, Pike hat immerhin etwas von Dora Wentscher gelesen und kritisch referiert. Das Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste weist aus, dass von Dora Wentscher und Johannes Nohl dort immerhin sieben laufende Meter Material lagern, darunter publizistische und literarische Texte über Heinrich von Kleist.

Auch die Kleist-Forschung, die ja immerhin ein Kapitel „Kleist-Rezeption in der DDR“ auf der keineswegs abgearbeiteten Langzeit-Agenda haben dürfte, hat offensichtlich hier noch keinen Stoff für sich entdeckt, mir zumindest ist bisher davon nichts bekannt geworden. In bisherigen Überblicksdarstellungen erscheint der Name Dora Wentschers noch nicht einmal im Personenregister. Sie hat freilich auch „nur“ ein Lesedrama geschrieben und heutigen diskursanalytischen Sprachäquilibristen wäre das wohl einfach kein seriöser Gegenstand für Unterwanderungs-, Einschreibungs- und Kontaminationstheorien.

Man kann Dora Wentscher von heute aus große Vorwürfe machen. Der Großmeister des Dokumentardramas, als den manche Rolf Hochhuth gern wahrnehmen, würde sich angesichts der Kommentarlosigkeit des Textes sicher den Kopf wuschig schütteln, denn wohl besitzt die Autorin eine enorme Textkenntnis dessen, was Kleist geschrieben hinterlassen hat, aber sie setzt ignorant oder naiv voraus, dass die Leserschaft ihres Buches das auch fast alles weiß. Es wäre sicher eine, wenngleich nicht wirklich dankbare, Belegarbeitsaufgabe, all die wörtlichen und fast wörtlichen Zitate aus Briefen und Dramen zu identifizieren, mit denen die Autorin ihren Text schließlich hergestellt hat. Die Buchausgabe krankt ganz entschieden daran, dass sie den Leser vollkommen allein lässt: kein Vorwort, kein Nachwort, nicht einmal ein Gattungs- oder Genrebegriff.

Das Material aus dem Archiv in Berlin würde möglicherweise Aufschluss liefern über Arbeitsphasen an diesem seltsamen Buch, Birgit Schreiber weiß in ihrem Lexikon-Beitrag im „Killy“ immerhin, dass es mehrfache Überarbeitungen gab. Renate Wall hat in ihrem „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 – 1945“ ohnehin nur eine Paraphrase des Bekannten festgehalten. Und so führt kaum ein Weg vorbei an weitgehend voraussetzungsloser Lektüre einer Lebensdarstellung in Dialogform, die alles andere als ein Drama ist, obwohl das Leben Kleists natürlich in gewisser Weise dramatisch verlief. Dora Wentscher folgt streng der Chronologie, sie erfindet wenig für die vielen Lücken in der Überlieferung hinzu, wenn sie hinzu erfindet, geschieht dies nicht nach einer erkennbaren Logik.

Wo Daten bekannt sind, operiert sie mit ihnen, alle einzelnen Szenen haben eine Zeitangabe, obgleich die bisweilen vage bleibt, weil Genaues nicht bekannt ist. Die erwähnte Textkenntnis, verbunden mit einer weitgehend sicheren Hand für die Platzierung der nie gekennzeichneten Zitate, steht in einem überraschenden Kontrast zu dem Umstand, dass Dora Wentscher wohl alle Dramen mehr oder minder explizit eingearbeitet hat, Kleists erzählenden Prosa jedoch bis auf den „Kohlhaas“ komplett ignoriert. Die im Personenverzeichnis vorn auffallende Ausklammerung diverser sehr wohl bekannter Namen erschließt sich bis zum Ende nicht in ihrer vermeinten Notwendigkeit. Allenfalls bei den Pariser Szenen wird erkennbar, dass dem anonymisierten Freund Kleists mehr Erkenntnis und Einsicht beigeordnet wird als die reale Person getragen hätte.

Ähnlich erscheinen bei Dora Wentscher auch Ulrike und Marie von Kleist eher als Trägerinnen von Autorensichten denn als Personen aus Kleists Umfeld, obzwar gerade Marie von Kleist im Text eine sehr große Rolle spielt. Auch Dora Wentscher nennt sie aus unerfindlichen Gründen Kusine und macht sie zudem noch acht Jahre jünger, als sie war. Die angeheiratete Gattin eines Verwandten zweiten Grades war, jedenfalls fand ich bis heute nirgends eine andere Lesart, auch zu Kleists Lebzeiten nie und nimmer eine Kusine, obwohl „die“ Kleist-Literatur das immer wieder gern unbedacht hinschreibt. Manches nimmt die Autorin für bare Münze, was heute von verschiedenen Seiten und mit verschiedenen Argumenten bezweifelt wird: die Kant-Krise, den Würzburger Aufenthalt, soweit sie ihn überhaupt erwähnt. Dafür ist unter den wenigen reinen Erfindungen eine, die wirklich hübsch geriet.

Dora Wentscher glaubt nicht nur fest an die Realität des Maidli auf der Delosea-Insel im Schweizer Aare-Ausfluss aus dem Thuner See, sie spricht ihr sogar einen gewichtigen Anstoß für die Ausgestaltung des „Zerbrochnen Krugs“ zu, die Idee mit der Perücke nämlich. Dass sie Wieland sein Extremlob nach mündlichem Vortrag aus dem „Guiscard“ gegenüber Kleist aussprechen lässt und zwar am Abend vor Kleists Abreise, ist ebenfalls Erfindung und noch mehr sicher die angedeutete Sympathie des alten Wieland für einen möglichen Schwiegersohn Heinrich von Kleist. Die nicht nachgewiesene Tätigkeit Kleists als Tischler gewinnt, hier hört man deutlicher als sonst im Lesedrama DDR heraus, eine stark persönlichkeitsbildende Rolle für Kleist. Denn über sie lässt sich ein Verhältnis zur körperlichen, sprich: proletarischen Sphäre herstellen, was Dora Wentscher freilich nicht vordergründig ausbaut.

Auch das für eine Weimarer Autorin natürlich doppelt unvermeidliche Thema Kleist und Goethe spielt im Text mehrfach eine Rolle. Das Scheitern des „Zerbrochnen Krugs“ im Hoftheater unter Goethes Regie weiß sie leider nur mit der Akteinteilung zu erklären und lässt Kleist das sogar zweifach vortragen. Und sie lässt, deutlich interessanter, Kleist einen Besuch bei Goethe klar dementieren: „Nie über seine Schwelle. Eher hätte ich mir den Fuß abgeschnitten.“ Auch die Duell-Forderung gegenüber Goethe muss Kleist selbst leugnen, auf die Frage Ulrikes, ob es Wahrheit sei, antwortet er: „Nein, aber das äußerste Gegenteil davon: Dresdner Klatsch.“

Aus dem nicht sicher belegten Krankenlager in einem Kloster bei Prag macht Dora Wentscher eine eigene Szene, den zweibändigen Roman nimmt sie als real vorhanden gewesen an und lässt Adam Müller den Wunsch äußern, diesen zu drucken. Wirklich ärgerlich ist die Erwähnung der „Iffland-Affäre“ als Grund für Kleists schlechten Ruf bei Hofe, denn mit keinem einzigen Wort vorher ist diese Affäre auch nur angedeutet. Das gilt ebenso für Kleists Wunsch nach einem Sohn, den er  pathetisch gegenüber Henriette Vogel ausspricht. Dora Wentscher lässt Kleist mit Einsichten und Überzeugungen sterben, die, wenngleich unaufdringlich formuliert, eher aus DDR-Erbetheorie inklusive ihrer Vorläuferschaftsauffassungen erklärbar sind als aus Texten Kleists selbst. Nicht zuletzt das könnte Anstoß für Forscherneugier sein, auch wenn als sicher gelten darf, dass anschließend nicht von einem Paradigmenwechsel im Kleistbild zu reden sein wird.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround