Arthur Eloesser 1934
W. Michael Blumenthal, nachmals Finanzminister unter US-Präsident Jimmy Carter, nachmals Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Berlin, erinnert sich, bei seinem Onkel Arthur Eloesser sehr viele Bücher gesehen zu haben. Kinderaugen ist vieles größer, weiter, mehr als es zeitgleich oder später Erwachsenenaugen wahrnehmen. Auch die eigenen Augen registrieren den Unterschied regelmäßig mit Erstaunen, wenn sie wieder sehen, was sie einst sahen. Blumenthal wird am 3. Januar 2025 99 Jahre alt, auch sein Vater Ewald (1889 – 1990) ist sehr alt geworden, die Aussichten stehen also nicht schlecht für ihn. Die Wahrscheinlichkeit, dass Blumenthal die vielen Bücher in der Eloesser-Wohnung Lietzenseeufer 1 sah, ist höher als die, dass noch von der Dahlmannstraße 29 die Rede ist. Andererseits ist für den 28. Juli 1933 die Versteigerung eines Teils, eines Großteils, kann man auch lesen, der Bibliothek Eloessers durch das Auktionshaus Max Perl dokumentiert. Verkauft einer vorsorglich, weil er weiß, in der neuen Wohnung wird der Platz nicht reichen, oder verkauft er, nachdem er in der neuen Wohnung seine Bücherkisten nicht einmal mehr auspacken konnte? Die überlieferte Auktionsliste verzeichnet mehr als 4000 Titel. Leider kursieren zwei Umzugsdaten: Dezember 1932 und Dezember 1933. Ich plädierte bisher stets für 1933, sehe nun aber in der sehr ausführlichen Biografie von Margarete Eloesser (https://arthureloesser.de) deutlich das Jahr 1932.
Rein logisch spricht mehr für das Jahr 1933, denn erst dieses brachte zu möglichen wirtschaftlichen Überlegungen der Familie, die wegen ihrer erwachsenen Kinder auf jeden Fall weniger Platz brauchte, auch den von Beginn an vorhandenen und sich mit böser Kontinuität schnell steigernden antisemitischen Druck. 1933 brachte immerhin noch keinen Totalausfall aller bisherigen Einnahmequellen: die Vossische Zeitung erschien das komplette Jahr über und nahm Arthur Eloesser, der immerhin seit 1899 zum Mitarbeiter-Stamm gehörte, sehr lange sogar fest angestellt, noch regelmäßig Artikel fürs Feuilleton ab. 1934 änderte sich die Situation schlagartig: mit dem 31. März 1934 stellte die uralte Vossische Zeitung ihr Erscheinen endgültig ein. Nach Eloessers 64. Geburtstag am 20. März 1934 erschien von ihm nur noch ein letzter Beitrag, überschrieben „Der Staatsgedanke in der deutschen Dichtung“, eine Buchkritik, die den Titel des besprochenen Buches von Johann Georg Sprengel aufnahm: „Der Staatsgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Gegenwart“. Der Beitrag war am 25. März 1934 in der Nummer 72 des Blattes zu lesen, es war der Palmsonntag des Jahres, eine Woche später gab es die Vossische Zeitung nicht mehr. Mit dem Nachweis dieser Veröffentlichung ist die mehrfach zu lesende Behauptung entkräftet, Eloessers letzter Beitrag für diese Zeitung sei das Porträt Anna Luise Karschs gewesen.
Insgesamt sechsmal noch konnten im ersten Quartal 1934 die immer weniger werdenden Leser des Traditionsblattes, das bereits 1933 immer wieder unter massivem Druck auf die Abonnenten und die Redaktion zu leiden hatte, das ihnen möglicherweise sehr vertraute Kürzel A.E. sehen, das Arthur Eloesser seit Anbeginn seiner Tätigkeit für die Vossische Zeitung nutzte. Es ist also auf keinen Fall als eine Tarnung zu deuten, wenn ab Mai 1933 nur noch das Kürzel zu lesen war, es hätte ansonsten ein ganz anderes Kürzel sein müssen. Fünf der sechs letzten Beiträge waren Buchkritiken, als Theaterkritiker trat Eloesser 1934 erst wieder in Erscheinung, als er für die „Jüdische Rundschau“ zu arbeiten begann. Für die hatte er vor 1933 nie gearbeitet, sein Name aber war deren Lesern bisweilen begegnet, wenn über ihn geschrieben wurde, wenn er auch nur in diesem oder jenem Zusammenhang genannt wurde. 1934 dürfte er sich aber volle Aufmerksamkeit erschrieben haben. In den Heften 47 und 48 der „Jüdischen Rundschau“, Erscheinungsdatum 12. Juni und 15. Juni, war der Bericht von seiner ersten Palästina-Reise zu lesen, den der Antiquar und Verleger Horst Olbrich 2020 neu als schmales Büchlein herausbrachte. (Vgl. meine ausführliche Betrachtung dazu unter http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4309-arthur-eloesser-palaestina-reise-1934). Die zweifelsfrei wichtigste Publikation des Jahres 1934 aber waren natürlich die „Erinnerungen eines Berliner Juden“ in insgesamt acht Fortsetzungen vom 21. September bis 16. November.
Diese Erinnerungen haben neben ihrer hoch zu veranschlagenden Bedeutung für die Biografie Eloessers selbst eine zusätzliche, je nach Blickwinkel sogar wichtigere Bedeutung für das Selbstbild jener nicht kleinen Gruppe deutscher Juden, die so assimiliert, so emanzipiert waren, dass ihnen ihr Judentum gar nicht bewusst oder auch nur ohne weitere Bedeutung war. Das System des deutschen Nationalsozialismus mit seinem programmatischen und tief verwurzelten Antisemitismus erzwang jüdisches Bewusstsein, jüdisches Bewusstwerden in einer Art von Schnelldurchlauf, öffnete den Zugang zu vorhandenen, aber stets ausgeblendeten Erinnerungen, Emotionen, es schuf, könnte man etwas pathetisch sagen, Juden, die vorher gar keine waren: nicht in der Sicht ihrer Umwelt, nicht in ihrer eigenen Sicht. (Vgl. dazu von mir: http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/4509-arthur-eloesser-erinnerungen-eines-berliner-juden). Wenige Tage nach dem Erscheinen der Erinnerungen durfte Arthur Eloesser schon einen Leserbrief registrieren, der, wie im nichtjüdischen Leben sonst und auch, einen Fehler öffentlich machte: Felix Hollaender sei nicht, wie behauptet, in Ratibor geboren, sondern im oberschlesischen Leobschütz. Der promovierte Leserbriefschreiber hatte natürlich recht: Eloessers verehrter, etwas älterer Kollege (als Kritiker, Dramaturg, Regisseur) ist am 1. November 1867 in Leobschütz geboren, Eloesser besprach einen seiner frühen Romane.
Nach dem Aus für die Vossische Zeitung, die im Vorjahr immerhin noch vermeldet hatte, dass der Dr. Arthur Eloesser Mitglied des ehrenamtlichen Vorstandes des neu gegründeten Jüdischen Kulturbundes sei, dabei erstmals (und letztmals) noch einmal seinen vollen Namen ausschreibend, aber seine Vergangenheit und Gegenwart im Blatt und für das Blatt nicht erwähnend, gewann seine Tätigkeit im Kulturbund sehr schnell Nachrichtenwert für die (noch) vorhandene jüdische Medienlandschaft. Vorträge wurden angekündigt, von seinen Vorträgen wird berichtet. In den letzten Monaten des Jahres erscheinen Vorausblicke auf 1935. Zum Beispiel sollte im Jüdischen Lehrhaus Berlin (Freie Jüdische Volkshochschule e.V.) eine Arbeitsgemeinschaft „Jüdische Biografien“ ihre Tätigkeit aufnehmen, erster Termin sollte der 13. November 1934 sein. Dabei ist es heute schwierig nachzuverfolgen, welche Vorträge und Veranstaltungen Eloesser tatsächlich hielt, wie oft sie aber auch nicht stattfinden konnten oder durften. In den letzten Lebensjahren Eloessers (nicht 1934) finden sich öfter Hinweise auf gesundheitliche Gründe. Ein Almanach 1934 – 1935 des Kulturbundes mit Eloesser als Mitautor ist dreifach angekündigt: im Oktober noch für November, im November immer noch für Ende des Monats, im Dezember dann schon für Ende Dezember. Auch zur Palästina-Reise gab es Vortragsankündigungen in den Monatsblättern des Kulturbundes.
Die melden dann in ihrer Januar-Nummer, der Almanach sei soeben erschienen, sehr groß ist die Verzögerung also dann doch nicht gewesen. Von Arthur Eloesser stammt der Beitrag „Von jüdischer Schauspielkunst“ (S. 30 – 34), der natürlich noch 1934 geschrieben wurde. Im Doppelheft 6/7 vom September 1934 kündigt „Der Morgen“, die Monatsschrift der Juden in Deutschland, für das kommende Jahr 1935 gleich mehrere Beiträge von Eloesser an. Doch weder 1935 noch 1936 erscheinen dort solche, 1936 veröffentlicht Hilde Cohn ihre Besprechung des Eloesser-Buches „Vom Ghetto nach Europa“ und erst 1937 findet sich wieder eine Buchkritik von ihm selbst dort, sie ist zugleich die letzte im „Morgen“. Den Film „Das neue Palästina“ begleitete er offenbar mehrfach mit einer Einleitung oder Einführung. Die „Jüdisch-liberale Zeitung“ kündigte am 5. Oktober 1934 eine kleine Vortragsreise Eloessers an, die ihn nach Aachen, Wuppertal, Essen, Gelsenkirchen und Recklinghausen führen sollte. Ob und mit welchem Erfolg sie tatsächlich stattfand, vermag ich mit meinem gegenwärtigen Kenntnisstand nicht zu sagen. Erschlossene jüdische Medien des Jahres haben jedenfalls keinerlei Berichte zu diesen Vorträgen gedruckt. Die Vortragstätigkeit innerhalb des Jüdischen Kulturbundes wäre auf alle Fälle ein lohnendes eigenes Thema, sie endete erst 1937 mit dem formalen Verbot aller weiteren Auftritte Eloessers durch die Gestapo-Dienstelle Darmstadt.
Ins Jahr 1934 fällt auch Eloessers Mitarbeit an „Elseviers geillustrated Maansblad“, er benutzt für das holländische Blatt das Pseudonym Marius Daalmann, das gern mit der Dahlmannstraße in Verbindung gebracht wird, in der er lange wohnte, obwohl es bei einem Historiker wie ihm ja näher läge, an den Namenspatron der Straße zu denken, an Friedrich Christoph Dahlmann (13. Mai 1785 - 5. Dezember 1860). Straßen mit den Namen anderer Historiker liegen im Umfeld des Viertels: die Niebuhrstraße, die Mommsenstraße. Mit Heinrich von Kleist war dieser Dahlmann Zeuge der Schlacht bei Aspern, Eloesser wiederum viel beachteter Autor einer kleinen Kleist-Biographie. Es lassen sich also gut andere Anregungen denken als ausgerechnet die eigene Wohnadresse. Die letzten Arbeiten für die Vossische Zeitung belegen Eloesser exponiert historisches Interesse. Das neue Buch des berühmten französischen Autors André Maurois bespricht er unter der Überschrift „Eduard VII. und seine Zeit“. „Man kann Geschichte nicht lebhaft, nicht einprägsam darstellen, ohne auch Geschichte zu erzählen.“ Schreibt der Kritiker und charakterisiert eher den bedeutenden Historiker als seinen diesmaligen Gegenstand, den englischen König, dessen Statue jeder Besucher von Marienbad beispielsweise gezeigt und erläutert bekommt, wenn er an einem Stadtrundgang teilnimmt. Maurois-Bücher sind nach 1945 im Westen Deutschlands gleich reihenweise erschienen.
Einem Buchtyp wie „Frauen um Dichter“ von Eduard Thorn (9. Mai 1887 – 1. Juli 1964) wünschte Eloesser am 28. Januar 1934 in der Vossischen Zeitung, sein möglichst baldiges Ende. „Man kann also mit den Dichtern, mit den Frauen um sie und mit den Dingen um sie nicht gemütlicher verkehren. Das Buch gibt uns die Hoffnung, daß es in dieser Hinsicht unübertrefflich, in diesem Realismus unüberbietbar, ein letztes sein wird aus dieser literarischen Hausindustrie des Zettelkastens.“ Die sich, das wissen wir heute, als zählebig erwiesen hat. „Unsere Mütter und Tanten bekamen das geschenkt, um ihr Gefühlsleben zu kultivieren, um ihre Bildung aufzubessern, wobei man sich zugleich die Lektüre der Dichtungen selbst ersparen konnte.“ Solche Mütter, solche Tanten, sterben nie aus, auch wenn sie sich vegan ernähren und gern ihr Gesicht zeigen, wenn es sie nicht in Gefahr bringt. „Hier lesen wir, daß er sich als Bräutigam einen Schnupfen holte, und daß seine Witwe im Weimarer Park mit ihrem Mops spazieren ging.“ Das meinte Schiller. Was Thorn sonst noch über Lichtenberg, Bürger, Wieland, Mörike und Gottfried Keller schrieb, auch über „Bettinens Herz“, möge sehr Neugierigen an selbiges gelegt werden, Eloesser hat fast jeden Fall treffend kommentiert. „Mörike wohnte, wie wir hören, in Nußbaummöbeln“, das muss hier reichen, aber am 4. Juni kommenden Jahres darf Eduard Mörikes 150. Todestag würdiger begangen werden.
Auch der dritte Beitrag für die Vossische Zeitung stand in der „Literarischen Umschau“, Überschrift „Ein sinkendes Reich“. Die Besprechung bezog sich auf das Buch: „Ein sinkendes Reich: Erlebnisse eines deutschen Diplomaten im Orient 1877 – 1879“, Berlin Mittler 1934, 328 Seiten. Autor: Ludwig Alfred Raschdau (29. September 1849 – 19. August 1943), Diplomat, Jurist und Präsident der Deutsch-Asiatischen Gesellschaft. Eloesser notiert einen schönen Zug des Autors: „Der Verfasser selbst ist den Ereignissen am wenigsten böse, wenn sie seinen Voraussichten widersprechen“. Da soll es doch immer wieder einmal ganz andere Vorausseher gegeben haben. „Nachlaß von Anton Wildgans“ ist der vierte Beitrag des Jahres überschrieben, gedruckt in der Literarischen Umschau Nummer 48 der Vossischen Zeitung vom 25. Februar 1934, Seite 28. Wildgans (17. April 1881 – 3. Mai 1932) war zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Jahre tot. Eloesser bespricht ein von der Witwe herausgegebenes Buch mit dem angeblichen Titel „Ich bete und bekenne“. Dass dieser Buchtitel falsch ist, merkt man erst, wenn man nach ihm sucht. Es heißt tatsächlich: „Ich beichte und bekenne. Aus dem Nachlasse herausgegeben von Lilly Wildgans“, 1933 im Leipziger Verlag L. Staackmann erschienen, 263 Seiten stark. Auch Kritiker sind, wen wundert das, fehlbar. Für Anton Wildgans wäre mehr Platz nötig, der hier nicht passend scheint.
Im letzten der deutlich über tausend Beiträge, die Arthur Eloesser seit 1899 für die Vossische Zeitung verfasst hat, im schon erwähnten „Der Staatsgedanke in der deutschen Dichtung“, steht ein Satz, der vor gar nicht so langer Zeit vermutlich niemandem auffällig geworden wäre. Er lautet sehr schlicht: „Die Wahl dieses Themas, besonders in der heutigen Zeitenwende, ist an sich ein Verdienst.“ Für eine Zeitenwende, die aus Grünen Kriegsbefürworter macht, die vermeintlich ernst zu nehmenden Köpfen Behauptungen entlockt wie „Der Frieden ist nicht mehr das höchste Gut!“, muss also nicht erst ein Putin (hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?) die Ukraine überfallen, es reicht schon ein Hitler, der die Zeiten wie einen Eierkuchen in der Pfanne wendet. „Der deutsche Dichter mit einer scharfen, fordernden Staatsidee ist vor unseren Tagen eigentlich eine Seltenheit, vor allem seltener als der opponierende Polemiker.“ Das ist kein Lob des Dichters aus Arthur Eloessers Mund, um das klarzustellen. Zu Anna Luise Karsch, der Karschin, bemerkte er: „Manche Menschen kommen nur mit einem einzigen Augenblick ihres Lebens, oder mit einer Anekdote, die sogar wahr sein darf, auf die Nachwelt.“ Diesen Augenblick zu erkennen, diese womöglich wahre Anekdote ernst zu nehmen, ist Arthur Eloesser nie müde geworden. 1934 hatte er noch Kraft genug, sich gegen eine Emigration nach Palästina zu entscheiden, dem Sohn folgend.