Charles Dickens: Detektivgeschichten
Seit dem 4. Juli 2011 habe ich „Bleak House“ im Netz stehen, in meiner Rubrik „Reise-Lob“, eine kleine Reminiszenz an Spurensuchen und Spurensichten in der englischen Grafschaft Kent, ausgelöst durch die Nachricht, jenes Haus über der Küste stehe zum Verkauf. Meine natürlich naive Hoffnung, der heutige 200. Geburtstag von Charles Dickens veranlasse vielleicht eine andere Lösung, hat sich nicht erfüllt, jedenfalls war nirgends davon zu lesen. Ich aber las, weil mir momentan die Zeit für die dicken Brocken fehlt, das schmale Büchlein „Detektivgeschichten“. Ach, wie schön ist es, in solchen alten Sachen zu lesen, die so wenig passen in alle Schemata, nach denen derzeit bejubelt oder verdammt wird. Hier ist wahrscheinlich sogar die Übersetzung mäßig bis mittelmäßig. Einige Sätze sind zu lang, mehrere zu umständlich. Und die Idee, für deutsche Leser die Preisangaben in Mark zu beziffern, ist schlicht albern.
In Zeiten, da der Ostschlapphut mittels eigener Behörde zum Bewussthaltungszwecke als der Böse schlechthin gilt, der Gesamtschlapphut wegen seltsamer Aufklärungspannen noch keine eigene Behörde, wohl aber bereits mehrere Untersuchungsausschüsse auf sich gezogen hat, wobei zu klären bleibt, ob die Rufer nach immer neuen Ausschüssen am Erfolg mittels Sitzungsgeldern eigens beteiligt sind, in diesen Zeiten haben „Detektivgeschichten“ wie die von Dickens etwas Skurriles. Denn hier handelt es sich nicht um Detektive, wie wir sie kennen, falls wir der Kriminalliteratur und/oder dem Kriminalfilm anhängen. Weder sitzen diese in verqualmten Büros, die Füße auf dem Schreibtisch, noch lauern sie fröstelnd mit Pappbecherkaffee und Teleobjektiv hinter Autoscheiben, um verwertbare Dinge zu belichten. Diese Detektive sind Angehörige von Scotland Yard, Abteilung Geheimpolizei, und sie haben merkwürdige Gewohnheiten und tun merkwürdige Dinge für die Öffentlichkeit.
Dickens, der etliche Jahre Herausgeber und Schriftleiter eines Blattes namens „Household Words“ war, erhielt Redaktionsbesuch von namhaften Detektiven und deren Mitarbeitern in seinem Herausgeberbüro und die Herren erzählten lange und ausgiebig und mit einem Humor, den man in geheimpolizeilichen Kreisen als letztes vermutet, von ihren erfolgreichen Fällen. Anders als heute unsere knochenharten Investigativlöwen stellten weder der Boss noch seine beisitzenden Kollegen wundpunktfreilegende Fragen an die Selbstdarsteller und so bleibt schließlich der Eindruck, dass das alles eigentlich ein saufröhliches und mitunter höchst komisches Metier sei. Man liegt zum Zwecke des Fassens eines Kameradendiebs unter Studierenden stundenlang bäuchlings unter einem Sofa, man tarnt sich als arbeitsuchender Fleischhauer and so on. Kommissar Zufall, der heute als eher peinlicher Kollege gilt, hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts sagenhafte Aufklärungserfolge und auch davon gibt Dickens seiner Leserwelt Proben.
Vor vielen vielen Jahren schrieb ein englischer Romantheoretiker und Literaturhistoriker namens Ralph Fox einmal dies: „So ist Dickens, der ein gewisses Recht darauf hat, als der letzte bedeutende englische Romanschriftsteller großen Stils betrachtet zu werden, dennoch gescheitert, wenn man ihn danach beurteilt, was man von seinem Können hätte erwarten dürfen. Er besaß Phantasie, aber keine Poesie; Humor, aber keine Ironie; Empfindsamkeit, aber kein Gefühl; er gab ein Bild seines Zeitalters, aber er verlieh seinem Zeitalter keinen Ausdruck; er schloß mit der Wirklichkeit einen Kompromiß, aber er schuf keine neue Romantik.“ Fox war vermutlich sehr stolz auf diesen seinen schönen apodiktischen Satz, aus dem wir erfahren, wie der Wunschautor aussehen würde, den England aus unerfindlichen Gründen bis heute einfach nicht hervorgebracht hat.
Dickens war ein Autor, der für den Markt schrieb. Dem Markt kann kaum Besseres geschehen als wenn Große für ihn schreiben, die Kleinen tun es ohnehin und das ist dann auch meist danach. Man darf aber selbst in Zeiten, als es noch den Markt gab und nicht wie heute die Märkte, nicht mehr erwarten als erwartbar ist. Die Berliner Zeitung, die vor 25 Jahren meinen Artikel zum 175. Geburtstag von Charles Dickens druckte, den ich heute ebenfalls neu ins Netz stelle, hat eben das Jubiläum zum Anlass genommen, auf etwas aufmerksam zu machen, das ich statistisch nicht nachprüfen kann, aber einmal einfach glauben möchte. Unter der Überschrift „Filmpionier auf dem Papier“ verrät Autor Gerhard Midding, dass Dickens „der erste und zugleich der meistverfilmte Romanautor der Kinogeschichte ist“. Heute würde der Autor, der mit nur 58 Jahren an einem Tag starb, der 106 Jahre später zum Tag meiner Hochzeit wurde, Filmrechteverträge bekommen, die immer im siebenstelligen Bereich lägen.
Ob er mit seinen Detektivgeschichten, die bei genauerer Betrachtung eigentlich eher Sozialreportagen aus dem London der frühvictorianischen Zeit sind und in manchen Zügen noch bei Jack London und seinen „Menschen der Tiefe“ wiederkehren, heute auch den großen Erfolg hätte, darf allerdings bezweifelt werden. Inspektor Field und Kollegen haben schon in ihren Nachfolgern Sherlock Holmes und Dr. Watson deutlich konturiertere Züge und ein amerikanischer Zeitgenosse namens Edgar A. Poe schrieb fast zeitgleich Texte, in denen es tatsächlich um Mord ging und nicht lediglich um die Reinigung von Handschuhen, die unter dem Kopfkissen einer ermordeten Frau gefunden wurden wie halt bei Dickens. Vladimir Nabokov, der entgegen anders lautenden Grundüberzeugungen der Nachwelt nicht nur „Lolita“ geschrieben hat, meinte: „Trotz gewisser Mängel seiner Erzählweise bleibt Dickens ein großer Schriftsteller. Seine wunderbare Auseinandersetzung mit „Bleakhaus“ beendet Nabokov so: „Die Welt eines großen Autors ist recht besehen eine magische Demokratie, in der auch Randgestalten, und seien sie noch so unbedeutend, wie der Mann, der sein Zwei-Pence-Stück in die Luft wirft, ein Recht auf Leben und Fortpflanzung haben.“ Das ist ein gutes Schlusswort.