Stefan Zweig: Der verwandelte Komödiant

Zu den Büchern, die ich stets nur, und das immer noch selten genug, mit äußerster Vorsicht in die Hand nehme, gehört „Kainz und Matkowsky“ von Julius Bab. Es erschien 1912 im Berliner Verlag Oesterheld & Co., gedruckt in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig, und ist 105 Jahre später vom akuten Zerfall bedroht, schlägt man es etwas forscher auf. Vorn trägt es eine Widmung für Dora Wentscher, mit zarter Feder geschrieben, hinten wirbt es für Siegfried Jacobsohn und dessen „Das Jahr der Bühne“ sowie für „Der fröhliche Eselsquell“, dessen Verfasser seltsamerweise nur in den zitierten Kritiken genannt wird: Theodor Lessing. Man kann das Buch mit originaler Widmung für den Wiener Rechtsanwalt Ernst Broda vom Januar 1912 derzeit in einem Antiquariat für knapp 300 Euro erwerben. Für alle anderen Interessenten, die überrascht sind, dass Lessing auch einmal ein Mann des Theaters war, bevor er mit „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ seine größte Wirkung erzielte, hat der Wallstein Verlag Göttingen seine „Nachtkritiken“ gesammelt. Wie sind wir doch gleich darauf gekommen? Ach ja, Kainz und Matkowsky. Das waren seinerzeit die beiden berühmtesten Schauspieler deutscher Zunge und auf besondere Weise mit Stefan Zweig verbunden.

Das einfachste ist, Zweig selbst zu Wort kommen zu lassen, denn alle entscheidenden Aussagen zur Sache haben Biographen und Kommentatoren ohnehin nur aus dessen Lebensrückblick „Die Welt von gestern“ entnommen und mit eigenen Worten paraphrasiert. Also, es findet sich der Abschnitt dazu im Kapitel „Umwege auf dem Wege zu mir selbst“, in den verschiedenen Ausgaben der „Erinnerungen eines Europäers“ also leicht aufzusuchen. Zweig erzählt, wie er nach einer Lebensphase ausgedehnten Reisens erste vorsichtige Sesshaftigkeit in Wien erstrebt, in der Wiener Vorstadt, um es nicht gleich zu übertreiben und auch die Kosten in Grenzen zu halten, er schreibt schwelgerisch von seiner Sammlerleidenschaft für Autographen und kommt dann auf sein eigenes Verhältnis zu Drama und Theater zu sprechen. Richard Friedenthal, der große Goethe-Biograph, hat als Herausgeber von „Die Dramen“ (S. Fischer Verlag) von Zweig am Ende seines knappen Geleitwortes geschrieben: „So schwebt über der ganzen Arbeit Zweigs für das Theater ein Unstern.“ Und vorher schon: „Mit jedem seiner frühen Stücke ereignete sich ein Unglück“. Just dieses Unglück hat Stefan Zweig in gewisser Weise nach allen Regeln der Kunst abergläubisch gemacht.

Zunächst geht es um Zweigs „Thersites“, ein Versdrama im Stile der Zeit, von Zweig selbst auf Sommer 1905 oder 1906 datiert im Rückblick. „Zu meiner großen Überraschung teilte mir der Direktor Ludwig Barnay, vormals einer der größten deutschen Schauspieler, mit, das Stück habe ihm stärksten Eindruck gemacht und sei ihm besonders deshalb willkommen, weil im Achill endlich die lang gesuchte Rolle für Adalbert Matkowsky gefunden sei; er bitte mich also, die Erstaufführung dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin zu übertragen. Ich erschrak beinahe vor Freude.“ Ludwig Barnay (11. Februar 1842 – 31. Januar 1924) hatte 1906 die Leitung des Hauses übernommen. Adalbert Matkowsky (6. Dezember 1857 – 16. März 1909) war seit 1889 so etwas wie der Superstar des Hauses am Gendarmenmarkt. Einen besseren Start also konnte sich ein junger Dramatiker kaum wünschen. Zweig rückblickend: „Aber sich nie einer Aufführung erwartungsvoll zu freuen, ehe sich nicht wirklich der Vorhang hebt, habe ich seitdem gelernt.“ Erst kommt ein Telegramm: Matkowsky erkrankt, dann die Nachricht: Matkowsky gestorben, in den Zeitungen. „Meine Verse waren die letzten gewesen, die seine wunderbar beredten Lippen gesprochen.“

„Aber da kam eine noch verblüffendere Nachricht: ein Freund weckte mich eines Morgens, er sei von Josef Kainz gesandt, der zufällig auf das Stück gestoßen sei, und darin eine Rolle für sich sehe, nicht den Achill, den Matkowsky hatte darstellen wollen, sondern die tragische Gegenrolle des Thersites. Er werde sich sofort mit dem Burgtheater in Verbindung setzen.“ Nur hatte Josef Kainz (2. Januar 1858 – 20. September 1910) bei Paul Schlenther in Wien (20. August 1854 – 30. April 1916) kein Glück. „… er schrieb mir sofort, er sehe wohl das Interesssante in meinem Drama, leider aber nicht die Möglichkeit eines über die Premiere hinauswirkenden Erfolges.“ Während Zweig das, behauptet er jedenfalls im Rückblick, mit Fassung ertrug, ging es Kainz anders. Kainz, der seine überaus erfolgreiche Laufbahn am Meininger Hoftheater begonnen hatte, Kainz „dagegen war erbittert. Er lud mich sofort zu sich ein; zum erstenmal sah ich den Gott meiner Jugend, dem wir als Gymnasiasten am liebsten Hände und Füße geküsst, vor mir, biegsam der Körper wie eine Feder, geistvoll und von herrlichem dunklen Auge beseelt noch im fünfzigsten Jahr.“ Und dieser Mann, dieser Bühnengott, hatte an den fassungslosen Stefan Zweig eine ganz persönliche Bitte.

„… und zwar: er sei jetzt viel auf Gastspielen und habe dafür zwei Einakter. Ein dritter fehle ihm noch, und was ihm vorschwebe, sei ein kleines Stück, womöglich in Versen und am besten mit einer jener lyrischen Kaskaden, wie er sie – einzig in der deutschen Theaterkunst – dank seiner grandiosen Sprechtechnik, ohne Atem zu holen, in einem Guss kristallen niederstürzen lassen konnte auf eine selbst atemlos lauschende Menge. Ob ich ihm nicht einen solchen Einakter schreiben könnte.“ Klar, dass Zweig hier spätes Gesamturteil über sein frühes Idol mit dessen tatsächlicher Rede ineinanderschiebt, denn schwerlich kann Kainz so über sich selbst und seine Wirkungen auf sein Publikum gesprochen haben. Immerhin: jetzt entsteht „Der verwandelte Komödiant“, Untertitel in der endgültigen Fassung „Ein Spiel aus dem deutschen Rokoko“. Zweig selbst nennt es „ein federleichtes Spiel“ und weiter „mit zwei eingebauten großen lyrisch-dramatischen Monologen“. „Unwillkürlich hatte ich bei jedem Wort aus seinem Willen heraus gedacht, indem ich mich mit aller Leidenschaft in Kainzens Wesen und selbst Sprechweise hineinfühlte“. Zweig schrieb, er hat es später auch selbst so gesagt, Kainz die Rolle auf den Leib.

Und die Bewertung in der Rückschau des Emigranten: „… so wurde diese gelegentliche Arbeit einer jener Glücksfälle, wie sie nie bloße Handfertigkeit, sondern einzig Begeisterung verwirklicht.“ Kainz sei, so Zweig, von der ihm vorgelegten Skizze mit einer schon halb fertigen „Arie“ durchaus begeistert gewesen. Einen Monat brauche er noch, gab Zweig zur Antwort auf die Frage des Schauspielers an, der freute sich, weil er ohnehin auf Gastspielreise gehen wollte gerade, „nach seiner Rückkehr müssten sofort die Proben beginnen, denn dieses Stück gehöre ins Burgtheater.“ Wieder eine Aussicht, die man gern eine glänzende nennt. Doch als Zweig Kainz im Hotel Sacher besuchen möchte, hört er, der sei schwer krank von der Gastspielreise zurück gekehrt. Zweig besucht ihn nach dessen Krebsoperation und sieht: „Er lag müde da, abgezehrt … ich sah einen alten, einen sterbenden Mann.“ Man muss ihm folgen, wenn er nun für sich festhält: „Dass die beiden größten Schauspieler Deutschlands gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich, ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch. Dass noch zwei weitere dazu passende Tode in Zweigs Dramatikerleben fallen, gehört nicht mehr zum Einakter.

Von dem waren, es soll hier nicht im Detail dokumentiert werden, namhafte Zeitgenossen sehr angetan, Rainer Maria Rilke dabei, Hermann Bahr dabei, auch Paul Zech, mit dem Zweig seit 1910 im Briefwechsel stand. Doch nicht in Wien wurde es uraufgeführt, sondern in Breslau, dessen Theater dazumal einen sehr guten Ruf in ganz Deutschland genoss und schließlich den Namen Lobe-Theater erhielt, nach Theodor Lobe (8. März 1833 – 21. März 1905), der es begründet hatte, selbst Schauspieler, Regisseur und auch Theaterleiter gewesen war. Die prächtigen alten Theaterbauten sind nur noch auf zeitgenössischen Postkarten zu besichtigen. Richard Friedenthal vermeldet lakonisch: „Das Spiel ging dann über 180 Bühnen im In- und Ausland.“ Das ist, gern gestehe ich es, heute kaum noch vorstellbar. Georg Hensel hat in seinem immerhin 1740 Seiten starken Schauspielführer „Spielplan“ für den Dramatiker Stefan Zweig keine einige Zeile übrig. Günther Rühle nennt in seinen 1283 Seiten „Theater in Deutschland 1887 – 1945“ wenigstens den Namen viermal, von den Stücken Zweigs jedoch nur den „Jeremias“, der am 27. Februar 1918 im Stadttheater Zürich seine Uraufführung erlebt hatte. Nachruhm sieht deutlich anders aus.

Man möchte meinen, dass ein Stück, welches einem bestimmten Darsteller eine Hauptrolle auf den Leib schreibt und zudem nur als Ergänzung für einen Einakter-Abend mit schließlich drei Einaktern dienen soll, nicht zwingend auch noch eine bedeutende Fabel haben muss. Die klingt dann auch halbwegs neckisch-verspielt, wenn man sie knapp wiedergibt: Eine wandernde Theatertruppe ist in der Residenzstadt eines Fürsten eingetroffen und spielt dort ausgerechnet Shakespeare. Der ist, sein Name fällt in den acht Auftritten des Einakters nicht ein einziges Mal, das krasse Gegenstück zu dem, was an den frankophilen Höfen deutscher Rokoko-Fürsten in Mode war. Das Publikum ist folglich den Mimen nicht eben dankbar. Nun sucht ein junger Komödiant eine Gräfin auf, die offenbar die Favoritin des Fürsten ist, um von ihr Fürbitte und Huld zu erlangen. Der Mime schmeichelt heftig, doch die Dame ist zunächst durchaus wenig geneigt, ihm entgegen zu kommen. Dann aber stört sie ein Chevalier, den sie am liebsten gar nicht sehen möchte, der ihr den Hof macht und der dem Fürsten so sehr ein Dorn im Auge ist, dass er ihn in auswärtige Dienste schicken will. Als unerwartet der Fürst auf dem Weg zur Jagd im Wagen vorfährt, rettet der Komödiant die Gräfin.

Er rettet sie aus einer prekären Lage, der Chevalier steht hinter einer aufgeklappten Flügeltür wie in einer echten Bühnenklamotte, in der die potentiellen Liebhaber in Truhen oder Schränken versteckt werden. Er deklamiert unter Einsatz all seiner Fähigkeiten und, was fast noch wichtiger ist, ohne sich unterbrechen zu lassen und überhaupt von dem eintretenden Fürsten Notiz zu nehmen, aus Shakespeares „Julius Cäsar“. Am Ende des Personenverzeichnisses hat Stefan Zweig angegeben, für die betreffenden Monologe auf die erste deutsche Übersetzung der Tragödie zurückgegriffen zu haben. Es ist jene, die Kaspar Wilhelm von Borcke (30. August 1704 – 8. März 1747) 1741 veröffentlichte, Borcke übertrug in deutsche Alexandriner, ein Versmaß, das bald in Verruf geriet vor allem bei Bühnenpraktikern. Im Einakter aber, in dem ja nun einmal eigentlich Josef Kainz mit diesen Passagen glänzen sollte, da stehen sie gar nicht so schlecht inmitten der Verse, die Stefan Zweig selbst der Wiener Zeitmode folgend verfasste. In Wien war man halt noch neoklassisch, als in Berlin schon der Naturalismus sich auf dem stark absteigenden Aste befand. Immerhin: der junge Komödiant fesselt Gräfin und Fürst dermaßen, dass nicht nur der Chevalier entschlüpfen kann.

Der Fürst ist sogar geneigt, ihn als Unterhaltungssänger für den Umtrunk nach der Jagd anzuheuern, man erfährt, dass am folgenden Tag aller Wahrscheinlichkeit nach noch „Romeo und Julia“ gespielt werden soll. „Der verwandelte Komödiant“ heißt der Einakter deshalb, weil er im Verlauf der acht Auftritte aus fast sprachloser Verlegenheit zu einem hochfliegenden Selbstbewusstsein findet, das fast schon wieder gegen ihn zu sprechen droht, denn der Eifer und die Begeisterung über sich selbst bringen ihn so weit, dass er sich sogar schon einbildet, die Gräfin zu lieben und ihr das auch zu verstehen gibt. Die ist zum Glück vernünftig genug, ihn mit einem Satze zurück auf den Teppich zu holen: „Wie ungeduldig sind doch zwanzig Jahre! / Mit dreißig achtet man nicht mehr der Frauen, / Die sich dem Ruf der ersten Stunde schenken.“ Von der Gräfin merkt Stefan Zweig selbst an: „Sie dürfte im Übergang von der ersten Jugend sein.“ Das ist insofern seltsam, als er als Autor ja die Deutungshoheit über seine Figuren hat, er darf schon festlegen wie alt sie sind. Was die Naturlisten mit ihren Aussagen zu Haar- und Augenfarben ihrer Akteure zu viel taten, tut Zweig so zu wenig. Letztlich ist das aber kaum bühnenrelevant, es liegt an der Darstellerin, jünger oder älter zu wirken.

Was der namenlose junge Komödiant verstanden haben will am Ende seines Auftrittes, der den Misserfolg des „König Lear“ am Vorabend vergessen machte, sagt er so: „Jetzt hab‘ ich erst verstanden, / Was dieses ist, ein Künstler sein: die Welt // An ihren Angeln fassen können und / Ihr dann den Schwung der eig’nen Kraft zu geben.“ So hoch veranschlagte Stefan Zweig die Wirkungsmacht von Kunst und Künstler später nie wieder, auch deshalb hätte der Einakter auf heutiger Bühne wohl hauptsächlich verständnisloses Kopfschütteln als Reaktion zu erwarten. Auch die Gräfin hat nämlich Teil daran: „Ich liebe sehr die Kunst. Nur sie allein / Kann unsres deutschen Volkes Barbarei / Und rauhe Sitten meistern und erheben.“ Dagegen hat der Komödiant wiederum eine Anforderung für Komödianten wohl doch getroffen: „Wer Leben selbst im Spiel verschenken will, / Der muss es tausendfältig in sich fühlen, / Und kann ich dieses nicht, so kann ich nichts.“ Nicht aber mit diesem Selbstbild: „Nun weiß ich es: Ich bin aus dem Geblüt / Der Edelsten der Welt, ich bin ein Künstler.“ Das mag wohl bis heute neun von sieben Künstlern ebenso vorkommen, nur gälte es als extremer Tabubruch, das auch öffentlich und ohne Ironie zu sagen.

Meine sonst gern geäußerte Überzeugung, es wäre an der Zeit, in Zeiten, da Romane über die Bühnen schwappen, als wäre nicht der Buchmarkt von ihnen schon hoffnungslos überfüllt, mal wieder einen zünftigen Einakter-Abend zu inszenieren, kann am vorliegenden Beispiel leider nicht reinen Herzens bekräftigt werden. Der Stefan-Zweig-Freund wird wohl sein Plaisirchen am Text haben, die biographischen Zusammenhänge sind sogar für sich interessant und immer bleibt es gut, an jene zu erinnern, Entschuldigung, denen die Nachwelt angeblich keine Kränze flicht. Paul Zech war es, der der zeitgenössischen Überinterpretation eine Stimme gab: „Aus der fast tragikomischen Tollheit des Stoffes ist eine mehr oder weniger ästhetische Tragödie des Künstlertums überhaupt geworden.“ Der Einakter diente bei Aufführungen in Hamburg und München, Details dazu sind mir leider nicht bekannt, als Vorspiel für Romain Rollands „Ein Spiel von Tod und Liebe“. Sowohl Hermann Bahr als auch Albert Ehrenstein hatten die Idee, Alexander Moissi (2. April 1879 – 23. März 1935) das Stück inszenieren zu lassen. (An Moissis Grabstätte in Morcote stand ich mit mittlerer Ergriffenheit). Die Geschichte Moissi und Stefan Zweig wird hier nicht mehr erzählt.


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