Georg Kaiser: Die Flucht nach Venedig

Niemand hat je, soweit ich es überblicke, die Behauptung gewagt, „Die Flucht nach Venedig“ gehöre in einer Rangliste der Werke von Georg Kaiser nach oben, ganz weit nach oben sogar. Im Gegenteil. Das 1922 entstandene, im Berliner Verlag Die Schmiede zuerst gedruckte und am 9. Februar 1923 in Nürnberg uraufgeführte vieraktige Stück gehört vermutlich zu den erfolglosesten, die Kaiser je schrieb. Und er schrieb nicht wenige Stücke, die in viele Sprachen übersetzt, in vielen Ländern gespielt wurden. Bis 1933 jedenfalls. „Die Flucht nach Venedig“ hat, böse gesprochen, noch nicht einmal mit Venedig besonders viel zu tun. Die Handlung, soweit von einer solchen die Rede sein kann, spielt sich dort ab, es gibt auch mindestens einen Kanal, in den etwas geworfen wird, sonst aber nichts: kein Kolorit, nichts, was irgendjemand sofort mit der Lagunenstadt verbinden würde oder könnte. Das Stück hätte gut auch „Die Flucht nach Winsen an der Luhe“ heißen können, ohne dass an den Dialogen der vier Akte nennenswert etwas hätte geändert werden müssen. Freilich hatte sich Georg Kaiser entschlossen, seine Figuren der realen Geschichte zu entnehmen, wenigstens die Hauptfiguren, aber sehr viel mehr treten ohnehin nicht auf. Mit Folgen.
 
Ich zitiere komplett eine Passage aus seiner 1923 geschriebenen Arbeit „Historientreue“: „Es existiert: Intuition der Fabel und Intuition des Worts. Vor beiden hat sich die Historie zu beugen. Von ihnen empfängt sie erst gnadenvoll ein Recht auf Vorfall. Wenn Flaubert das Unglück hatte, einige Jahrzehnte zu spät aus Ägypten heimzukehren, so beschönige ich das Malheur mit glättenden Händen durch meine nachgesetzte Datierung. Denn dichterisch-sachlich gehört er in die Sphäre der früheren George Sand hinein. Darauf kommt es an; nicht, was sich kalendermäßig ereignet, ist wichtig -, sondern was geistig funktioniert, gilt. Man muss Gefühl für den Kalender haben und ihn zart korrigieren. Wer das Blut eines Wortes klopfen fühlt, merkt, dass nur Flaubert zurückkehren konnte – und aus Ägypten. In diesem Fall kommen mir die Tatsachen so weit entgegen, dass ich statt eines Bruchs nur eine Biegung vorzunehmen brauchte. Der Bruch wäre mir lieber gewesen. Noch ein zweiter solcher Fall ist im Stück: Im ersten Akt wird Mallarmé erwähnt. Hat Mallarmé zu dieser Epoche gelebt? Keineswegs. Aber nach dem Worte Dumas‘ konnte nur der Name Mallarmé geschrieben werden. Man muss das Blut der Worte klopfen fühlen.“ Das verrät viel über Kaiser.
 
Es zeigt seine, gelinde gesprochen, sehr merkwürdige Auffassung von Geschichte. Für Flaubert war es selbstverständlich weder Glück noch Unglück, dass er erst 1851 aus Ägypten zurück nach Paris kam, während sich Alfred de Musset und George Sand, denn um die geht es in den vier Akten, etwa von 1833 bis 1835 liebten und sehr nahe waren. Wenn bei Georg Kaiser George Sand mit dem deutschen Fräulein, das sie begleitet, Hals über Kopf aus Venedig aufbricht, den alten und auch gleich noch den eben erst neu erworbenen Liebhaber zurücklassend, weil ihr Gustave Flaubert einen dringenden Brief schrieb, dann ist das anachronistisch, mehr nicht. Das aber darf Dichtung, darauf hat sie sich mit sich selbst geeinigt spätestens seit Schiller, was wenig dazu half, auch das jeweilige Publikum mit den jeweiligen Anachronismen zu versöhnen. Und auch die Philologie, die ja immer irgendetwas haben muss, worüber sie für die Kollegen schreiben kann, erörtert mit ausdauernder Vorliebe das Verhältnis der Vorgänge auf einer Bühne, in einem Drama oder in einem Roman mit den tatsächlichen Ereignissen, die sich in der Geschichte abgespielt haben. Die Ergebnisse gleichen sich: es gibt ein Sündenregister der jeweiligen Dichter, es gibt Absolution oder keine Absolution.
 
Mit dem Kunstwert der jeweiligen Werke hat das wenig bis nichts zu tun, niemals. Es füllt nur Festschriften und Almanache, Fachblätter und Kongress-Protokolle, also alles, was niemand liest. Um dem tatsächlichen historischen Hintergrund dennoch ein wenig Ehre zu erweisen, zitiere ich Werner Bahner, den Verfasser des Büchleins „Alfred de Mussets Werk“, 1960 in einem lange vor Ende der DDR verschollenen Verlag: VEB Verlag Sprache und Literatur Halle (Saale). Das Büchlein gehört zu einer Reihe, an die ich gern erinnere: „Wege zur Literatur“. Bahner schrieb: „Die erste Begegnung zwischen George Sand und Alfred de Musset hatte Buloz, der Herausgeber der berühmten Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“, arrangiert. Ende August 1833 hatte Buloz seine Mitarbeiter eingeladen, unter denen sich auch George Sand befand. Sie wurde Musset vorgestellt, und Buloz bat ihn, sie zu Tisch zu führen.“ Und so weiter und so heiter. George Sand, die bekanntlich eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil hieß, an die sieben Jahre älter war als Musset, war eine Schönheit, eine der bestverdienenden Autorinnen Frankreichs und Europas, ungeheuer souverän. Buloz soll gesagt haben, „alle Frauenzimmer verlieben sich in ihn, alle Männer verlieben sich pflichtschuldigst in sie, natürlich werden sie sich ineinander verlieben“.
 
Ich zitiere einen Brief, den George Sand am 24. Juni 1833, also noch vor den frühen Tagen ihrer Beziehung, an Alfred de Musset schickte: „Als ich die Ehre hatte, Sie zu sehen, habe ich nicht gewagt, Sie einzuladen, einmal zu mir zu kommen. Ich fürchte noch immer, dass meine ernsthafte Art Sie erschrecken und langweilen wird. Nun, wenn Ihnen eines Tages das Leben beschwerlich vorkommt, Sie das tätige Leben satt haben und Sie die Versuchung überkommt, in meine Einsiedelei einzutreten, werden Sie dort dankbar und herzlich empfangen werden.“ Die Frau lud den Mann ein, das war etwas 1833, denn sie lud ja nicht in einen Salon, in dem ein Gast Gast unter vielen war. Sie lud zu sich. Für Georg Kaiser aber ist das alles vollkommen irrelevant, er braucht eigentlich nur die Konstellation. Dass er sie weniger für sein Stück als für sich selbst brauchte, kann hier nur angedeutet werden. Denn Kaiser selbst hatte eine Flucht hinter sich, die nach Grünheide bei Berlin, wo er anschließend viele Jahre lebte, ehe er ins Exil ging, aus dem er wegen seines frühen Todes am 4. Juni 1945 nicht mehr zurückkehren konnte. Die Autoren des umfänglichen Nachworts der dreibändigen Georg-Kaiser-Ausgabe (Aufbau-Verlag) stellen einen solchen Zusammenhang her.
 
„Mehrfach nimmt Georg Kaiser in seiner dramatischen Produktion Stellung zu seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit als zu einem Problem des künstlerischen Schaffens und der Existenz des Dichters. In „Die Flucht nach Venedig“ (1922) kleidet er das Problem in das Gewand der Vergangenheit.“ So Klaus Kändler und Brigitte Struczyk, die es nicht einmal für nötig ansahen, wenigstens anzudeuten, von welchem Gewand welcher Vergangenheit denn die Rede sei. Immerhin verrieten sie so sehr deutlich ihre eigene Wertschätzung des tatsächlich wenig wertvollen Stückes. In dem nämlich ist Alfred de Musset aus Paris geflohen, weil er meinte, dort nicht mehr leben und arbeiten zu können. Er ist nun in Venedig, wohin auch sein Bruder gekommen ist, der eingangs im ersten Akt seine Rolle spielt. Dann aber kommt schon sehr bald George Sand mit dem deutschen Fräulein, das in die Sand sehr verliebt ist, was diese durchaus genießt. Sie scheint, würde man heute sicher vorschnell diagnostizieren, es mit den Geschlechterpräferenzen hochmodern zu halten. Auch das ist für Georg Kaiser letztlich ohne Interesse. Nur weil es eben tatsächlich so war, baut er auch den italienischen Arzt mit ein, der Musset helfen soll und den George Sand allein deshalb schon für sich erobern muss, weil er ihren Namen nicht kennt, den doch sonst sogar die Suffköppe kennen.
 
Das alles klingt interessanter, als es im Stück ist. Denn dieses zeichnet sich vor allem durch eine Dialogsprache aus, die im ersten und vierten Akt als eben noch so erträglich bezeichnet werden kann, in den beiden mittleren Akten aber schlicht ungenießbar ist. Man muss sehr tapfer sein, um diese reine Kunstsprache zu ertragen, kein Mensch redet so geschwollen, so exaltiert, so – und das ist es im Kern – so expressionistisch. Das rasante Abflauen des Interesses auch des intellektuellen Publikums, von anderem nicht zu reden, an expressionistischen Bühnenwerken, Bühnen-Experimenten hat vor allem mit der Sprache zu tun. Die nervt einfach. Dass nach dem Expressionismus die Neue Sachlichkeit kam, ist auf spezielle Weise folgerichtig, auch Kaiser folgte der neuen Mode in den Grenzen, in denen er generell Moden folgte, also selten blind. Musset sagt bei Kaiser zu seinem Bruder: „Streiche das Leben aus – und du bist ganz bei dir.“ Und der Bruder antwortet, es ist die einzige substantielle Aussage zu Venedig im Stück: „Wie Venedig tot – und da ist.“ Über die Sand sagt Musset: „Dieser Frau nähert sich niemand mit ausschließlichem Anspruch. Jedes Wunder einer einmaligen Erscheinung wird von der Allgemeinheit ergriffen.“ Im ersten Akt.
 
Was den Mann an dieser Frau beunruhigt, vielleicht sogar ärgert: „Schlage jedes Buch von ihr auf, ich nenne dir mit Namen das Urbild seines Helden, der Opfer wurde.“ Georg Kaiser geht mit Geschichte und Natur willkürlich am: selbst mit sehr viel Mühe würden es die Kanäle Venedigs nicht schaffen, in den unendlichen Ozean zu münden, wie es an einer Stelle behauptet wird, aber das sind lässliche Dichtersünden. Die Sand muss im zweiten Akt sagen: „…springe ich wie weißer Salamander aus der Retorte und starre ins Glas … Ich will nicht ausgeworfen sein aus dem Gewimmel“. Aus welchen Retorten springen denn weiße Salamander und starren ins Glas? Ob da noch mehr Salamander sind, auf dem Sprung? Im dritten Akt spricht der italienische Arzt, um den auch einmal zu zitieren: „Ich werde ihm das Gesetz von Endgültigkeit in die Herzbrust schreiben.“ Ob das gegen die Malaria hilft, die er bekämpfen soll? Oder woran litt de Musset im Nebenzimmer? „Das Herz tut den stärksten Schlag, wenn es stirbt. Ist zwischen Tod und Liebe ein Unterschied?“ Ein zarter vielleicht doch, möchte man meinen. Die medizinische Realität spricht gegen den starken letzten Schlag, aber auch das packen wir in die Wundertüte dichterische Freiheit, weils schön klingt.
 
Es treten noch ein Engländer und eine Engländerin auf und im vierten Akt fallen Dialogsätze, von denen ich glaube, nur ihretwegen wurde das ganz Stück überhaupt geschrieben. Die Sand: „Erst muss man sich selbst fühlen, dann kann man sich geben.“ Musset: „Du erlebst nur so viel, als du beschreiben kannst.“ Musset: „Du warst mir der Stern über meiner Welt – darf man den Arm danach strecken und für sich allein begehren? Der Himmel hat Platz für alle Blicke.“ Und: „Keine Gestalt behält ihr Gesicht, geht sie in die Literatur ein.“ Man muss zugeben, dass das Probleme sind, die die Welt eher weniger bewegen, für Literaten aber können sie die Welt bedeuten. Am Ende muss der italienische Arzt von einem Zettel vorlesen, den George Sand schrieb: „Das Wort tötet Leben.“ Und Musset meint: „Vielleicht das wahrste, was du  geschrieben hast.“ Zum Schluss sei erwähnt, was Wilhelm Steffens (1936 – 2016) dem Stück „Die Flucht nach Venedig“ abgewann in seinem Buch über Kaiser für die Reihe „Friedrichs Dramatiker des Welttheaters“: Kaiser verwende für seine Dialoge die Stichomythie und die Hemistichomythie, die man auch Antilabe nennen darf. Wer keine Lust hat, nachzuschlagen: das hat etwas mit Versen zu tun, die im Drama auf mehrere Sprecher verteilt werden: Doppelverse oder Halbverse. Wenn das alles ist, was zu erwähnen wäre, oh Gott.


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