John Cheever: ... kein schöner Land
Im Original heißt das Buch „Oh What a Paradise It Seems“, es erschien 1982 zuerst bei Knopf in New York und, wundersamer Umstand, zwei Jahre später in der Übersetzung von Reinhild Böhnke in der DDR. Einer wie Cheever, der schon 1958 in den USA den National Book Award und 1979 den Pulitzer-Preis erhielt, hatte seine Übersetzer traditionell nicht in der DDR. Die musste, wenn sie denn wollte, respektive wenn der Zentralrat zur Genehmigung von Buchveröffentlichungen sein Placet gegeben hatte, die Lizenz bei den Brüdern und Schwestern erwerben, egal wie gut oder schlecht die Übertragung war. Man durfte immer skeptisch sein und das nicht nur, weil einer wie Reich-Ranicki schon früh die Qualität der Verdeutschungen aus dem Englischen auf dem westdeutschen Buchmarkt miserabel genannt hatte (oder jämmerlich?). Reich-Ranickis Urteile galten in der DDR als Teufelswerk, werden also kaum in irgendeine Wagschale gefallen sein.
Warum also dieses Buch keinen Verlag im Westen fand? Ich weiß es nicht. Kommunistisch ist es nicht, grün nur auf den allerersten oberflächlichen Blick und wenn es sehr grün gewesen wäre, hätte es wiederum nicht den Beifall der DDR-Genehmiger gefunden wahrscheinlich. Vorausgesetzt, wir akzeptieren vorübergehend die Sachkompetenz der Literaturobrigkeiten, was freilich angesichts mancher Entscheidung einigermaßen schwer fällt. Cheever erzählt von einem Mann, der ein begeisterter Schlittschuhläufer ist und eines Tages sieht, dass der Teich, den er immer befuhr, in eine Mülldeponie verwandelt wurde. Später gibt es anderen Teiche, in denen nicht mehr geangelt werden kann, weil das Wasser sauer ist, so sauer, dass den Fischen das Leben verging und nicht nur die Freude daran. Es entfaltet sich keineswegs eine Geschichte von Empörung und Kampf. Es entfalten sich zunächst zwei völlig getrennte Handlungsstränge.
Der Schlittschuhläufer, von dem immer erzählt wird, als sei die Geschichte in märchenhaft alten Zeiten gelaufen, baggert eine wesentlich jüngere Immobilienmaklerin an und es klappt sogar. Wobei ihm nie unter die Haut geht, dass die Frau keine Gelegenheit auslässt ihm zu sagen, er verstehe nichts von Frauen. Das äußert sich dann beispielsweise so, dass er ohne Unterhose unter der Hose an ihrer Tür klingelt und seine Hose, obwohl sie ihn nicht im abgetragenen Bademantel empfängt, was ein Signal wäre, einfach rutschen lässt. Im zweiten Erzählstang gibt es zwei Familien, die Nachbarn sind. Der Familienvater Nummer 1 gehört zu einer italienischen Großsippe, deren mafioser Teil ihn mit dem Job des Mülldeponie-Aufsehers versorgt, als er aus Not demonstrativ und vor den Augen der Kinder den Hund des Hauses erschießt. Es gibt Neid und Streit. Zwei Hausfrauen fahren sich nicht nur im übertragenen Sinne an den Wagen.
Der Schlittschuhläufer aber hat einen Mann beauftragt, sich um den versauten Teich zu kümmern und plötzlich wird dieser Mann einfach so ermordet. Es gibt einen denkwürdigen Abend, an dem der Bürgermeister mit einer unfassbaren Demagogie, die wohl nur im Land der unbegrenzten Möglichkeiten möglich ist, den Gegner der Teichverseuchung bezichtigt, Feind des Gedenkens an Patrioten und Kriegshelden Amerikas zu sein. Einer, der die Schadstoffbelastungen im Detail aufzählt, wird buchstäblich vor dem Saal auf der Straße brutal über den Haufen gefahren, zweiter Mord in der Sache und beide Morde schiebt Cheever in den Text, als wären es die unbedeutendsten Details der Geschichte, er exponiert sie nicht nur nicht, er versteckt sie geradezu. Dafür aber kommen die Handlungen auf einen Punkt an einem Straßenrand, an dem ein Baby in einer Tragetasche vergessen wird und es folgt eine erstaunliche Geschichte mütterlicher Dankbarkeit.
Als vor einigen Jahren neue Übersetzungen der beiden umfangreichsten Romane Cheevers, im Original „The Wapshot Chronicle“ und „The Wapshot Scandal“ bei DuMont erschienen, gebärdeten sich die deutschsprachigen Großfeuilletons, als wäre die Titanic von selbst wieder aus dreitausend Metern Tiefe aufgetaucht. Es gab Entdeckungsfeiern in höchsten Tönen. Die Lobesworte über den Autor rochen heftig bis sehr heftig nach purem Verlagsmarketing, was nicht ehrenrührig ist. Sie erweckten nur leider den einfach falschen Anschein, als wäre Cheever im deutschen Buchmarkt ein Vergessener, ja Unbekannter. Die beiden schon genannten Romane lagen jeweils ziemlich kurz nach ihrem Erscheinen in den USA auch in Deutschland vor und zwar sowohl im Westen wie auch im Osten. Die DDR hatte beide zu einem Band vereinigt gesehen im Verlag Volk und Welt, der die Rowohlt-Übersetzungen von Arno Dohm und Paul Baudisch übernahm.
„Bullet Park“, 1969 in New York erschienen, lag schon 1972 auch in der DDR vor, wiederum in Rowohlt-Lizenz, diesmal in der Übersetzung von Kurt Wagenseil. Damit ist die Wikipedia-Angabe 1975 für die Rowohlt-Ausgabe falsch. Und noch die implodierte DDR übernahm von Droemer Knaur die Lizenz für „Falconer“ im Leipziger Reclam-Verlag. Nachwort-Autor Utz Riese erhielt die schon niemanden mehr aufregende Chance, in einer philologischen Fremdsprache sein Verständnis von postmoderner Situation und strukturaler Literaturtheorie mittels gelegentlicher Erwähnung des Autos John Cheever zu demonstrieren. Die Buchkritik im SONNTAG ignorierte strafweise das Nachwort vollkommen anno 1990. Bis zur scheinbaren Neuentdeckung aber kam immer wieder einmal John Cheever auf den deutschen Buchmarkt, zwei Erzählbände als Auswahlen aus „The Stories of John Cheever“, die 1991er erste Auswahl aus den Tagebüchern 1994. Die Briefe dagegen haben es noch nicht nach Deutschland geschafft, soweit ich sehe.
Die 1991 in New York erschienenen Tagebücher, besser die Auszüge aus den Tagebüchern, nahm kein Geringerer als John Updike zum Anlass für eine sehr ausführliche Besprechung. Er nannte sie „Cheever on the Rocks“, bekannte Verwirrung und Begeisterung, verriet, dass er seinen Willen zu einer langen Zitatenreihe bremsen musste und distanzierte sich vorsichtig von „Falconer“: „... ich selbst ziehe diesem Buch seinen letzten schmalen Roman „Oh What a Paradise It Seems“ vor, und als ich die Tagebücher las, hat es mich angerührt, wie sehr Cheever, genau wie sein älterer Held im Roman, Lemuel Sears, das Schlittschuhlaufen liebte.“ Updike weiter: „ Das Schlittschuhlaufen war sein Sport, war sein wordsworthsches Wandern, sein Rendezvous mit Himmel und Wasser, seine Verbindungmit elementarer Reinheit und den Ehrfurcht erregenden Tiefen über und unter ihm...“
Cheever hat, was erst die Tagebücher, vorher auch teilweise die Briefe offenbarten, Lebenskämpfe ausgefochten. Er gehörte zur langen Reihe amerikanischer Top-Autoren, die dem Alkohol verfallen waren, unter diesen zur deutlich weniger langen Reihe derer, die tatsächlich, wenn auch unter Qualen und im Angesicht des drohenden Todes, den Absprung schafften. Cheever starb an Krebs und im Bewusstsein, mindestens ein Geheimnis nicht mit ins Grab zu nehmen, das seiner homosexuellen Anwandlungen, seiner letztlich sogar von seiner klugen Frau akzeptierten Bisexualität. „Selten, so erscheint es, ist das Leben eines begabten Schriftstellers trauriger gewesen.“ Meint Updike, der Cheever und seine Frau auch persönlich gut kannte.
Im Roman heißt es an später Stelle: „Sears bemerkte auch, daß der Bürgermeister einer jener Lügner war, die ganz normal sprechen, wenn sie ehrlich sind, die aber ihre Lügen an die Fingernägel ihrer linken Hand richten.“ Erst vor ein paar Wochen druckte die WELT in ihrer Samstagsausgabe unter der Überschrift „Die Wahrheit über das Lügen“ einen höchst aufschlussreichen Beitrag des hier nur zu empfehlenden Wissenschaftsjournalisten und Buchautors Jörg Zittlau. In einem Kasten im Text „Wie man Lügner erkennen kann“ versammelte Zittlau einige Merkmale mit Signalcharakter. Schriftsteller wie Cheever, das soll hiermit nur gesagt sein, brauchen keine abgesicherte Feldforschung, um dennoch überraschend ähnliche Ergebnisse zu präsentieren. Was sie uns zusätzlich sympathisch machen sollte.
Der nämliche Bürgermeister sagt im Roman zu seinen Anhängern und Claqueuren: „Der Beasley-Teich gleicht dem Haupttrend der amerikanischen Denkweise, und diese ist im Einklang mit der menschlichen Natur.“ Wohl jedem, der sich auf die menschliche Natur im Glauben beruft, sie zu kennen. In Bälde feiern wir den 300. Geburstag von Jean-Jacques Rousseau. Das war auch so einer. John Cheever aber hatte am 27. Mai seinen hundertsten Geburtstag und morgen ist sein dreißigster Todestag. Seinen siebzigsten Geburtstag hat er also selbst noch erlebt. Dass seine Erben sich der Publikation auch weniger angenehmer Details in seinen nachgelassenen Texten, vor allem der Tagebücher, von denen 80 Prozent ungedruckt sind, nicht verweigerten, sei herausgestrichen. Selbst wenn es eine subtile Form von Rache gewesen sein mag, wie es John Updike mit Blick auf Gattin Mary Cheever nicht ausschließen wollte.