Scheerbart: Der Aufgang zur Sonne. Hausmärchen
„Paul Scheerbart ist der am wenigsten gelesenste aller lebenden deutschen Autoren und dabei ist er unser allerfeinster Humorist.“ Ich setze diesen Satz von Hanns Heinz Ewers an den Beginn, obwohl es der Satz ist, der in jeder Schublade, die Scheerbart überhaupt berücksichtigt, obenauf liegt. In Zeiten, da Nacht für Nacht nicht enden wollend ganze Fernsehsender davon leben, die allerbekanntesten, allerabgelatschtesten „Hits“ in nicht im Handel erhältlichen Kompilationen zu preisen, will ich nicht so tun, als gäbe es eine Zielgruppe größer gleich Null, die sich von einem wie auch immer gestylten Geheimtippmurmeln aus der Lethargie reißen lässt. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, das ist Weltweisheit, das ist Medienwahrheit, jenseits davon Selbstbetrug.
Scheerbart ist so unbekannt, dass selbst eine Zeitung wie die NEUE ZÜRCHER es einem gestandenen Professor wie Manfred Schneider durchgehen lässt, wenn er einen neu aufgelegten Roman „kritisiert“, indem er eine mäßig euphorische Inhaltsangabe zu Papier bringt. Und dann schon am Ende ist. Das kann jede brave Jugendseiten-Kritikerin kurz vor dem Erreichen der Volljährigkeit auch schon. Es spricht, um Missverständnissen vorzubeugen, für Paul Scheerbart und keineswegs zwingend gegen Manfred Schneider. Jeder, der ein Buch des sagenhaften Trunkenbolds in die Hände nimmt und liest, wird kaum anders können, als zunächst der puren Faszination durch das Stofflich-Gegenständliche zu erliegen. Solche Phantasien werden gern ausufernd genannt, als wäre es das Regelverhalten von Phantasie, innerufrig zu plätschern. Aber „Lesabendio“ kann ja nachgelesen werden.
„Scheerbart ist, obwohl er von Beginn an mitten in der modernen Literaturbewegung drinstand, doch nie von ihr beeinflußt worden. Er ist stets seinen eigenen, scharf umgrenzten Weg gegangen, ohne nach rechts und nach links zu blicken.“ Dergleichen ist im Literaturbetrieb selbstmörderisch, auch wenn das feinere Feuilleton und die üblichen Geheimtippverdächtigen das gern mythenbildend verschleiern. Wen interessiert wirklich, dass dieser Scheerbart Autor des ersten Buches war, das der noch sehr junge Ernst Rowohlt einst verlegte? Noch Winfried Freund in seiner immerhin an Studenten gerichteten Arbeit „Deutsche Phantastik“ (UTB 2091) siedelt Scheerbart so gnadenlos falsch und offenbar vollkommen ahnungslos mit einer einzigen Erwähnung in seiner Geschichte der phantastischen Literatur von Goethe bis zu Gegenwart an, dass jedem Scheerbart-Freund, es gibt tatsächlich welche, die Tränen der Wut in die Augen steigen müssen. Man sollte sich, statt mit dem „Wachturm“, mit je zwei Bänden Scheerbart in die Fußgängerzonen stellen.
Nicht die „Katerpoesie“ aber will ich heute aufs Podest heben, auch die wunderbare Geschichte vom Gemeindelehrer Lehmann nicht, der alle Gemeindelehrer zu Kriegsgegnern machen wollte und deshalb seines Amtes entsetzt wurde: „... und Pensionsgelder wurden ihm nicht ausgezahlt.“ Lehmann lächelt noch, als die Leiche seiner Frau an ihm vorbeigetragen wird, die sich aus dem Fenster gestürzt hat. Den Gästen einer Destillation, in die er ging, fiel sein Lächeln unangenehm auf. Weshalb er des Lokals verwiesen wird. Ich will im Grimm-Jahr auf Scheerbarts so gänzlich andere Hausmärchen verweisen. Vier versammelt das Bändchen mit dem Titel „Der Aufgang zur Sonne“, das auch ein seltsames Zeugnis einer anderen DDR ist. Die Erstausgabe erschien 1903 in Minden in Westfalen, natürlich noch ohne die unnachahmlichen Illustrationen von Horst Hussel. Mit einem Sonnenmärchen fängt es an, es folgen ein Seemärchen, ein Tiermärchen und ein Sturmmärchen. Das Sonnenmärchen ist schließlich gar kein ganz echtes Märchen, es ist der Fiebertraum eines sterbenden kleinen Jungen, angeregt durch das Gasthausschild „Aufgang zur Sonne“. Ein Text zum Hinknien schön und traurig.
Es wäre an diesen wenig mehr als zwanzig Seiten mühelos fast der ganze Scheerbart darzustellen mit seinen wiederkehrenden Motiven, mit seiner Farbenlust, mit seiner Formphantasie, mit seiner sonderbaren, vielfältige auch religiöse Mythen aufgreifenden Vorstellung einer allbeseelten, allbelebten und lebenden Welt. Nebenher ist alles Satz für Satz pure Poesie, pure Weisheit. Der alte Obersternrat sagt zum kleinen Adam: „Wenn du nur stets behalten kannst, daß die Welt sehr großartig ist und nicht so einfach ist, wie sie Dir manchmal erscheint, so hast Du die Hauptsache in Deinem Leben begriffen.“ Als Adam von seiner Angst vor der großen Welt spricht, hört er: „Behalte diese Angst, so wirst Du niemals in Deinem Leben traurig werden. Ehrfurcht kannst Du diese Angst nennen.“ Wenn Philosophie je jenseits der ältesten griechischen Antike „Liebe zur Weisheit“ sein durfte, dann war Paul Scheerbart ein Philosoph. Einer, der es fertig brachte, seitenlange Gegenwelt-Schilderungen wie in „Münchhausen und Clarissa“ nicht langweilig werden zu lassen. (Dass gerade dieser Roman in die Reihe „Rowohlt Jahrhundert“ aufgenommen wurde, ist mehr als nur eine Hommage an den Anfang aller Verlagsanfänge.)
Das Seemärchen „Seequallen“ vermittelt ebenfalls eine unmissverständliche Botschaft, was einem Märchen ja keineswegs abträglich ist. Hier ist es der kleine Kix, der bei Zwergen unter Wasser in einem Glashaus wohnt, ohne je mit Steinen zu werfen. Er soll, als die Hausherren zum Zwergenkongress müssen, versprechen, auf keinen Fall das Haus zu verlassen, weil die Quallen, die draußen das Haus vor dem bösen Feind Kriwalke schützen, giftig sind. Selbstredend hält sich Kix nicht an sein Versprechen, doch die Quallen verschonen ihn: „Und merke Dir, Papa: Was sich gegenseitig bewundern muß – thut sich nichts zuleide.“ Im Tiermärchen „Das alte Felsenschloß“ wollen sich die Tiere an König Axular rächen, der ein wilder Jäger ist. Schlangen und Adler werden beauftragt, die Kinder des Königs zu entführen, um sie ordentlich zu quälen, was natürlich nicht stattfindet, obwohl die Schlangen die Wächter der Kinder verspeisen und dann wegen ihrer dicken Bäuche nicht hinlänglich kriechen können. Das Sturmmärchen „Die neue Maschine“ widmet sich schließlich einem der Lieblingsgegenstände Scheerbarts, dem Perpetuum mobile. Zwerg Napari hat den Bauauftrag und nervt damit vor allem Gattin Knubbel, in der jeder Scheerbart-Kenner natürlich sofort Scheerbarts eigene Anna erkennt. Beide sitzen am Ende, als alles gescheitert ist, neben einander auf dem Sofa und trinken: Weinbowle.
Weder diesem noch den anderen in der DDR erschienenen Scheerbart-Büchern war klassenkämpferische Nützlichkeit zuzuordnen. Den hauseigenen Realismusbegriff hätte man schon dehnen müssen bis ins Unendliche, um „Die große Revolution. Ein Mondroman“ passend zu schreiben. Vor allem aber muss dem Eulenspiegel-Verlag das nicht hoch genug anzurechnende Verdienst zugesprochen werden, den Sammelband „Meine Tinte ist meine Tinte“ ermöglicht zu haben. Horst Hussel hat für ihn Zeichnungen Scheerbarts ausgegraben und verwendet und sich selbst nur als Herausgeber, Kommentator und Nachwort-Verfassen betätigt. Obwohl die Sammlung schon 1986 erschien, hat Killys Literaturlexikon noch Jahre später davon keinerlei Notiz genommen. Auch eine Fußnote zur ungeteilten gesamtdeutschen Kultur.
Ganz vergessen ist an seinem heutigen 150. Geburtstag Paul Scheerbart natürlich nicht. Der Berliner Parthas-Verlag bewirbt sein Lesebuch „Meine Welt ist nicht von Pappe“, herausgegeben von Christian Weizbacher, ausdrücklich mit dem Hinweis „Zum 150. Geburtstag des intellektuellen Literaten und antikapitalistischen Trinkers Paul Scheerbart“. Möge das Lesebuch gute Verbreitung finden, ich brauche es nicht. Vor ein paar Jahren gab es zeitgemäß auch ein Hörbuch, dem Rolf Michaelis in der ZEIT schlechte Noten erteilte, das brauche ich schon gar nicht. Dagegen lese ich nicht nur „am Vorabend“ noch einmal Erich Mühsam mit seinen „Unpolitischen Erinnerungen“, der gute zehn Seiten auf Scheerbart verwandte (und auch dem Hörbuch den Titel lieferte: „Scheerbartiana“). Ich lese Stanislaw Przybyszewski, der auf knappstem Raum alles erklärt. In seinen Erinnerungen an Berlin und Krakau unter dem Titel „Ferne komm ich her...“ erzählt er, wie Paul Scheerbart auf den unerhörten Erfolg von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ reagierte. Er soll gesagt haben: „Man liest diese Geschichtchen doch täglich im Lokal-Anzeiger, und kein Mensch wundert sich darüber, und nun plötzlich ein Lärm und ein Gezeter, als sollte die Welt untergehen. Ach, was für ein gewaltiges Drama könnte ich schaffen, wollte ich das Leben der Hafenarbeiter in Danzig darstellen; und mein Vater war eine Bowke (ein Trinker), ein Lump und ein Herumtreiber - eben dafür liebe ich ihn. Aber darüber schreiben? Ach, pff!“
Paul Scheerbart, der am 15. Oktober 1915 starb, schrieb lieber über nicht existierende Melbourne-Kunst, über Kometen und vor allem trank er gern. Er hat mit allen getrunken, die Rang und Namen hatten im literarisch-künstlerischen Berlin der ausgehenden wilhelminischen Ära, Przybyszewski gibt herrliche Momentaufnahmen davon. Von ihm stammt der Satz „Scheerbart prahlte ja damit, er habe in seinem ganzen Leben, und er war damals dreißig Jahre alt, alles in allem zweihundert Mark verdient.“ Man war mit Ausnahmen in diesen Boheme-Kreisen bitter arm, man hungerte regelrecht. Scheerbart - „niemand hat ihn je ein ernsthaftes Wort sagen hören!“ - „wäre vermutlich nackt herumgelaufen, hätte sich nicht Erich Hartleben seiner erbarmt, der von seinem Onkel, einem reichen Senator aus Hannover, nicht nur das recht beachtliche gesamte Vermögen, sondern auch die ganze Garderobe geerbt hatte.“ Der wie eine Bohnenstange dünne Scheerbart ist trotzig und unbeirrt im Gehrock des kleinen beleibten Senators durch Berlin spaziert, weil für den Anpassungsschneider kein Geld vorhanden war.
Ich schließe in der Hoffnung, dass sich Erich Mühsam nicht irrte, als er schrieb: „Die Zeit aber, die diesen kosmischen Spötter als sich zugehörig erkennen wird, diese Zeit, daran zweifle ich nicht, wird noch kommen.“ Die Fraktion, die den Lokal-Anzeiger am liebsten auf der Bühne sieht, ist stark, man muss nicht das Stäbchen über sie brechen, man sollte aber keinesfalls aufhören, sie als Fraktion zu sehen, nie als alles. In „Münchhausen und Clarissa“ lässt Paul Scheerbart den 180 Jahre alten Baron mit der 18 Jahre alten Clarissa durchbrennen, sie wollen damit das Weltgefüge ins Wanken bringen, was natürlich Quatsch ist, oder quarkig, wie Münchhausen sagen würde. Immerhin steht hinter einer solchen Grundidee ein Schiller so nahebei, dass man sich doch wirklich die Augen reiben möchte.