Norman Mailer: Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug
Bücher dieses Zuschnitts entziehen sich der literarisch-ästhetischen Bewertung fast vollständig. Ob sie denn überhaupt zwingend Bücher werden mussten oder nur welche geworden sind, weil halt der Autor hauptsächlich Buchautor ist, ist oft die Frage. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass Norman Mailer bereits die 80 erreicht hatte, als es entstand, das ist ein Alter, in dem nur noch Martin Walser Romane vom Band rollen lässt, andere leeren ihre Schubladen bis auf den untersten Grund und wenn sich nichts mehr findet, bleiben immer noch Briefe und Tagebücher. Nine-Eleven aber ist nicht umsonst zum Tag erhoben worden, nachdem nichts mehr war wie vorher (was sich freilich von jedem beliebigen Tag der Weltgeschichte sagen ließe, wenn man die 2500 Jahre alte Weisheit berücksichtigt, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann). Der replizierende Schlaumeier der Antike, der darauf entgegnete, auch einmal ginge nicht, muss hier unberücksichtigt bleiben.
Amerika ähnelt in einer Hinsicht dem biblischen Volke Israel: Es sieht sich als das auserwählte Volk, volkstümlich „Gods own country“, und auserwählte Völker erwarten nicht nur auserwählte Wohltaten von oben, sie erleiden auch auserwählte und zwingend singuläre Verbrechen, das Dogma der Unvergleichlichkeit alles Erlittenen und Erlebten gehört zu ihren höchsten Gütern. Gegen diese Sichtweise lassen sich gute Gründe anführen, wenn sie auch wenig beliebt sind bei allen Gralshütern der Auserwähltheit. Während bei anderen Gegenständen also eher Zurückhaltung die gebotene Übung gewesen wäre, war Nine-Eleven neben allem auch der Startschuss für das große Wettrennen um den besten Nine-Eleven-Roman, das beste Nine-Eleven-Drehbuch und so weiter. Einfaches Meinen hat in solcher Kampfsituation den Vorteil der Fixigkeit auf seiner Seite. Norman Mailer meinte schon öffentlich, als andere seines Schlages noch bedachten, in welche Form sie ihr Meinen gießen könnten.
Hätte, das darf in diesem wie in jedem anderen auch nur ansatzweise vergleichbaren Falle vermutet werden, irgendein debütierender Creative-Writing-Absolvent Satz für Satz, Komma für Komma, diesen Buchtext oder genauer, seine zunächst ja disparaten Teile, irgendeiner Redaktion oder irgendeinem Verlag vorgelegt, das Script wäre todsicher im realen oder virtuellen Papierkorb gelandet. So aber, aus der „Feder“ eines altvorderen Superstars des Literaturbetriebs, eines Provokateurs vom Dienst mit Haltbarkeitsdatum, sah die Sache anders aus. „Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug“ erschien 2003 in den USA und in Eilübersetzung (Willy Winkler) auch gleich bei Rowohlt, dem Schleuserverlag für alles Amerikanische, was nur irgend verkäuflich erscheint. Und das lässt sich keineswegs bedauern, denn es ist ein lesenswertes Buch. Wenn man auch dringend darauf verzichten sollte, aus gleichgültigen Gründen das Nachwort zuerst zu lesen. Denn die Art, wie sich Mailer dort, obschon durchaus mit Prisen Selbstironie gewürzt, selbst beweihräuchert, ist Guinnessrekord-Buch-verdächtig.
Zehn Jahre nach dem Erscheinen des schmalen Bandes kursiert er als Mängelexemplar auf den Resterampen des Saison-Literaturgeschäftes. Obwohl er brandaktuell ist, geblieben ist. Noch immer höchst hilfreich für alle, die Amerika verstehen wollen in seiner konstitutiven Widersprüchlichkeit.
„Wozu brauchen wir diese ganze Selbstbestätigung? Es ist, als wäre Amerika ein drei Zentner schwerer Mann, über zwei Meter groß, in absoluter Topform, voller Saft und Kraft, und dann muss er alle drei Minuten unter seinen Armen schnüffeln, um sich zu bestätigen, dass er wunderbar riecht. Wir brauchen keinen zwanghaften Patriotismus als Selbstzweck. Das ist etwas Abscheuliches. Wer in einem großartigen Land lebt, hat die Pflicht, es kritisch zu betrachten, damit es womöglich noch großartiger werden kann. Wir aber werden kulturell und emotional immer arroganter, immer eitler. Wir sind dabei, nicht nur das Gefühl für die Schönheit der Demokratie zu verlieren, sondern auch das Gefühl dafür, dass sie in Gefahr ist.“
Das etwas längere Zitat aus dem vorderen Teil enthält gerafft fast alles, was im Buch steht. Es ist kein antiamerikanisches Buch, obwohl es Vertretern dieser Ideologie sicher Munition liefert. Es kann, das nebenbei, vielleicht sogar Gedanken anregen, warum es nur drei solche Anti-Ideologien in der neueren Weltgeschichte gab und gibt: Den Antisemitismus, den Antisowjetismus und eben den Antiamerikanismus. Allen dreien stehen komplementär die jeweiligen aggressiven Philo-Ideologien entgegen, jede Äußerung nennenswerter oder medial aufgedonnerter Art ruft die Reaktion der Gegenseite hervor wie die sattsam bekannte Glühbirne den Speichelfluss bei Pawlows Hündchen. Das hat den Vorteil, das in der Sache nicht geredet werden muss.
Norman Mailer aber, dem der amerikanische Patriotismus schon nach dem in seinem berühmtesten Roman „Die Nackten und die Toten“ niedergelegten Kriegserleben suspekt war, ist nun, nach Nine-Eleven und vor dem damals noch bevorstehenden Krieg gegen den Irak, geradezu felsenfest überzeugt, dass der Patriotismus alle Potentiale hat, Demokratie und Freiheit zu unterhöhlen, einzuschränken, außer Kraft zu setzen. „Ich wiederhole es: Freiheit ist ebenso empfindlich wie Demokratie. Sie muss jeden Tag aufs Neue am Leben erhalten werden.“ Heißt es im hinteren Buchteil. Und kurz davor: „Wenn man sein Land bedingungslos liebt, büßt man allmählich alle kritische Urteilsfähigkeit ein. Demokratie bedarf aber genau dieser Fähigkeit.“ Mailer geht so weit, die Gefährdung der amerikanischen Demokratie höher zu veranschlagen als etwa die in England, die weniger tiefen Wurzeln sind ihm dafür verantwortlich.
Meine Lieblingsstelle im Buch steht auf den Seiten 85 und 86. Sie geht so: „Bill Clinton legte Wert darauf, sich mit Leuten zu umgeben, die vielleicht neunzig Prozent seiner Intelligenz besaßen, aber nie ganz an ihn heranreichten, niemals intelligenter waren als er. Deshalb war Clinton stets der Schlaueste in seiner Runde. Bush seinerseits ist immerhin so klug, zu merken, dass er das nicht so halten kann, sonst würde das Land von lauter Vollidioten regiert.“ Wer bis heute nicht wirklich verstanden hat, warum Amerika acht Jahre lang der Welt suggeriert hat, Clinton sei ein Präsident der Skandale, während von seinen gegenüber den Vorgängern und dem Nachfolger überragenden Erfolgen nie die Rede war, der lese diesen Mailer. Der behauptet, ohne Clinton hätten die USA den Zusammenbruch der Sowjetunion zum sofortigen Griff nach der totalen Weltherrschaft getan. Die Pläne lagen dann acht Jahre auf Eis, ehe Bush jun. sie aus den Schubladen holen ließ. Verschwörungstheorien, an denen sich Mailer allerdings in diesem Buch mit keiner Silbe beteiligt, gingen bekanntlich sogar soweit, Nine-Eleven als Falken-Inszenierung des militärisch-industriellen Komplexes inklusive Grundstücksspekulation zu deuten.
Die, um ein Lieblingswort des Gegenwartsfeuilletons zu benutzen, verstörendste These des Buches lautet: „Es gibt ein erträgliches Maß an Terrorismus. Wir sollten uns von der Idee verabschieden, jede Form von Terror abwenden zu können. Wir sollten lieber lernen, mit der Angst zu leben.“ Auf Platz zwei setze ich: „Angesichts der hässlichen Tiefen der menschlichen Natur ist für die meisten der Faschismus die natürliche Regierungsform. Faschismus scheint ihnen natürlicher als Demokratie zu sein. Ungeniert anzunehmen, dass wir Demokratie in jedes Land unserer Wahl exportieren könnten, kann paradoxerweise dazu führen, dass man den Faschismus zu Hause wie im Ausland fördert.“ Norman Mailer nennt sich selbst einen linken Konservativen und hat Ende der sechziger Jahre als Bürgermeisterkandidat für New York allen Ernstes versucht, ein Links-Rechtsbündnis zu organisieren, um die sterile Mitte auszuhebeln.
Friedrich Sieburg, den wohl auch sein fünfzigster Todestag im kommenden Jahr 2014 kaum aus der Vergessenheit heben wird, las 1950 „Die Nackten und die Toten“ und wehrte sich dagegen, wie die 780 Seiten damals beworben wurden: „Superlative sind ja billig geworden, niemand stellt sich unter ihnen noch die gemeinten Größenverhältnisse vor...“. Lobte dann aber dennoch das Buch und zog aus ihm Erkenntnisse über das amerikanische Wesen: „Mailers amerikanische Soldaten ... erweisen sich in einem Maße als von sexuellen Dingen besessen, daß man den Eindruck gewinnt, kein Amerikaner der Gegenwart habe es fertiggebracht, seine Pubertät hinter sich zu lassen.“ „Nicht jeder Schriftsteller, der eifrig das Wort Scheiße verwendet, ist ein Bahnbecher.“ Man lausche heute einmal einem unsynchronisierten amerikanischen Filmdialog: Wie oft gerade die vermeintlichen Avantgardisten Fuck und Bullshit sagen lassen, ist phänomenal, alles, aber auch wirklich alles ist fucking, während gleichzeitig die offizielle Prüderie tobt, dass es einen sprachlos macht.
Norman Mailer hat, das sollte der Exkurs andeuten, sein Potential, der Welt sein Land erklärlicher zu machen, früh besessen und fast verlustlos behalten bis ins hohe Alter. John Updike nahm Mailers Buch „Das Jesus-Evangelium“, deutsch München 1998, zum Anlass für diese Feststellung: „Es ist eine von Mailers überwältigenden Qualitäten, dass sein Interesse an einem neuen Gebiet sich leicht entzündet und er sich schnell zu einem Experten entwickelt.“ Im erwähnten Nachwort, welches das aus „Heere in der Nacht“ bekannte Verfahren, von sich selbst in der dritten Person zu schreiben, aufgreift, verrät Normal Mailer von sich: „So groß war sein Hass auf den Journalismus, dass er selber zum Journalisten wurde.“ Mailer ist, meine ich, auch dort Journalist, wo er nicht Journalist ist. Das macht sein Werk vielgestaltig, disparat und auch inhomogen. Heute vor neunzig Jahren wurde er in Long Branch, New York, geboren. Er starb am zehnten November 2007.