Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Mit Chamisso war Eichendorff in seiner „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ zügig fertig. Er nannte ihn: „Ein deutsches Gemüt, keusch, ehrenhaft, treu in der Freundschaft, sittlich und fleißig; bei einem durchaus französischen Naturell...“ Und warf ihm vor: „Daher, weil ihm die wesentliche Innerlichkeit und Hauptbedingungen der Romantik fehlte, wußte er sich nicht reinzuhalten von absichtlicher Effektmacherei.“ Vom „Schlemihl“ diktiert Eichendorff bündig: „Dieses wunderliche Märchen, das durch seine pikante Unbestimmtheit sich überall beliebt gemacht, gehört zu jenen glücklichen Apercus, deren Wert und Bedeutung die Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie suchen.“ Man wird diese Aussagen nicht unter die Sternstunden der deutschen Literaturgeschichtsbetrachtung rechnen müssen.

Eine pikante Unbestimmtheit umgibt schon die Geburt Chamissos: mal ist sie nicht datierbar, lediglich der Tag der Taufe bekannt, das war der 31. Januar 1781, mal ist es der 30. Januar, mal gar der 27., letztlich interessiert das nicht einmal den Freund allfälliger Jubiläumsbegängnisse wirklich. Sehr prägnant sind auch die Aussagen zur Entstehungsgeschichte des „Schlemihl“ nicht. Man kann immerhin mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass heute, morgen oder gestern vor 200 Jahren er daran arbeitete, denn zwischen Mai und Oktober 1813 soll es in Kunersdorf zur Niederschrift gekommen sein. Der spätere Strittmatter-Jäger Werner Liersch hat in seinem noch vollkommen Strittmatter-freien literarischen Reiseführer “Dichters Ort“ festgehalten, dass Chamisso im Schloss derer von Itzenplitz wohnte, im dortigen Bibliothekszimmer den „Schlemihl“ zu Papier brachte, während er sich hauptsächlich mit der Oderbruchflora und den Treibhauspflanzen des Schlosses befasste.

Natürlich hat Theodor Fontane im Kunersdorf-Kapitel des Bandes „Das Oderland“ seiner „Wanderungen“ auch Chamisso: „Das Jahr 1813 brachte noch einen anderen Gast nach Schloß Kunersdorf, und mit seinem Besuche schließen wir wie mit einem Idyll. Dieser Gast war Chamisso.“  Wegen der Faktenfolge und Formulierungsähnlichkeiten nehmen wir an, dass Liersch erst seinen Fontane las, ehe er an seinen eigenen Text sich setzte. Immerhin hat Fontane zum Bibliothekszimmer des Schlosses, in dem der „Schlemihl“ entstand, noch die Information, dass Chamisso bei offenem Fenster und mit Blick in den Park schrieb. Das angelegte Herbarium gab es da noch, 1945 erst fiel das Schloss dem endenden Krieg zum Opfer. Fontane zitiert aus Chamisso-Briefen an Varnhagen von Ense und an Eduard Hitzig, darunter den bekannten und immer herangezogenen Brief, in dem Chamisso den „Schlemihl“ zum Vorlesen empfiehlt und das Manuskript zurückfordert, weil er weiter daran schreiben will.

Theodor Fontane bezweifelte die Mär, dass Chamisso von Kunersdorf aus zu Fouqué nach Nennhausen reiste, um ihm alles vorzulesen, denn den bekannten Briefen zufolge waren Mitte Oktober erst vier der schließlich elf Kapitel beendigt. Auch das ist letztendlich kein Thema, das mehr als lokalgeschichtliches Interesse erheischt. Denn der 200 Jahre alte „Schlemihl“ ist am heutigen 175. Todestag des Adelbert von Chamisso immer noch ein literarisches Genussmittel. Er lebt fort in Anthologien und Einzelausgaben, mit und ohne Illustrationen, mit und ohne Vorwort oder Nachwort, allenfalls fällt eine gewisse Einfallslosigkeit der entsprechenden Verfasser auf, weil sie um einen nie herumkommen, der nun allerdings seinerseits ein literarisches Genussmittel hinterlassen hat: Thomas Mann. Von ihm stammt der Essay „Chamisso“ aus dem Jahr 1911, den er für eine Ausgabe des „Schlemihl“ bei S. Fischer verfasste, dabei griff er auf eine Besprechung des Büchleins zurück, die er am 25. Dezember 1910 im „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht hatte. Vor dem ersten Weltkrieg gab es noch keine Schlagzeilen, wenn ein Autor sich selbst zitierte.

Was Bernd Leistner auf die Idee brachte, in seinem Nachwort zu einer Rudolstädter Ausgabe des „Schlemihl“ von 1986 darüber zu mutmaßen, was Thomas Manns Essay eigentlich sei, ist mir nicht ganz oder aber nur unerfreulich zu erklären. „Man weiß nicht recht, ob man ihn kritisch nennen soll. Denn in erster Linie ist dieser Essay eine literarische Sympathiekundgabe...“ Sollte Leistner tatsächlich so einen engen Begriff von „kritisch“ gehabt haben, dass ihm Lob automatisch das Unkritische war? Ich habe leider den Verdacht, dass es so war, denn auch die Platzierung des Wortes „bürgerlich“ in seinem Nachwort an möglichen und unmöglichen Stellen lässt sich nicht nur auf DDR-Erwartungshaltungen schieben. Dabei hat Thomas Mann gerade an Chamisso und in diesem Essay das Bürgerliche eben nicht als das zu Verwerfende gefasst, ja er hat wohl, wie eigentlich fast immer in vergleichbaren Fällen, auch pro domo gesprochen. Ihm war der ewige Bohemien ein Greuel und es gibt keinen vernünftigen Grund, das zwanghaft anders sehen zu müssen. „Man kann nicht immer interessant bleiben. Man geht an seiner Interessantheit zugrunde oder man wird ein Meister.“ Was ja auch heißt: Ich, Thomas Mann, ziehe meine Meisterschaft dem Beifall einer nur an Originalität oder Interessantheit um jeden Preis interessierten Gemeinde vor.

„Durchaus geschickt bediente Chamisso latente Erwartungen.“ Bedient nicht auch die Orientierung auf die Kleinst-Gruppe der permanenten Avantgardisten nur latente Erwartungen? Und zwar unendlich arrogante, sich selbst als einzig wichtig nehmende latente Erwartungen? Bernd Leistner hat dies, wie ich annehme, nicht bedacht in seinem Eifer, im Unterschied zu Thomas Mann ein kritisches Nachwort schreiben zu wollen. So wird dann eben auch der vollkommen nachvollziehbare und in nichts, aber auch gar nichts zu verdächtigende oder gar zu denunzierende Wunsch Chamissos, die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit in der Berliner Universität deponiert zu wissen, mit Bürgerlichkeit in Verbindung gebracht. Haben sich zu DDR-Zeiten etwa proletarische Forscher gefreut, wenn ihre Arbeitsergebnisse im Mülleimer landeten? Und nicht in geordneten, von der Nachwelt zu nutzenden Depots und Archiven möglichst der universitären Forschung?

Der Umgang mit einem einfach nur schönen Stück Literatur von heute wunderbarer Altmodischkeit provoziert Polemik. Wobei Bernd Leistner, es möge kein Missverständnis aufkommen, mir sehr sympathische, von mir immer gern genutzte Bücher publiziert hat. Aber bei einer, mit Verlaub, Unterscheidung von bürgerlicher und proletarischer Botanik, die ja gemeint sein muss, sonst wäre das Beiwort bürgerlich einfach nur überflüssig, bei einer solchen Unterscheidung ist mein Humorpotential überreizt. „Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen.“ So erzählt es der fiktive Peter Schlemihl. Allein das „bitterliche“ Weinen, löst das nicht eine Zeitreise in Kindheiten aus, genau so, wie es eben Thomas Mann erlebt hat und unbeschreiblich beschrieb? Wohl jedem Erwachsenen, der, wenn er allein ist, bitterlich weinen kann, auch ohne Kutsche! Natürlich hat Thomas Mann rechter als recht, wenn er sagt, dass alles an der Annahme der Voraussetzung hängt. Das aber zeichnet in mehr als nur vergleichbarer Weise ja jede lebende Religion aus.

In „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ lautet die Voraussetzung, ein Leben ohne Schatten sei kein Leben. Zu ihr gesellt sich die zweite Voraussetzung, Schattenlosigkeit fiele sofort und jedermann auf. Thomas Mann hat das für sich selbst ohne alle Koketterie verneint. Ihm wäre es wohl nicht aufgefallen, sagt er, und wenn, dann hätte er an eine natürliche Erklärbarkeit geglaubt. Wir bekommen von Chamisso sogar ein Selbstporträt bei der Arbeit geliefert: „ ... es ward mir, als stünde ich hinter der Glastüre deines kleinen Zimmers und ich sähe dich von da an deinem Arbeitstische zwischen einem Skelett und einem Bunde getrockneter Pflanzen sitzen; vor dir waren Haller, Humboldt und Linné aufgeschlagen, auf deinem Sofa liegen ein Band Goethe und der Zauberring...“ Es gibt ein paar fein verpackte Anspielungen auf Goethe, die schönste darf der Förster aussprechen, der Schlemihls Schwiegervater hätte werden können unter schattigeren Umständen: „Was, ein jeder Pudel hat ja einen Schatten...“ Hätte nicht für einen Forstmann der Vergleich mit einem Dackel näher gelegen?

In der Grundkonstellation nimmt Chamisso, der schon 1803 einen nur wenige Seiten umfassenden „Faust“-Versuch unternahm, den Teufelspakt auf. Er baut sich einen sehr speziellen Teufel, der sogar rot werden kann und erstaunlich geduldig ist im Kampf um die Seele Schlemihls. Der auch melancholisch sein kann und etwas sagen wie: „Der Teufel ist nicht so schwarz, als man ihn malt.“ Zu allem passt frappierend: Minas Elternpaar ist wie ein Körperdouble eines sehr bekannten anderen Elternpaares mit Namen Miller: „Die Mutter war wohl eitel genug, an die Möglichkeit einer Verbindung zu denken und darauf hinzuarbeiten; der gesunde Menschenverstand des Alten gab solchen überspannten Vorstellungen nicht Raum.“ Schiller sei Dank. Der Musikus Miller hat einen Wiedergänger in diesem Vater. Und Adelbert von Chamisso hat Intertextualität gestiftet, die lange darauf warten musste, so heißen zu dürfen und das Warten mit Fassung trug. „Und dich, mein lieber Chamisso, hab ich zum Bewahrer meiner wundersamen Geschichte erkoren, auf daß sie vielleicht, wenn ich von der Erde verschwunden bin, manchem Bewohner zur nützlichen Lehre gereichen könne.“ Das lässt Chamisso seinen Peter Schlemihl sagen, die Fiktion der Herausgeberschaft aufrecht zu erhalten, die heute freilich kein Mensch mehr braucht zu seinem Lese-Glück.

Wir erwähnen nur die kleinen Feinheiten zum Schatten, der sich rollen und falten lässt und dennoch im Zweifelsfall, oder wenn er verliehen wird, keinen Qualitätsverlust erlitt. Zu vermuten ist ein gewissermaßen bügelfreies Schattenmodell, Illustratoren haben sich daran mit offensichtlicher Wonne besonders gern versucht. Es geht nicht aus wie im Märchen, es muss auch nicht. Denn Thomas Mann höchstselbst hat das alles eine phantastische Novelle genannt. Ihm war der Schatten Symbol von bürgerlicher Solidität und menschlicher Zugehörigkeit, die Ergebnisse der Schattenforschung dürfen ihrer eigenen Geschichte überlassen werden. Ironie, so Thomas Mann, „heißt fast immer, aus einer Not eine Überlegenheit machen.“ Wir können folglich aus der gemessenen Ironie-Menge bei ihm direkt auf seine vorangegangenen Notbestände schließen. Wenn sein Umgang mit Chamisso nur das erkennbar gemacht hätte, wäre es schon viel.

Aber er hat noch mehr an Botschaft für uns: „Dichter, die sich selbst geben, wollen im Grunde, daß man sie erkenne; denn  nicht sowohl um den Ruhm ihres Werkes ist es ihnen zu tun, als vielmehr um den Ruhm ihres Lebens und Leidens.“ Mich erinnert dieser Satz völlig unerwartet an Horst Redeker und seine Ästhetik-Vorlesungen während meiner Studienzeit. Seine Darstellung von Kunst als Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient, die dem Werk „nur“ die Vermittlungsrolle zugestehen wollte, ist mir mit einem Satz von Thomas Mann so prägnant vorformuliert, wie es große Dichter oft, große Wissenschaftler dennoch selten können. Und weil es so ist, wie es zitiert wurde, ist mir vollkommen nachvollziehbar, was Hans Christian Andersen zu Beginn des dreizehnten und letzten Kapitels seiner „Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc etc. im Sommer 1831“ erzählt.

„Ich trat ein – und Peter Schlemihl stand leibhaftig vor mir, zumindest genau dieselbe Gestalt, die man auf dem Kupfer des Buches findet. Eine hochgewachsene, hagere Figur mit langen grauen Locken bis über die Schultern und mit einem offenen, gutmütigen Gesicht; er trug einen braunen Schlafrock, und um ihn herum spielte ein Gewimmel von rotbäckigen Kindern. Er hieß mich mit innigster Herzlichkeit willkommen, und nun hatte ich einen Bekannten in der fremden Stadt.“ Leider gehören Andersens Berliner Theatererfahrungen nicht hierher, wohl aber wenigstens der Hinweis, dass Andersen noch Jahre nach Chamissos Tod gelegentlich auf die rotbäckigen Kinder des Jahres 1831 traf und mit ihnen über ihren Vater sprach. Einige Andersen-Gedichte sind erstmals von Chamisso ins Deutsche übertragen worden. Weil in den vergangenen Jahren eher der „Reise um die Welt“ oder der Wiederausgrabung der „Galerie der pfiffigsten Schliche und Kniffe berüchtigter Menschen“ unter dem Titel „Die Gauner“ gedacht wurde (2007 erstmals wieder nach 1836), ist ein Fingerzeig auf „Peter Schlemihls wundersame Reise“ gerade heute vielleicht kein ganzer Fehlgriff.


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