Heinrich Böll porträtiert Karl Marx
Dass Heinrich Böll Katholik war, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Er war, aus Sicht der Amtskirche auf alle Fälle, ein renitenter Katholik. Einmal war er auch ein vorwegnehmender Katholik. Das war, als er sich der angebotenen Aufgabe unterzog, für „Porträts Deutsch-Jüdischer Geistesgeschichte“, einen „DuMont Dokumente“, einen Beitrag zu liefern, für den Thilo Koch als Herausgeber fungierte. Koch (20. September 1920 – 12. September 2006), nur drei Jahre jünger, überlebte seinen Mitarbeiter Böll um mehr als zwanzig Jahre und wurde nach seinem Tod als „Urgestein“, als „Großmeister“ des deutschen Journalismus gefeiert. Wie auch immer: er war auf alle Fälle tolerant genug, Bölls Zulieferung zu nehmen, wie sie war, sehr deutsch, wenig jüdisch, könnte man sagen. Das Vorwegnehmende aber war die Hochschätzung der italienischen Mystikerin Angela von Foligno. Sie erscheint in Manfred Hardts voluminöser „Geschichte der italienischen Literatur“ aus dem Jahr 1996 schon als Heilige, obwohl es doch erst der derzeitige Papst Franziskus war, der sie am 9. Oktober 2013 zur Heiligen erhob, ihre Seligsprechung 1693 lag da schon sehr lange zurück. Diese Heilige Angela stellte Heinrich Böll 1961 in eine Reihe mit dem von ihm seit seinen frühesten Jahren hoch verehrten Leon Bloy und, als Dritten im Bunde, mit: Karl Marx.
Um nicht erst lange künstliche Spannung zu erzeugen, der entscheidende Passus bei Böll lautet so: „In der Geschichte des abendländischen Geistes sind nur wenige Beispiele dafür bekannt, dass jemand, dem Absoluten folgend, Entbehrungen und tiefste Not nicht nur über sich, auch über seine Familie wie einen Fluch herabrief – und seine Kinder opferte; die italienische Mystikerin Angela von Foligno, der französische Schriftsteller Léon Bloy – und der deutsche Doktor Karl Marx.“ Vermutlich würden Franziskaner und Romanisten nicht sehr viel weniger Einwände gegen solche Zusammenschau vorbringen können als Marxisten unterschiedlichster Färbung. Die Böll-nahe DDR hätte wahrscheinlich eher eine Heiligsprechung des Möbeltischlers Walter Ulbricht beim Vatikan befürwortet, als diesen Marx-Essay ihren Lesern zugänglich zu machen. Denn so großartig, so verblüffend prägnant und vorurteilsfrei Heinrich Böll den Menschen und Denker Karl Marx vorstellt, so radikal geht er mit denen um, die angeblich auf der Basis von Marx und Engels staatliche Diktaturen errichteten, von denen, so Böll, Marx sich mit Entsetzen abgewendet hätte, hätte er sie erleben müssen. Wer ein wenig Wolf Biermann kennt, wird sich erinnern, dass es da ein Lied gab mit der Vermutung, Marx wäre in der DDR nicht allzu lange auf freiem Fuß geblieben.
Böll hat, ich gestehe gern meine anhaltende Verblüffung während der Lektüre des fast sechzig Jahre alten Essays, frappierende Wahrheiten auf eine frappierende Weise einfach in Worte gefasst: „Er hat alles, was er dachte, zu Ende gedacht und gewusst, was er zu Ende dachte.“ Wer eine Vorstellung davon haben will, was es heißt, eine große Wahrheit gelassen auszusprechen, folge solchen Sätzen: „Marx war in der Lage, sogar seine Niederlagen dialektisch zu deuten und dadurch zu respektieren.“ Oder, fast zu Beginn des Essays: „Die Kapitalisten grinsen. Vielleicht werden sie es sein, die eines Tages einen Kranz am missachteten Denkmal niederlegen ...“. Als hätte Böll das Vorbeben des Marx-Jahres 2018 vor Augen gehabt, ist das geschrieben. Da rollen von den üblichen Biografie-Fließbändern die ersten Marx-Biografien, da füllen sich lange vor dem eigentlichen Jubiläum ganze Feuilleton-Seiten. Sogar die offenbar bis dahin unentdeckte Tatsache, dass Karl Marx schreiben konnte wie kaum einer im deutschen 19. Jahrhundert, erscheint jetzt wie eine vorauszusetzende Tatsache. Dass der Kapitalismus, der seit einigen Jahren bekanntlich auch wieder so heißen darf, dem Kapitalismus, wie Marx ihn schilderte, in umgekehrt naturalistischer Treue gleicht, gilt selbst bei edleren Sektempfängen mit gedrucktem Dress-Code als Trivial-Grundwissen.
Böll, den uns jetzt die Feuilletons gern mit dieser Demonstranten-Kappe zeigen oder an seine Querelen um seinen Ulrike-Meinhof-Text erinnern, Hauptsache nichts über sein eigentliches literarisches Werk, das angeblich töter ist als tot, dieser Böll wusste 1961 mehr von Marx, ohne auch nur in die Nähe eines Verdachts zu geraten, selbst Marxist zu sein, als jene Lehrstuhlinhaber der Bonner Republik, die Rufmord vom Katheder trieben, unvergessen ist Konrad Löw darunter. Oder jener unkaputtbare Dauerminister unter Kohl, der von sicheren Renten salbaderte und mit dem Spruch in die ewige Geschichte der Großdummheiten einging mit seinem Spruch: „De Maax ist doot un de Jesus lääbt“. Wie schrieb doch Böll über Marx: er hat alles zu Ende gedacht. Wir aber erleben, dass niemand irgend etwas zu Ende denkt von Klimawandel bis Kompromiss in der Politik, von Welt ohne Grenzen bis Nazis raus. Zu Ende gedachte Gedanken haben die verflucht unbequeme Eigenschaft, erstaunlich oft gegen sich selbst zu sprechen. Die Konsequenz: lieber höherer Blödsinn im Überzeugungs-Brustton, als Wahrheit, die nicht in den Kram passt. Als ob es Kram gäbe, der zu Wahrheiten passte. „Karl Marx war kein Politiker, er war ein Denker; überall da wo er mit den Praktiken der Politik in Berührung kam, ekelten sie ihn an ...“ schrieb Böll höchst verständnisvoll.
In „Porträts zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte“ steht sein Beitrag an dritter Stelle. Vor ihm kommen Paul Schallück (17. Juni 1922 – 29. Februar 1976) und Rudolf Walter Leonhard (9. Februar 1921 – 30. März 2003), nach ihm, nur rasch noch aufgezählt, Wolfgang Koeppen, Jürgen Habermas, Joachim Kaiser, Rudolf Hagelstange, Walter Jens, Walther Kiaulehn und Alexander Mitscherlich, das Nachwort steuerte Max Horkheimer bei. Vor Marx stehen Moses Mendelssohn und Heinrich Heine, nach ihm Max Liebermann, Walther Rathenau, Sigmund Freud, Franz Kafka, jüdische Philosophen, Komponisten, Kritiker. Böll gehörte mit Schallück zu den Gründern der Kölner „Germania Judaica“, einer Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums mit einem aktuellen Bestand von rund 90.000 Bänden, Mitgründer waren Wilhelm Unger (dessen Buch „Wofür ist das ein Zeichen?“, DuMont Köln 1984, ich immer wieder gern zur Hand nehme), der Buchhändler Karl Keller, der Verleger Ernst Brücher und Kurt Hackenberg, damals Kulturdezernent der Stadt Köln. Herausgeber Thilo Koch schrieb im Vorwort (S. 13): „Heinrich Böll, der das Referat Karl Marx schrieb, kam zu dem Ergebnis: bei Marx ist unsere Problemstellung „aufgehoben“ im Hegelschen Sinne“. Und griff gleich vor mit einer eigenen Einordnung des Ergebnisses.
„Das lässt mich unbefriedigt; das ließ Heinrich Böll unbefriedigt; das wird den Leser unbefriedigt lassen. Aber hierin gerade sahen wir schon bei der Vorbereitung der Monographien ihren Vorzug: es sollte zu einem gänzlich offenen Horizont hin gefragt und geforscht werden; der mögliche Irrweg gehörte zur Marschroute.“ Wie viel von solcher Formulierung genau so gemeint war, wie viel davon Absicherung in Zeiten, die Marx in Köln und Umgebung nun nicht gerade auf den Schild hoben, sei dahin gestellt. Nicht wenige Leser werden Bölls „Karl Marx“ ja eher in Auswahlbänden seiner Essays und Reden, wenn überhaupt, kennen gelernt haben und damit ohne Kenntnis ursprünglicher Text- und Entstehungszusammenhänge. Ich las das Porträt in „Briefe aus dem Rheinland. Schriften und Reden 1960 – 1963“, dem zweiten der sieben Bände des Deutschen Taschenbuch Verlages mit Bölls Reden und Schriften. Es gibt längste neuere Ausgaben, nicht zuletzt im Rahmen der großen Kölner Böll-Ausgabe in 27 Bänden, die ich unphilologisch ignoriere als Besitzer von reihenweise anderen Böll-Büchern. In meiner Auswahl steht „Karl Marx“ nach „Zwischen Gefängnis und Museum“ (1960) und vor „Rom auf den ersten Blick“, das auch den Titel zu einem anderen Sammelband bei dtv lieferte (Nr. 11393, Juni 1991), Untertitel „Landschaften Städte Reisen“.
„Zwischen Gefängnis und Museum“ beginnt mit dem Satz: „Die westliche Hälfte Deutschlands duldet die Wahrheit über sich nur in ästhetisch einwandfreiem Gewand.“ Das liest sich wie eine Vorwegnahme zu Karlheinz Deschner. Verkörperte Karl Marx eine Wahrheit für den Westen Deutschlands in Heinrich Bölls Augen? „Dass die westliche Welt Karl Marx Dankbarkeit schuldet, obwohl die östliche sich zu diesem bekennt, scheint ein zu komplizierter Gedanke zu sein, als dass er Aussicht hätte, Karl Marx davor zu bewahren, unsern Kindern als Schreckgespenst geschildert zu werden.“ So Böll gleich auf seiner ersten Seite. Für ihn verschwindet hinter den Drohreden von Chruschtschow Wahrheit: „Die Erkenntnis, dass ohne Arbeiterbewegung, ohne die Sozialisten, ohne ihren Denker, der Karl Marx hieß, mehr als fünf Sechstel der heute Lebenden noch in einem dumpfen Zustand halber Sklaverei lebten“. Karlheinz Deschner würde nach solchem Satz bereits kurz vorm Amoklauf stehen: erst „Lebenden“, dann „lebten“. Ich verweise dazu auf meinen Text „Karlheinz Deschner schmäht Heinrich Böll“. „Marx würde heute nicht mehr sagen: Religion ist Opium fürs Volk, wahrscheinlich würde er sagen: Verbrauch ist Opium fürs Volk und deshalb Religion.“ Heute wird man durch Verbrauch sogar zum guten Menschen, wenn man „richtig“ kauft.
Böll hat einen wirklich pfiffigen Gedanken: dem Verbrauch als Opium des Westens stellt er ein Opium des Ostens entgegen. Und hier wurde es für die DDR bis ins sechste Glied undruckbar: „... so ist in der östlichen Welt – so zu verstehen, wie sie selbst sich deklariert – der „Marxismus“ selbst zum Opium geworden.“ Und weiter: „Marx zu kanonisieren, seinen historischen Materialismus der Jahre 1850 bis 1880 zu dogmatisieren, Lenin und Stalin als Inkarnationen von Marx zu erklären, das bedeutet, ihn auf eine bösere Weise zu verfälschen, als die westlichen Sozialdemokraten je fähig wären.“ Und dann direkt die DDR: „Im deutschen Teil dieser östlichen Welt hat man die schlimmste Pervertierung dieses „Marxismus“ gezüchtet; die Arbeiter werden in Opium essende Bürger verwandelt, die Intellektuellen werden – freiwillig oder unfreiwillig – in elfenbeinerne Türme eingesperrt, entweder Gefängniszelle oder Luxushotel. Es fehlt dieser Erscheinungsform eines marxistischen Staates auch nur der allergeringste Anschein, auf einer echten Revolution zu beruhen.“ Da tröstet kaum der Marx, der im Westen „zum Spielball für Snobs, die ihn kennen, so, wie man Proust kennt“, geworden ist. Ja, er hat sehr genau beobachtet, der Böll der frühen Jahre. Könnte es sein, dass das Marx-Jahr 2018 nichts anderes wird als die höhere Form jenes Snobismus?
„In der verhängnisvollen deutschen Neigung, blindlings zu parieren, hat man den historischen Materialismus angewendet, ohne das historische Material zu sichten, und so kam ein deutsches Wunder an Devotion und subalterner Gründlichkeit zustande, das Lenin zu einem teuflischen Lachen und Marx zu einem verächtlichen Spucken veranlasst hätte.“ Böll zitiert einen Brief, den Marx nach dem Verbot der „Rheinischen Zeitung“ schrieb, Köln hatte er eben verlassen, in dem es heißt: „In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.“ Böll zitiert das auffällig zustimmend und ist sich sicher, dass ein kommunistischer Redakteur im Osten, ein sozialdemokratischer im Westen 1960 das fast wörtlich auch an einen Freund hätten schreiben können. Und er fragt sich, woher Marx den Hass auf das ihn umgebende System eigentlich bezog. Es ist alles andere als heimatgeschichtliche Ambition, die den Kölner Böll zum Trierer Marx führt, er hat seinen Gegenstand mit ehrenwerter Gründlichkeit studiert und sich natürlich dafür interessiert, was den Sohn aus gutem Hause, den Verlobten einer adligen Schönheit zum Revolutionär machte. „Karl Marx war nicht verbittert, er hatte keinerlei Druck oder Not am eigenen Leibe erfahren, kein Hass war in ihm gezüchtet worden oder entstanden“, Neugier ist also Pflicht.
Noch ehe Böll sich selbst antwortet, schreibt er über Jenny von Westfalen, wie selten oder gar nie über sie geschrieben wurde von einem, der nicht Marxist, Marxologe oder Marxianer war. „Sie ist eine der Frauengestalten des neunzehnten Jahrhunderts, die von der deutschen Geschichte und Literatur auf eine beschämende Weise vernachlässigt worden ist.“ Und: „Sie war an Opfermut, Edelmut und Treue, als Mutter und Ehefrau nicht im geringsten der Frau unterlegen, die das bürgerliche Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts sich als Ideal erkor, der Königin Luise von Preußen; sie wäre der Ehre würdig gewesen, die „Königin Luise“ der Arbeiterklasse zu sein“. Und: „Das Bild der Freiin Johanna Bertha Julie Jenny von Westfalen … hätte eher einen Platz über dem Bett der Verkäuferin verdient, die ohne diesen gewissen Marx, der wiederum ohne seine Frau nicht denkbar ist, noch heute nicht nur um ihren Achtstundentag, um ihren freien Nachmittag, vielleicht auch noch um das Recht des freien Sonntags und das Recht, sich hin und wieder während ihrer Arbeitszeit setzen zu dürfen, kämpfen müsste.“ Und Böll schließt das Lob der Freundschaft von Marx und Engels an, „einer Freundschaft, die in der deutschen Geistesgeschichte ohne Beispiel ist“. Beides ist Heinrich Böll so wichtig, dass er es noch einmal, wie zum Mitschreiben, zusammenfasst.
„Es gibt keine Ehe und keine Freundschaft, die beispielhafter sein könnte als die Ehe von Karl Marx mit Jenny von Westfalen und die Freundschaft zwischen Marx und Engels.“ War das 1961 in Köln und Umgebung ein mutiger Satz? Oder der: „Er war von einer geistigen Lebhaftigkeit, die mit bloßer Intelligenz zu bezeichnen eine herabwürdigende Dummheit wäre.“ Heinrich Böll gesteht am Ende: „Bei diesem Versuch ging mir die eigentliche Problemstellung dieser Essay-Sammlung zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte verloren, weil sie sich als künstlich erwies: was an Marx jüdisch, an ihm deutsch war, ich wüsste es nicht zu sagen; in einem Lande, wo man sich selbst verfälschte, muss notwendigerweise auch diese Frage verfälscht werden.“ Und er wendet seine Kritik gegen die eigene Welt: „Die westliche Welt hat auf Marx geantwortet, indem sie das historische Material, das seinem historischen Materialismus zur Grundlage diente, geändert hat; sie hat sich damit in einen heillosen Materialismus manövriert, in den die Christen auf eine heillose Weise verstrickt sind, verstrickt in die Folgen eines Marxschen Irrtums, nicht in seine Wahrheit.“ Was hätte Böll zur chinesischen Spende eines übergroßen Marx-Monuments für die Geburtsstadt Trier gesagt? Sein Essay erlaubt keine eindeutige Antwort, neu lesenswert bleibt er allemal.