Annette Kolb: Um René Schickele
Als der S. Fischer Verlag 1954 das Buch „Blätter in den Wind“ von Annette Kolb auf den Markt brachte, herrschte weithin noch Verwirrung darüber, wie alt sie tatsächlich war. Hatte sie doch stets großen Wert darauf gelegt, ihr Geburtsjahr zu verheimlichen, selbst den exakten Tag nicht korrekt angegeben. So finden sich bis weit über ihren Tod 1967 hinaus in zahlreichen seriösen Quellen, in Nachschlagewerken, Nachworten, Zeittafeln zu ihrem Leben falsche Angaben: Geburtsjahr 1875, Geburtstag 2. Februar. Tatsächlich wurde sie jedoch am 3. Februar 1870 geboren, getauft am 13. Februar und natürlich ist sogar der Name des Benediktiner-Paters bekannt, der die Taufe vornahm. Somit wäre der 3. Februar 1954 ihr 84. Geburtstag gewesen, das neue Buch lesbar als eine gewisse Bilanz mit seinen vierzehn Texten, darunter einige sehr kurze wie „Die Ballonfahrt“ oder „René Schickele“. Vielleicht war das Alter der Autorin ein Grund, warum ihr Verlag alle Angaben zur Herkunft der einzelnen Beiträge vermied. Man musste schon Kenner sein, um von Erstdrucken zu wissen. Auch fehlte somit folgerichtig jeder Hinweis darauf, ob für diese Buchausgabe Änderungen vorgenommen wurden gegenüber Urtexten. Der Leser hatte hinzunehmen, was in seine Hand kam.
„René Schickele“ hieß ursprünglich „Um René Schickele“ und war zuerst im 61. Jahrgang 1950 der „Neuen Rundschau“ erschienen (S. 278 – 282). „Nicht nur die Toten reiten schnell“, schrieb Annette Kolb. „Sie scheinen heute von den Ereignissen überholt und zurückgedrängt. Als vor zehn Jahren René Schickele starb, wurde darauf hingewiesen, wie sehr ihn sein politischer Scharfsinn zeitlebens von allen zeitgenössischen Dichtern deutscher Sprache abseits stellte. Wenn wir aber meinten, dass sein geistige Bild in späteren Tagen und in einer anderen Luft sich immer deutlicher abheben sollte, so ahnten wir nicht, wie bald diese späteren Tage sich einstellen würden, denn schon ist diesem großen Elsässer das Relief einer höchst singulären und tragischen Figur zu eigen, und wohl haben sich indessen die Aspekte dieser Welt verändert, jedoch die Luft ist keine andere geworden.“ Der „Rundschau“-Beitrag war, nötig genug, müsste man heute sagen, darauf gerichtet, zum zehnten Todestag des Elsässers René Schickele Blicke auf ihn zu lenken, die eben nicht mehr selbstverständlich auf ihn fielen fünf Jahre nach Kriegsende. Am 31. Januar 1940 starb Schickele in Vence, seinem südfranzösischen Exil-Ort. Im Sonderstatus, dass er französischer Staatsbürger war.
Am 22. August 1950 schrieb Annette Kolb an Carl Jacob Burckhardt dies: „Die Münchner waren sehr nett zu mir, aber ein Stuttgarter Nazi hat mich in Stücke zerrissen, nur mich selbst ohne auf meinen Vortrag einzugehen, so schlau war er schon ich hatte nämlich meine Seiten auf Schickele vorgelesen“. Die Herausgeber der Briefsammlung „Ich hätte dir noch so viel zu erzählen. Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ (S. Fischer 2019), vermuten ziemlich sicher zu Unrecht, Annette Kolb hätte damals in München ihren kleinen Nachruf auf Schickele aus dem Jahr 1940 vorgetragen, gedruckt in „Maß und Wert“, der berühmten, von Thomas Mann und Konrad Falke herausgegebenen Exilzeitschrift. Warum sollte eine Autorin ausgerechnet einen zehn Jahre alten Text vortragen, wenn sie zum gleichen Gegenstand einen ganz neuen, ganz aktuellen zur Verfügung hatte, der allerdings und das wiederum ist kaum verwunderlich, auf dem alten fußte und sogar direkten Bezug auf ihn nahm, wie leicht zu zeigen ist. Wie auch immer: Die hochbetagte Autorin sah zweifelsfrei für sich eine wichtige Mission darin, auf den Mann aufmerksam zu machen, mit dem sie bis zu dessen Tod eine lange, wenn auch nie krisenfreie Freundschaft verbunden hatte.
Gestorben war der Freund an jenem 31. Januar, es war ein Mittwoch, gegen 6 Uhr morgens. Nach 30 Tagen Krankheit, begonnen mit Grippe, gefolgt von einer Rippenfellentzündung, verbunden mit hohem Fieber, war der schon lange an Asthma Leidende am Ende seiner Kräfte angelangt. Anna Schickele, die er stets Lannatsch nannte, sie sich auch selbst, wie das Typoskript zeigt, das sie zu seinem Lebensende hinterließ, hat sehr detailliert beschrieben, wie der Tod eintrat. „Die letzten Worte seines Lebens, wie seine ersten waren französische Worte. Seine letzten deutschen Worte, ehe der Arzt zurückkam, waren sehr eindringlich: „Lannatsch, du bist meine Liebe“. Am 3. Februar gab es die Totenmesse für ihn, zur Beerdigung kamen andere Emigranten, darunter Walter Hasenclever und Alfred Neumann, Theodor Wolff und der Rumäne Valeriu Marcu. Ich zitiere den Schickele-Biographen Hans Wagener: „Wenige Tage nach Schickeles Tod bestieg Anna Schickele das Schiff, das sie und ihren Mann zu ihren beiden Söhnen in den USA hätte bringen sollen. Nach dem Krieg kehrte sie zunächst nach Vence zurück, anschließend, 1951, in das Haus des Dichters in Badenweiler, wo sie am 12. November 1973 starb.“ Sechs Jahre nach der Nachbarin Annette Kolb.
René Schickele war, geboren am 5. August 1883 und somit Jahrgangsgefährte von Franz Kafka, Karl Jaspers, Joachim Ringelnatz, Alfred Wolfenstein, Ernst Stadler und Hermynia Zu Mühlen, um nur einige zu nennen, 13 Jahre jünger als Annette Kolb. Er heiratete und hatte Kinder, sie heiratete nie. Diese Konstellation hat vielleicht hineingespielt, als die erste heftigere Krise ihrer Freundschaft 1924 ausbrach, man wohnte bereits nebeneinander in Badenweiler. Sie wollte eine längere Reise nach Italien unternehmen, er sollte sie begleiten, wozu er nicht bereit war. Man kann in ihren Briefen an ihn nachlesen, wie verletzt sie sich zeigt und wohl auch war. Das nächste Mal, als er ihr Vorwürfe machte eines Buches wegen, an dem sie arbeitete, obwohl er eins zum selben Gegenstand plante: Aristide Briand. Und schließlich, 1932, fühlte sie sich von ihm in aller Form verlassen, als er nach Südfrankreich übersiedelte, noch ehe Hitler an die Macht kam und sie allein in Badenweiler zurückließ. Immer wieder versöhnten sich beide, Annette Kolb nutzte regelmäßig seine neuen Bücher, um ihn mit Komplimenten zu überhäufen. Dazu gab es in den Jahren der Weimarer Republik wie auch in denen des Exils bis zu seinem Tod reichliche Gelegenheiten, er war fleißig.
In dem Gedenkartikel „Um René Schickele“ wie auch in dem deutlich kürzeren Nachruf „René Schickele“ spart Annette Kolb aus, was ihr Schreiben sonst so farbig macht, so luftig, so pures Lesevergnügen bereitend: alles Episodische, alles Kleinmalerische, Anekdotische. Sie scheint gewillt, ein ganz bestimmtes Bild von ihm zu zeichnen, ihm, den sie vor allem als Gesprächspartner brauchte, als Kenner politischer und historischer Zusammenhänge. Beide Aufsätze verzichten auch darauf, Werke zu benennen. Kein Roman-Titel, kein sonstiger Titel aus seinem umfänglichen Werk tauchen auf, keinerlei Information aus ihren Wissensschatz, wie er arbeitete, wie er zu dieser oder jener Idee kam, natürlich auch nichts Privates. Obwohl sie doch sicher umfangreiches Wissen hätte ausbreiten können: beide hatte zahlreiche namhafte Bekannte, von denen zu klatschen gewesen wäre, beide absolvierten in Badenweiler gemeinsame Gänge. Sie folgte ihm im ersten Schweizer Exil nach Uttwil, wo er aber sein Haus in finanziellen Inflationswirren bald an Carl Sternheim weiterverkaufte, sie ließ neben seinem Grundstück in Badenweiler bauen. All das Denkbare, das Wünschbare an Informationen aber finden wir gerade nicht: weder 1940 noch 1950, letztlich nie.
Zutiefst vorwurfsvoll klingt, was Annette Kolb am 12. September 1939 an ihren einstigen Nachbarn schrieb: „Ach, es ist besser man schweigt sich aus, über alles Persönliche schon gar. Aber es ist durch Euer Schweigen, als hätte ich auch Euch verloren … Von Euch keine Zeile, wie nie gewesen. So verstumme ich halt auch.“ Noch am 20. Januar 1939 klang optimistisch, was sie an Thomas Mann mitteilte. „Ich bin erst seit wenig Tagen von Vence zurück fand Schickele wenn auch noch an seinem Asthma leidend in bester Form, wie seit langem nicht. …es geht wieder aufwärts mit ihm gottlob.“ Und noch etwas früher, am 22. August 1938, fast eine Beschwörung an Schickele: „Eines ist wahr: Wir haben beide einen grossen Menschenkonsum, aber es ist ein unlösbares Band zwischen uns beiden, des Geistes, der Reagenzien, der Gesinnung! etc. … Wir sind doch Stehaufmännchen, du und ich, wenn ich mich auch an das Liegen concentrieren werde müssen. Warum leben wir so weit auseinander! Gewöhnst du dich daran? Ich mich garnicht, je länger je weniger.“ Trotz großen Freundeskreises, trotz zahlreicher Freundinnen quer durch Europa, der Schwester Germaine in Irland, auf Freunde wie René Schickele konnte sie schwerer verzichten.
1940, im Nachruf, stand eingangs: „In späteren Tagen, einer anderen Luft, wird Schickeles geistiges Bild sich immer deutlicher abheben. Seine Freunde können heute nur die stille Macht ausrufen, die er verkörperte. … Selbst wenn dieser Meister der Sprache kein Werk zurückgelassen hätte, wäre er dennoch ein großer Dichter gewesen; ein Stück Weltseele war er vor allem; kosmischer war keiner, dabei kein Träumer. …Seine Gesinnung war eine Schule für ihn, ein Vorbild für uns.“ Darauf zielt sie 10 Jahre später. Da stellt sie die Frage, die wohl den Stuttgarter Nazi so in Rage brachte: „Wie hielte es vor so viel Wirrsal der arme René Schickele in seinem schönen Haus am Hügel noch aus, jenem äußersten Fort des Friedens, zwischen den Grenzen aufgerichtet? War er nicht undenkbar geworden in seinem Garten und dem Wald?“ Scheinbar weit weg von Schickele beendete Annette Kolb ihren Rundschau-Beitrag: „Am 27. Februar 1950 wurde in Mainz, das am 27. Februar 1945 ohne militärische Notwendigkeit zerstört wurde, die Bevölkerung angeregt, die Stadt auf Halbmast zu beflaggen und einen feierlichen Trauergottesdienst abzuhalten. Und sowohl an dieser Beflaggung wie an dem vom Erzbischof zelebrierten Hochamt nahm die französische Besatzung teil.“
Das war es, was sie an ihrem toten Freund vor allem lebendig halten wollte: den Mann des Friedens, den Europäer, der zuerst und vor allem die Aussöhnung von Frankreich und Deutschland wollte, den Pazifisten, der sich spontan an ihre Seite gestellt hatte, nachdem sie 1915 bei einem Vortrag in Dresden niedergebrüllt worden war, weil sie, unter anderem, den medialen Anteil an der nationalistischen Hetze im Krieg verurteilte. Schickele öffnete ihr die Seiten der nach dem Abgang von Franz Blei zum österreichischen Militär von ihm geleiteten „Weißen Blätter“. Somit dauerte ihre Bekanntschaft, die bald zur Freundschaft wurde, ein rundes Vierteljahrhundert an. Und mit 80 Jahren sah sie, was er 1950 im (westdeutschen) Nachkriegsdeutschland auch gesehen hätte: „Wer von ihnen nicht auf frischer Tat ertappt und vor Gericht gekommen war, der wusste von nichts, der war es nicht gewesen. Sein Neid richtete sich gegen die Aufrechten, er missgönnte den Opfern ihr Prestige und war darauf bedacht, es zu vernichten.“ 1940 aber war Schickeles Sterben und Tod ihr noch ganz gegenwärtig: „Die seltene Gnade eines solchen Sterbens – dies Ausatmen! – war gewiss der würdige Abschluss eines solchen Lebens.“ Manchmal sind solche Wunschbilder mehr als das.