"Wilhelm Tell": Fontanes Kritiker-Premiere
Ob Theodor Fontane am 17. August 1870 bereits den Parkettplatz innehatte, der ihn in allen Kritiker-Jahren für die „Vossische Zeitung“ fortan begleitete: Nummer 23, ist nicht sicher überliefert. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist: Hier begann ein Mann eine Berufslaufbahn für die folgenden knapp zwanzig Jahre und wer vielleicht denken mochte, dieser Balladen-Dichter und Kriegsberichterstatter, dieser Wanderer, dieser England-Korrespondent sei eine potentielle Fehlbesetzung, sah sich fast umgehend eines Besseren belehrt. Hier schrieb einer professionell und gut über Theater, Stück, Darsteller, Regie spielte damals, es sei vorsorglich in Erinnerung gerufen, noch nicht die Rolle, die sie heute und das auch schon wieder seit langem, spielt. Fontane blieb auf das Königliche Schauspielhaus spezialisiert, beschränkt wäre Fall der falsche Begriff. Da zu seiner Zeit aber das Einzel-Gastspiel von Darstellerinnen und Darstellern eine ganz andere Rolle spielte als später, sah er nicht selten Stücke nur deshalb immer wieder, weil bestimmte tragende Rollen innerhalb existierender Inszenierungen immer wieder einmal mit anderen Gästen besetzt wurden.
Ich müsste lügen, wenn ich diese Praxis nicht immerhin so reizvoll fände, sie innerhalb von zu bestimmenden Grenzen einer Wiederbelebung für würdig zu halten. Nie hätte Fontane, wie hundert Jahre später bestimmte Großkritiker, sich selbst in der Luft begegnen können (wie es ein seither ein wenig verstaubter Witz über unseren „ewigen“ Außenminister Genscher behauptete), um direkt aus dem Thalia in Hamburg nach Salzburg, von dort nach Köln und in die Münchener Kammerspiele zu fliegen, alles für eine Sammelkritik im Groß-Feuilleton. Fontane, der Wanderer, ging überwiegend zu Fuß zum Gendarmenmarkt und zurück, er schrieb aber auch schon Texte, die man heute gängig Nachtkritik nennt, denen eine ausführliche Behandlung bald nachfolgte. Ein Nachfolger Fontanes bei der „Vossischen Zeitung“, Arthur Eloesser, den Fontanes Nachfolger im Amt, Paul Schlenther, ins Haus holte, war anfangs sogar ausdrücklich als Nachtkritiker engagiert. Das sei vermerkt, weil Eloesser in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag hatte und gerade in diesen Tagen und Wochen etwas wie eine massivere Wiederentdeckung seines umfänglichen Werkes mit viel Energie betrieben wird.
Fontane sah am 17. August 1870 den „Wilhelm Tell“, am 19. August stand seine Kritik in der „Vossischen Zeitung“, sie stellt somit für Fontane-Freunde und auch sonst ganz sachlich das Dokument seine Kritiker-Premiere dar. Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass er nie zuvor über Theater geschrieben hätte. Das wichtigste einschlägige frühere Werk heißt „Shakespeare auf der modernen englischen Bühne“ und besteht aus insgesamt neun Briefen zu neun Inszenierungen von neun verschiedenen Shakespeare-Stücken an verschiedenen Londoner Theatern. Eine solidere theaterhistorische und theaterpraktische Basis-Bildung ist kaum denkbar. Aus autobiographischen Schriften, insbesondere auch aus Briefen wissen wir zudem, dass Fontane eine Gelegenheit, ins Theater zu gehen, selten ausließ und auch seine Kinder schon zeitig dazu animierte und sie gern begleitete. Gleich diese erste gedruckte Kritik belohnt es, sich ihr näher zuzuwenden, auch wenn der Kritiker später noch weitere fünf Kritiken zum Schiller-Klassiker aus dem Jahr 1804 schrieb. Interessant ist eine spätere autobiographische Reflexion dieser Premiere: beinahe als Kommentar.
Wer die Inszenierung verantwortete, wird von Fontane gar nicht erwähnt. Es war Theodor Wünzer (1831 – 1897), der nach einem Gastspiel 1869 sofort ans Königliche Schauspielhaus engagiert worden war und eben 1870 auch schon zum Regisseur ernannt wurde. Vorherige Stationen seiner Bühnenlaufbahn waren Weimar und Meiningen, in seinem Berliner „Tell“ spielte er selbst den Stauffacher. Was in „Wilhelm Tell“ zu erleben ist, erwähnte Fontane ebenfalls nicht, er setzte die Kenntnis des Stückes bei seinen Lesern schlicht und einfach voraus. Es gibt Redakteure, die das heute nicht durchgehen lassen würden, sie haben sich für ihre Blätter eine Dienstleistungs-Philosophie erdacht, die sie auch da angewendet wissen wollen, wo davon auszugehen ist, dass die Leser der betreffenden Beiträge eben nicht Menschen sind, die normalerweise nur die bunte Seite und die Katastrophenmeldungen lesen. Fontane hatte das große Glück, souverän sein zu dürfen. Und er setzte nicht nur Stückkenntnis voraus, sondern sogar Kenntnisse der Wirkungs- und der Inszenierungsgeschichte. Die heute aus Theaterkritiken weitgehend verschwunden sind. Leider.
So schreibt Fontane denn beispielsweise: „Rücksichtnahmen, die vielleicht zu Schillers Zeiten noch unerlässlich waren, sind es heute nicht mehr.“ Der Kritiker Fontane, wir halten es fest, war von Beginn an ein besonnener Kritiker: er hielt Rücksichtnahmen nicht für Teufelszeug, das mit dem Kritiker-Beelzebub ausgetrieben gehört. Tyrannenmord auf der Bühne macht sich nicht nur in forciert tyrannischen Zeiten und Gegenden eher unbeliebt, Schiller selbst verzichtete für die ersten Aufführungen am Weimarer Hoftheater vor allem auf die berühmte Parricida-Szene, aber auch ohne größere Skrupel auf den gesamten fünften Akt, den Goethe etwa ganz und gar überflüssig fand. Die Schere im Kopf, will das heißen, ist keineswegs erst im real existierenden Sozialismus erfunden worden, sie hat eine sehr solide Geschichte hinter sich und allem Anschein nach in unseren Zeiten eine weitere Geschichte vor sich. Die Zensur-Behörde ist heute nur noch in komischen Gegenden aktiv, sie wird bestens ersetzt durch allerlei Arten von Wächterräten, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht und es strenger tun als die Presseabteilungen alter Politbüros in all ihrer Dummheit.
Man darf, will ich behaupten, Fontanes Eingangsformulierungen als milde Satire lesen, die Behauptung lässt sich stützen auf seinen späteren Rückblick in „Kritische Jahre – Kritikerjahre“ aus dem autobiographischen Nachlass. 1870 schrieb Fontane: „Es ist herkömmlich geworden, in großen nationalen Momenten unseren nationalen Dichter zum Volke sprechen zu lassen. Ein Glück, das wir ihn besitzen, dass seine vor allem spruch- und gedankenreichen Schöpfungen uns, für alles, was kommen mag, bereits einen geprägten, längst Allgemeingut gewordenen Ausdruck überliefert haben, der zu rechter Stunde seine ursprüngliche Frische zurückgewinnend, neuzündend in alle Herzen schlägt.“ Das hat sogar eine gewisse scheinheilige Perfidie, denn Fontane war 1859, als das große Schiller-Jahr ganz Deutschland in eine, man kann es fast sagen, Schiller-Hysterie versetzte, ein schon sehr erwachsener Mann mit einer sehr erwachsenen Weltsicht. Schillers ursprüngliche Frische ist weg, genau das sagt der Kritiker, aber sie kann, nur zu bestimmter Stunde freilich, neuzündend in alle Herzen schlagen. Und das sei ein Glück, behauptet Fontane gespielt ernst.
„Einer Situation, wie der gegenwärtigen, entspricht nichts besser, als der Tell. Er enthält kaum eine Seite, gewiss keine Scene, die nicht völlig zwanglos auf die Gegenwart, auf unser Recht und unseren Kampf gedeutet werden könnte“, schreibt Fontane und ist genau deshalb erfreut über ein Publikum, „das nicht stichwortbegierig mit seinem Beifall im Anschlage lag“. Fontane lobte den Schauspieler Gustav Carl Berndal (1830 – 1885), der von 1854 bis zu seinem Tode am Königlichen Schauspielhaus engagiert war und hier den Tell spielte, für sein fast hastigen Übergehen der Schlagwort-Stellen: „Nichts wirkt verstimmender, als solche Schlagworte mit einem gewissen feierlichen Zurechtrücken von Geist und Körper ausgesprochen zu sehen.“ „Was wir uns selber sagen“, so Fontane unmissverständlich, „darf uns nur einer nicht sagen, und dieser eine ist Tell.“ An Therese Breitbachs (1827 – 1927?) Darstellung der Hedwig lobte der Neu-Kritiker „Naturklänge, ansprechend, zu Herzen gehend, Klänge, die immer seltener werden.“ Als „Glanzpartie des Abends“ aber bezeichnete Fontane den Gessler Siegwart Friedmanns (1842 – 1916). Und der bedankte sich.
Das aber wissen wir erst aus dem späten autobiographischen Rückblick Fontanes, der schon erwähnt wurde. „Ich fand die Vorstellung ziemlich langweilig, Friedmann aber sehr gut. Ich sprach das Lob auch aus, und zwar ganz ohne Einschränkung. Am zweiten Tag (damals ging es noch nicht so flink) stand es im Blatt und schon gegen Mittag hatte ich einen Brief von Friedmann“. Diesem Brief schreibt Fontane nicht nur starken Eindruck, sondern auch Einfluss auf seine künftige Schreibweise zu, „ich habe vermieden mit der Linken wieder zu nehmen, was ich mit der Rechten eben gegeben hatte.“ Man müsse freilich vorher von einer Leistung auf der Bühne hingerissen sein, dann „muss man sich die Freude des herzlichen Lobenkönnens nicht durch Hervorhebung missglückter Kleinigkeiten selber verderben. Man schädigt sich dadurch in seinem eigenen Genuss.“ Das ist mehr Fontane, als man glauben möchte. Der war nämlich ein Genießer, ein Kulinariker, auch wenn lange Zeiten seines Lebens die Mittel dazu knapp bis zu knapp waren. So stellt sich ein großer Theaterkritiker ganz unauffällig selbst in Szene, schreibt, wie er eben ist.