Wolfdietrich Schnurre 100

„Unterm Fallbeil der Freiheit“ heißt ein sehr früher Text von Wolfdietrich Schnurre. Er eröffnet den 1964 im Walter-Verlag Olten und Freiburg im Breisgau publizierten Band „Schreibtisch unter freiem Himmel“, in dem der Autor Schriften aus den Jahren 1946 bis 1964 versammelt, die er selbst „zeitkritische Arbeiten“ nennt. Beschrieben ist, was man heute wohlfeil und leichthändig mit dem sperrigen Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnet. Im Kriminalfilm der jüngeren Zeit stellt diese Störung gern psychologische Erklärungen für schwere und schwerste Straftaten bis zu Serienmord bereit, Soldaten haben dann in Afghanistan diese oder jene schweren Erlebnisse gehabt, mit denen sie nicht fertig werden können. Immer, wenn ich solch einen Film sah, stellte sich mir die Frage, ob diejenigen, die den schlimmsten Krieg aller Zeiten, den II. Weltkrieg, überlebten, je unter dem Gesichtspunkt solcher Traumata betrachtet oder gar behandelt wurden. Mein Vater, ein knappes Jahr jünger als Wolfdietrich Schnurre, dessen 100. Geburtstag wir heute begehen, sprach noch kurz vor seinem Tod 2005 von schneebedeckten Leichen in Königsberg, es ging ihm nahe.

In „Unterm Fallbeil der Freiheit“ von 1946 lesen wir: „Ich kann keinen Zug mehr sehen. Ich denke immer, ich sitze im Fronturlauber nach Lemberg.“ Und: „Ich verbreite nur Bedrückung um mich. Keiner Güte, keiner Freundlichkeit bin ich mehr fähig. Was ich anfasse, wird grau. Was ich sage, klingt schrill. Ich bin ständig mit mir selber zerfallen.“ Während eines Spaziergangs ertappt er sich, wie er plötzlich den Horizont absucht: „Ich hatte Geländedienst; die Natur war mit meinen Ängsten im Bunde.“ Vieles von dem, was sich heute noch und immer wieder über Wolfdietrich Schnurre sagen ließe, wäre schon an diesem knapp fünf Druckseiten langen Text vorzeigbar bis hin zu seiner unausrottbaren Vorliebe für das Semikolon. „Ich kann seit Woronesh keinen Schnee mehr sehen. Ich kriege Zustände, wenn ich über einen freien schneebedeckten Platz muss.“ Das ist klar gesagt, so klar, wie Schnurre es andernorts für die Kurzgeschichte gefordert hat. Keine Erklärungen, hieß es, eher Andeutungen. Wenn er in der Geschichte „Der Aufbruch“ das alte Paar Sally und Avrom aus jahrelangem Kellerversteck aufbrechen lässt, um zu dem Friedhof zu gelangen, auf dem Rachel liegt, dann entstammt das Qualbild des Weges dorthin sicher auch dem Schnee von Woronesh.

Dass Sally und Avrom uns im Roman „Ein Unglücksfall“ neu und sehr viel ausführlicher begegnen, wissen Schnurre-Freunde natürlich, die Frage wäre allenfalls, wie viele es von denen noch gibt. Denn schon früh, in den fünfziger Jahren, ist ebenso oft, wie sein Name in einen Zusammenhang mit Heinrich Böll und Wolfgang Borchert gestellt wurde, auch die Frage aufgeworfen worden, warum sein Erfolg sehr viel geringer ausfiel als der dieser beiden Generationsgefährten mit weithin identischem Erfahrungshorizont. Der jedoch, das muss heute sofort deutlicher gesagt werden, so sehr weithin identisch gar nicht war. Denn es ist ein Riesenunterschied, ob man in Frankreich ein friedlich lebender Besatzungsoldat war, der die Gattin zu Hause mit Raritäten und Alltagsgütern belieferte und im Gegenzug auf frische Pervitin-Lieferungen wartete, wie Böll, oder ob man an der Ostfront Leichen aus dem Schnee holte und beste Freunde sterben sah. Ob das Bekenntnis, ein Deserteur gewesen zu sein, dem heimgekehrten Schnurre sehr geholfen hat, darf bezweifelt werden, wenn man weiß, dass eine allgemeine Rehabilitierung von Deserteuren bis heute schwierig ist.

Als Wolfdietrich Schnurre 1983 von der Akademie in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, die Laudatio hielt Karl Krolow, der sich in den Jahren 1956, 1979 und 1982 schon schriftlich zu Schnurre zu Wort gemeldet hatte, überraschte er die Hörer seiner Dankesrede mit einem irritierenden Einstieg: Schnurre zählte auf, wofür er das reichliche Preisgeld zu brauchen gedachte: „Eine ungeheure, zu Literatur kaum in Relation zu setzende Summe, die einem da zufällt. Es stecken mindestens die Jahrespacht für das alte Bauernhaus am Elbdeich und die Lebenshaltungskosten für, grob geschätzt, anderthalb Jahre darin, umgerechnet auf zwei Personen, vier Pferde, einen Bobtail, zwei Katzen, einen Kakadu, ein Meerschweinchen allerdings noch. Denn es gilt ja auch die Schulden zu tilgen, die beim Installateur, beim Schornsteinfeger vor allem.“ Das letzte insbesondere muss man sicher nicht zu ernst nehmen: wer Schulden beim Schornsteinfeger hat, sollte vielleicht Pudel Ali als Ratgeber heranziehen, auch wenn der nur eine Kunstfigur ist bei Schnurre. Der sich auch deshalb freut, dass der Preis „immens angeschwollen“ ist im Zeitenlauf.

Schnurre macht deutlich, und von solchen Provokationen lebt natürlich der Literaturbetrieb, dass ihm der Namenspatron seines Preises weniger bedeutet, als andere Preisträger es für sich behauptet haben, was er dann auch gleich mit bezweifelt, wo es die Wahrhaftigkeit des Bekenntnisses betrifft. Nicht dass Schnurre die Werke Büchners, die jeder zu kennen vorgibt, nicht nennt, aber er schiebt sie beiseite. Ihn interessieren die Untersuchungen „Über das Nervensystem der Fische“ und die Probevorlesungen „Über Schädelnerven“ mehr als „Dantons Tod“, als „Leonce und Lena“, selbst „Woyzeck“, einzig der „Lenz“ hat einen etwas längeren Auftritt auf der Schnurre-Bühne. Schnurre spricht seinen „Doktor Büchner“ direkt an, mehrfach und immer mit Unterton. Schlecht klingt das keineswegs: „Am glaubwürdigsten sind unsere Helden merkwürdigerweise noch immer, wenn etwas schiefläuft mit ihnen, wenn sie versagen, wenn sie zugrunde gehen an den Problemen; Doktor, finden Sie nicht-?“ Wir verdanken dieser Rede detaillierte Aussagen zu Schnurres Genesung nach der Polyneuritis, die ihn zu einem sehr langen Krankenhausaufenthalt zwang.

Dass die Lähmung des gesamten Nerven- und Muskelsystems im Juli 1964 eine Folge des Selbstmordes seiner ersten Frau Eva am 2. November 1965 war, wie es offenbar vollkommen desorientiert der Kritiker der „Süddeutschen Zeitung“ im Dezember 1978 behauptete, als er über Schnurres neues Buch „Der Schattenfotograf“ schrieb, ist schon von den nackten Daten her Unfug. Schuldgefühle kann der Autor natürlich trotzdem gehabt haben, war er doch, was das Thema Schuld angeht, nach seinen sechseinhalb Soldatenjahren auf der falschen, der deutschen Seite, wie er es formulierte, auf ganz eigene Weise sensibilisiert. „… was heißt denn hier Schuld. Schuldig sind wir alle; da liegt der Unterschied nicht. Was wir aus unserm Schuldgefühl machen, wie wir uns einrichten mit ihm – darauf kommt’s an.“ So steht es in der Geschichte „Die Tat“, so wird es besonders gern zitiert von allen, die Schnurres Positionen kennzeichnen wollen in den Jahren nach 1945. Seine Frage an Büchner steht noch unbeantwortet: „Hat es eigentlich in Deutschland keine anderen politischen, human-revolutionären Schriftsteller gegeben, als immer und immer nur Sie?“

Ist die Frage nicht berechtigt, ob Büchner ohne den nach ihm benannten Preis auch so oft genannt und bedacht würde, wie es bis heute mindestens alljährlich geschieht? Wolfdietrich Schnurre hat im Lauf seines Autorenlebens auch andere Preise bekommen, 1959 den Immermann-Preis, 1962 den Georg-Mackensen-Preis. Den Kulturpreis der Stadt Kiel 1989 konnte er nicht mehr selbst in Empfang nehmen, das Bundesverdienstkreuz 1981 sehr wohl, das freilich nicht zwingend unter die Literaturpreise gerechnet wird. Als er als Empfänger eines Förderstipendiums (1986) einen Auftritt bei den Kranichsteiner Literaturtagen verweigerte, gab es medialen Gegenwind und es zeigte sich, wie wenig die Öffentlichkeit von den finanziellen Verhältnissen auch der vermeintlich versorgten Autoren weiß. Was freilich immer klappt: Neid wecken bei Ahnungslosen. Insofern ist es mehr als verblüffend, wenn naserümpfend von den Arbeiten geschrieben wird, die ihren Schöpfern etwas mehr einbringen als Gedichtbände und Kurzgeschichten-Sammlungen: von Fernsehfilmen und Hörspielen. Auf beiden Feldern war Schnurre fleißig, die Werklisten dazu sind verblüffend lang.

Wer die angebliche Erfolglosigkeit Schnurres thematisierte, kam auch darauf, dass er keine Romane schrieb und weil Schnurre das wie die Schein-Debatten darüber natürlich kannte, schrieb er auch bisweilen Sätze auf, die zu erklären vorgaben, warum er keine Romane schreibe: er habe zu viel Phantasie, hieß es einmal. Man kann solche Erklärungen ernst nehmen, muss aber nicht. Man muss auch nicht jenen folgen, die kurze Texte mit stupider Einfallslosigkeit als Vorarbeiten zu Größerem sehen und dann Enttäuschung heucheln, wenn das Größere ausbleibt. Ich sage es einmal zugespitzt: Ein Buch wie „Die Aufzeichnungen des Pudels Ali“ wiegt (für mich) ganze Roman-Reihen auf, es fällt unter jene Spezies von Büchern, die man mit auf die berühmte Insel nehmen kann mit deren Einreisebeschränkungen für Gedrucktes: Seite für Seite Herrlichkeiten, Phantasie, Verrücktheiten in Serie. Und mitten drin auch solche Passagen: „Das Buch eines Knaben gelesen, der über einen dieser Kriege nicht wegkommt. Dauernd will er, soll uns, was ihn damals entsetzte, jetzt noch mal erschrecken; sein Buch ist ein einziger Racheakt. Aber haben wir, die Leser, denn schuld, dass es dem Autor so übel erging? Soll er sein Buch den Feldwebeln zur Pflichtlektüre empfehlen.“

Man kann das als Rücknahme von Programm sehen, man kann aber auch einfach sagen, dass Autoren natürlich jedes Recht haben, Dinge von mehreren Seiten zu betrachten, es gibt keinen Zwang zur Gleichzeitigkeit der Perspektiven, vor allem aber gibt es auch das, was man simpel Selbstironie nennen darf. „Die Aufzeichnungen des Pudels Ali“ wimmeln von Sätzen gegen ein bestimmtes intellektuelles Gehabe und Getue, sie ziehen immer wieder einmal Literatur-Betrieb, sogar Theater-Betrieb durch den Kakao. Und dann gibt es von Schnurre auch diese Geschichten von Bruno und seinem Vater. Ich las die Nachlass-Sammlung „Als Vater sich den Bart abnahm“ vor der berühmten Sammlung zu Lebzeiten „Als Vaters Bart noch rot war“ (1958 zuerst) und es geht gut. Man braucht keine chronologische Ordnung. Die Geschichten stehen alle für sich, so sehr sie zunächst auch als „Roman in Geschichten“ verkauft wurden. Gibt es schönere Vater-Sohn-Geschichten als diese? Die ganz nebenbei, aus kindlicher Perspektive, die natürlich bisweilen überfordert wird, Zeit vorführen: Weimarer Republik, Nazizeit. Manche Geschichten zum Umfeld mit Bruno und Vater, der Tiere präpariert und einen sehr eigenen, sehr stolzen Stolz hat, stehen auch in anderen Bücher und andere Bücher bekommen bisweilen sogar neue Titel, was machts?

Zu Wolfdietrich Schnurres 60. Geburtstag hielt seine drei Jahre jüngere Kollegin Ingeborg Drewitz eine Rede. Sie fand einen schönen Schluss mit einem Zitat des Jubilars: „Allgemeinverständlich schreiben heißt, seiner Sprache nicht anmerken lassen, dass auch in ihr gedacht worden ist.“ Sie erinnert sich der ersten Lesung mit Schnurre nach dessen Genesung von seiner Polyneuritis: „Weil unsere Tochter gerade heute den Arm gebrochen hat, … sagen wir den Nachtrunk in der Goethestraße ab, um nach dem Kind zu sehen.“ Gemeint ist die Goethestraße 29 in Zehlendorf, man muss es wissen, denn Berlin hat nicht weniger als 13 Goethestraßen mit je unterschiedlichen Postleitzahlen. Drewitz besucht ihn: „Er zeigt mir die Wohnung, die vielen Steiftierchen Evas. Ich ahne, was zwischen beiden erfroren sein muss. Die Unfähigkeit, Tröstliches gegen das Entsetzen auszusagen.“ An seinem Grab wolle Schnurre, verriet die Rednerin, nur Johann Peter Hebels „Unverhofftes Wiedersehen gelesen“ haben. Bis dahin neun Jahre, die auch Jahre mit der zweiten Frau Marina waren und Jahre mit Nenad, dem angenommenen Kind. Schnurre war immer Sohn.

Schaut man sich die schließlich doch recht lange Liste von Namen an, die sich seit den frühen fünfziger Jahren zu Wolfdietrich Schnurre äußerten, dann ist der berühmteste natürlich auch heute nicht zu vergessen: Heinrich Böll. Zweimal, beide Male 1953, ließ er sich zu Büchern von Schnurre vernehmen, später allerdings nie wieder, warum auch immer. Und, auch das darf auffällig genannt werden, beide Arbeiten, geschrieben für „Welt der Arbeit“ (6. März und 22. Mai 1953) fanden keine Aufnahme in die neunbändige Ausgabe der Schriften und Reden Bölls, erst die Große Kölner Ausgabe druckte sie neu in Band 6 und Band 7, ich danke dem Verlag Kiepenheuer & Witsch, der sie mir freundlich und schnell zur Verfügung stellte. Böll sah in „Die Reise zur Babuschka“ eine Meisterzählung und hob für den Band „Die Rohrdommel ruft jeden Tag“ hervor: „Schnurre hat ein Verhältnis zur Natur, zu Tieren, Schilf, Blumen, und in seinen Erzählungen herrschen Kinder und kindliche Menschen vor“. Zu den „Aufzeichnungen des Pudels Ali“ fiel Böll nicht viel mehr ein als eine verlocken wollende Inhaltsangabe. Womit bewiesen wäre, dass auch die ganz Großen bei passender Gelegenheit mit von der Partie waren, wenn es galt, Buchmarketing als Kritik zu tarnen.


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