Felicitas Hoppe 60

2003 war die westdeutsche Welt noch in Ordnung. Unbedrängt von heranrückenden Jubiläen deutscher Einheit rief der Journalist und Buchautor Thomas Steinfeld – und 30 folgten. Dreißig Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland, das es ja nun seit ein paar Jahren wieder gab, unterzogen sich auf je eigene Art der Übung, über „Deutsche Landschaften“ zu schreiben, so der spätere Buchtitel im S. Fischer Verlag. Immerhin fünf der 30 lassen sich als „Ostdeutsche“ auffassen: Ingo Schulz widmete sich dem Darß, Monika Maron Vorpommern, Günter de Bruyn der Mark Brandenburg, Wolfgang Hilbig dem Meuselwitzer Revier (vor diesem Buch sicher die unbekannteste aller deutschen Landschaften) und Lutz Sailer Ostthüringen. Berlin war als Landschaft offenbar nicht vorgesehen, obwohl immerhin drei der beteiligten Autoren dort geboren wurden. Dennoch ist das Buch selbstredend kein Fall für den Diskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung. Außerdem wird ein Verlag natürlich nicht vorrangig Autoren präsentieren, die mit ihm selbst nichts zu tun haben, womöglich bei der Lieblingskonkurrenz publizieren. Kurzer Rede, langer Sinn: Felicitas Hoppe, in Berlin lebend (damals) und in Leuk (Schweiz) später auch, fiel das Weserbergland zu, weil sie aus Hameln, der Stadt mit dem Rattenfänger, in die weite Welt kam.

Was schrieb sie über das Weserbergland und vor allem Hameln? Schöne Sätze über ihren Vater, „erster und einziger Kapitän der Oberweserdampfschifffahrtsgesellschaft“. Der „nahm jeden Wechsel gelassen, er ist von Natur aus historisch.“ Wohl jedem (und jeder), der solchen Vater hat: „Er war ein Taschenspieler der Geschichte, ein Geschichtenerzähler, der, um uns die Wanderzeit zu verkürzen, Preise auslobte für die richtige Antwort.“ Felicitas Hoppe ist drittes von fünf Kindern, wie man in einer Zeitung aus Hameln nachlesen könnte, wenn man sich einen Pass kaufte, um dort für einen Tag zu lesen, was man eigentlich nur kurz sehen und ausdrucken möchte. Dergleichen Angebote ignoriere ich, auch wenn ich zutiefst verstehe, dass diese Blätter alle Umsatz generieren müssen, wie das gut journalistisch heißt. Weil die Anzeigen ins Internet und in die bunten Beilagen gerutscht sind und auch sonst keiner mehr lesen will, was gedruckt wird. Man liest, was sich bei Berührung öffnet. „Alles hat uns unser Vater gezeigt, er war zugereist und ortskundig aus Leidenschaft.“ Und: „Falls er überhaupt jemals etwas erfand, erfand er es ehrlich und überzeugend. Sein Fundus war unerschöpflich.“ Hoppes Text trägt den Titel „Idyllen des Verschwindens“. Nicht ausgeschlossen, dass sie dabei an berühmte „Furien des Verschwindens“ dachte, die Hegel-Formel.

Oder an Hans Magnus Enzenbergers Gedichtband aus dem Jahr 1980. An den Krimi von Christine Calissano konnte sie nicht gedacht haben, der erschien erst deutlich später. Idyllen sind in diesem Falle etwas wie Gegenbilder der Furien, die Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ in den Zusammenhang der Freiheit stellte. Um die geht es letztlich auch dem Erinnern an erste neunzehn Lebensjahre, Jahre in Hameln, Jahre mit dem Figurentheater am Hochzeitshaus. „Doch wer möchte Chronist sein statt Abenteurer und Zeuge statt Held in dieser harmlosen Weserlandschaft von Kindern, Dichtern und Märchenerzählern, in der man bis heute darüber streitet, wie die Sache tatsächlich gewesen ist.“ Hoppe ist irgendwann gegangen, sie hat studiert, wie es in den anderen deutschen Landschaften kaum vorstellbar war, die 1990 eingemeindet wurden, drei bis fünf Fächer an drei bis fünf Universitäten in zwei bis vier Ländern und am Ende ist dennoch irgendetwas herausgekommen. Aber eigentlich weiß ich längst, dass man dort, wo dies möglich war, jedes Wochenend-Blockseminar als eigenes Studienfach zählte im Lebenslauf, der solcherart dann junge Universalgenies auswies, die freilich meistens alles waren, nur das gerade nicht. Verschwinden kann nur, was vorhanden war, Verschwinden kann man nur dort, wo eigenes Dasein voranging.

„Denn es sind nicht die Landschaften, die uns abhanden kommen, wir kommen stattdessen der Landschaft abhanden wie unserer Kindheit, die sich langsam von uns ablöst, um das zu werden, was wir später leichtfertig Erinnerung nennen.“ Das Wort leichtfertig bezeichnet den Beitrag Felicitas Hoppes zu Phänomenologie und Soziologie des Erinnern. Man muss es nicht erläutern: jeder kennt es, würde es nur nie bei sich selbst leichtfertig nennen. Das übernehmen, könnte man mit mildem Pathos behaupten, die Dichter. Die gelegentlich auch Selbstinterpretationen zu Papier bringen, obwohl sie das angeblich überhaupt nicht mögen. Ich weiß nicht, wie es sich im Hoppe-Fall verhält: jedenfalls eröffnet sie Heft 207 von „Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur“ mit einem Beitrag zu ihrem eigenen Buch „Hoppe“. Womöglich hat in den sehr zahlreichen Besprechungen dieses Buches, 2012 erschienen, dem Jahr, als sie auch den Georg-Büchner-Preis bekam, dies oder das nicht so gestanden, wie es die Autorin gern gelesen hätte: man liest ja Kritiken, auch wenn man behauptet, keine zu lesen. Dort steht über den Auslandsgermanisten Hans Herman Haman, den sie natürlich erfunden hat: „Er ließ alles zu und hütete sich, jemals Kritik zu üben.“ Da bin ich als Inlandskritiker dünnhäutiger, kann über schräge Bilder nicht hinwegsehen, von wem sie auch sind.

Ich will gar nicht in Frage stellen, dass man Schreiben mit Schiffsbau vergleichen darf. Nur sollte man dann nicht behaupten, dass der Name des Schiffes Einfluss auf die Dauer der Seetüchtigkeit hätte. Nein, das hat er nicht, auch wenn die „Bismarck“ sich hinsichtlich ihres Verbleibs im aktiven Schiffsregister nicht mit der „Völkerfreundschaft“ messen konnte. Gut denn, der erfundene Haman ähnelt schon mit dem wenigen, was ich von ihm lese, dem Vater, den die Tochter nicht erfinden musste und das macht ihn umgehend sympathisch. Sympathisch ist auch eine Liebeserklärung, die Felicitas Hoppe sich von der FAZ entlocken ließ, lang ist es her inzwischen, dass fünfzig Autoren einen gehobenen Schulaufsatz „Mein Lieblingsbuch“ verfassten, alle standen erst in der Zeitung und später wurde daraus sogar noch ein rotes Buch. Hoppe nahm sich „Grimms Märchen“ her: „Was haben wir nicht alles gelesen, was hat man uns nicht ans Herz gelegt, auf was kauen wir nicht mühsam herum, was haben wir nicht versucht zu verdauen? Ich bin so satt, ich mag kein Blatt!“ im Buch sieht man darunter einen rücklings liegenden Wolf, eine Geiß mit einer Schere und daneben eines von sieben Geißlein, wir ahnen, was gleich geschieht. „Im Märchen sind wir zu Haus und gerettet, das pfeift auf Charakter und pfeift auf das Nichts und füllt jede Leere mit Wünschen auf.“

Bevor Harold Brodkey über „Die Geschichte meines Todes“ schreibt, steht bei Hoppe noch dieses: „Denn das Märchen scheut vor gar nichts zurück, wirklicher ist die Welt nicht zu haben. Wer die Tochter des Königs will, muss durch die Hölle und kommt mit drei goldenen Haaren zurück.“ Dagegen ist wenig einzuwenden. Wer den biografischen Angaben folgt, erkennt bedarfsweise mit Bewunderung oder Neid, dass Felicitas Hoppe zu jenen gehört, bei denen die Liste der Stipendien und Preise länger ist als die Liste ihrer Bücher. Die ohne Preis nennen das Preisabwurfplatz. Das hat mit der Freiheit zu tun. In der diktatorischen DDR konnten selbst bedeutungsfreie Schriftsteller von ihrem Treiben und Tun leben, niemand zwang sie, zu jeder Buchmesse ein Werk auf den Markt zu werfen, den es mit Blick auf Papierkontingente ohnehin nicht gab. Man leitete ein, zwei Zirkel und dichtete ansonsten friedlich vor sich hin. Im Westen dagegen konnte damals wie heute (mit wenigen Ausnahmen) der Schriftsteller vom Schreiben nicht leben. Selbst oder gerade die Bekanntesten (die Bekanntheit kommt aus dem Feuilleton und den Buchsendungen des Fernsehen, nicht vom Umsatz her) müssen tingeln, Poetikvorlesungen halten, Schreibschulen leiten, die Kohle rollt nur bei denen, die im Feuilleton verachtet werden, weil bei ihnen die Kohle rollt. Nichts also gegen Preislawinen!

Dennoch fällt auf, dass Felicitas Hoppe, die heute 60 Jahre alt wird, länger kann ich es nicht geheim halten, aber 40 ist bekanntlich längst das neue 30, in einigen Bücher fehlt, wo sie, sage ich mal, eigentlich nicht fehlen dürfte. Wir haben da Richard Kämmerlings. Sein Buch heißt „Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit 89“: Hoppe – Fehlanzeige. Wir haben Ina Hartwig. Ihr Buch heißt „Das Geheimfach ist offen. Über Literatur“: Hoppe – Fehlanzeige. Wir haben Hubert Winkels. Sein Buch heißt „Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur“: Hoppe – Fehlanzeige. Auch die am Ende 18 gelbe Bände umfassende Stuttgarter Reclam-Reihe „Deutsche Literatur. Jahresrückblick“ kennt Hoppe nur 1996. Da bekam sie den Aspekte-Literaturpreis, dotiert mit 15.000 DM und den Ernst-Willner-Preis, dotiert mit 13.800 DM, da ist auch ihr Buch „Picknick der Friseure“ erwähnt, ohne beigefügte Beispielkritik, nackt als Titel. Bis 95 nichts, ab 97 wieder nichts, die Reihe verabschiedete sich bedauerlicherweise mit dem Band für 1998 für immer. Immerhin tragen einige der Bücher von Felicitas Hoppe die Bezeichnung Roman. „Pigafetta“ von 1999, „Paradiese, Übersee“ von 2003, „Johanna“ von 2006, „Hoppe“ von 2012. Wikipedia nennt „Prawda. Eine amerikanische Reise“ von 2018 tapfer auch Roman, was zum Beispiel Frauke Meyer-Gosau in der „Süddeutschen Zeitung“ mit guten Gründen anders sah.

Mit Romanen kommt man eher auf die Literaturseiten als mit allem anderen. Solange es noch Literaturseiten gibt. Zwischendurch gibt es Dozenturen, Poetikdozenturen in Wiesbaden, Göttingen, Hamburg, Dortmund und Heidelberg, in Kassel sogar eine Brüder-Grimm-Poetikprofessur. Ich bin nicht sicher, ob man Felicitas Hoppe darum beneiden muss. Denn nur die ganz schlechten Dozenten wiederholen sich selbst oder lesen gleich ihre Power-Point-Präsentation vor und ab, die sie auf ihrem Reise-Laptop sorgsam gespeichert haben. Einer jedenfalls hat sie nicht vergessen: Volker Weidermann. In „Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“, heute war vor 14 Jahren, schreibt er: „Felicitas Hoppe ist eine kleine Frau mit kurzen Haaren, kleinen Perlenohrringen und einer stets vorbildlich gebügelten Bluse. Sie redet schnell und scheint schon zu dichten während man selbst noch am Hinterherhören ist. Sie reist und schreibt und bügelt gern. Auch in ihren Romanen wird viel gebügelt.“ Nach dem ersten dieser Sätze dachte ich: Wahnsinn! Es gibt Männer, die sicheren Blicks erkennen, dass eine Bluse gebügelt ist! Dann aber verrät Weidermann, er hat seine Weisheit den Büchern entnommen. Das tröstet. Wie die Jubilarin des heutigen Tages das einst aufnahm, weiß ich nicht, vermutlich mit Nachsicht und Lächeln.


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