Vor 100 Jahren starb Joseph Conrad
Als Joseph Conrad die Erzählung „Ein Vorposten des Fortschritts“ schrieb, hatte er vermutlich nicht die Absicht, sich in die unendliche Debatte über Theorie und Geschichte des Fortschrittsbegriffs einzuschalten oder gar einen substantiellen Beitrag dazu zu leisten. Angesichts dessen, was er tatsächlich erzählt, ist bereits die Überschrift blanke Ironie. Am Ende erschießt einer der beiden Männer des Fortschritts den anderen, weil der nicht davon abzubringen ist, Zucker in seinen Kaffee zu wollen. Und erhängt sich wenig später mühselig an dem Grabkreuz, das dem ersten Leiter der Handelsstation errichtet worden war, nachdem ihn das Fieber am Fluss im Urwald dahingerafft hatte. Dennoch ist Conrad weniger weit weg von Begriff und Theorie, als ihm bewusst gewesen sein dürfte. Denn einer der berühmtesten Sätze zum Thema, er stammt von Karl Marx, findet sich in „Britische Herrschaft in Indien“: „Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.“ Denkbar sogar, dass Conrad das kannte.
Conrads Geschichte spielt zwar nicht in Indien, sondern in Afrika, aber der Handel mit Elfenbein findet seinen makaberen Höhepunkt, als „ein Neger aus Sierra Leone“, der sich selbst Henry Price nennt, von den Eingeborenen flussabwärts aber Makola genannt wird, ein Geschäft abwickelt, dass eine ungeahnte Menge Stoßzähne einbringt, jedoch mit dem kompletten Verlust aller schwarzen Hilfsarbeiter verbunden ist. Makola gab sie vermutlich einfach in Zahlung, denn er sorgt sich im Gegensatz zu den beiden völlig unfähigen und untätigen Weißen um den Umsatz der Niederlassung, er führt die Bücher, achtet auf alles bis hin zur alltäglichen Versorgung seiner beiden „Herren“, die er für sich nur verachtet, ohne sich jedoch im geringsten gegen sie aufzulehnen. Die Meinung des Direktors am Anfang der Erzählung war klar: „Ich hielt die Station an diesem Fluss stets für nutzlos, und sie taugen so richtig dafür.“ Wie er auf den Berg von Stoßzählen reagiert, den ihm und seiner Gesellschaft ein waschechter Menschenhandel einbrachte, erfahren Conrads Leser nicht mehr. Er legte offenbar größeren Wert auf die heraushängende und geschwollene Zunge des Selbstmörders. Den ein besonderes Signal in den Tod gerufen hatte: „Der Fortschritt rief vom Fluss her nach Kayerts. Der Fortschritt und die Zivilisation und alle ihnen innewohnenden Kräfte.“
Nach Conrad rief 2007 nicht der Fortschritt, sondern das deutsche Feuilleton. Elmar Schenkel hatte eine Biografie vorgelegt, John Stape eine zweite und das glich nahezu vollständig die traurige Tatsache aus, dass Tote nichts Neues mehr schreiben. Zwar konnte man, wie 2020 schließlich geschehen, aus der guten alten Erzählung „Der Nigger von der Narcissus“ noch pseudokorrekt den Neutitel „Der Niemand von der Narzissus“ destillieren, aber im Grunde war alles durch. 2007, zum 150. Geburtstag, fragte, wie immer in diesen Fällen, niemand danach, ob das halbe Dutzend voran gegangener Biografien nun der Altpapierverarbeitung anheimfallen können oder vielleicht doch lesbar geblieben sind. Dafür hatte jeder Feuilletonist, aber auch wirklich jeder, den Hinweis auf die schlechte englische Aussprache Conrads. Als hätte es diesen rothaarigen Herrn Schiller nie gegeben, der so grausam schwäbelte, dass die Muttersprache unerträglich klang, die er so unvergleichlich schrieb. Von Herrn Goethe nicht zu reden, der sein Frankfurter Hessisch-Gebabbel bis zum späten Ende beibehielt. Warum also gebetsmühlenartig der Hinweis auf den starken Akzent, auf die falsche Aussprache der Endungen? Es passt als Kontrapunkt vermeintlich zu Beherrschung der englischen Schriftsprache. Conrad, der Dichter für Dichter, wird schnell daraus. Den doch auch andere lasen.
André Gide, auch das geistert durch die Literatur, lernte eigens Englisch, um Conrad im Original lesen zu können. Thomas Mann war es, der dies zuerst verbreitete, wenn ich das richtig sehe. Er war es und Jakob Wassermann war es, die mit Vorworten zu Joseph Conrad dessen deutschen Ruhm nach Kräften zu verbreiten halfen. Wassermann schrieb zu „Die Schattenlinie“, Thomas Mann zu „Der Geheimagent“. Wassermann gab sich wenig Mühe, seine vorgängige Ahnungslosigkeit zu kaschieren. „In der Tat ist der Eindruck der Einsamkeit des Erzählers, wenn man vier oder fünf Bücher Joseph Conrads gelesen hat, der stärkste; so stark, dass man sich fragt: wie erträgt er es, in seiner Welt zu leben, und wie erträgt er es, sie so zu sehen.“ Wir wissen aus der Geschichte, dass gerade die größten Pessimisten durchaus keine Neigung zu freiwilligen Abgängen aus der Welt zeigten. Wir fragen uns allerdings auch, warum Wassermann nicht wenigstens zwei oder drei der Titel, die ihn zu seinem Urteil brachten, namentlich nennt. Tatsächlich nennt er nur „Der Geheimagent“, den Roman, zu dem Thomas Mann die Vorrede schrieb und das deutlich engagierter und informierter. Könnte sein, dass er von dem nur wusste, weil Thomas Mann sich damit befasste. Beide gern als Großschriftsteller abgewerteten Männer standen in guter Beziehung zueinander.
Als Joseph Conrad am 3. August 1924 starb, vier Monate vor seinem 67. Geburtstag, war er in Deutschland noch so unbekannt, dass eine so renommierte Tageszeitung für anspruchsvolle Leser wie die Vossische Zeitung, von diesem Tod keine Notiz nahm. Wenig später wusste Jakob Wassermann schon dies: „ Conrad gehört zu den rein darstellenden Dichtern, er ist ohne ethische Tendenz, er verschmäht moralische Nutzanweisungen, seine Bücher sagen nichts aus, es sei denn durch Bild und Figur, sie haben keine ideelle Zielsetzung, sie sind zwecklos ...“. Hier ist der Vorredner dann doch kräftig über das Ziel hinausgeschossen. Und auch dies ist 1926, als die Vorrede bei S. Fischer in Berlin (zeitgleich auch die Vorrede von Thomas Mann) erschien, gewagt: „Es muss sehr viel Magisches um einen Dichter sein, wenn er nicht nur die Phantasie der Zeitgenossen, sondern auch den Geist der Nachgeborenen beschäftigt.“ Wie wenig Wassermann wirklich mit Conrad vertraut war, erhellt aus der Teilung des schmalen Buches, die er vornimmt. Bis zur hundertsten Seite brauche er, ehe er „in einer von Dichters Gnaden geschaffenen Welt steht“, „nachdem er sich nicht ohne Mühe in ein vollkommen fremdes Milieu eingelebt hat“. Erst auf der sechsten Seite lässt Wassermann erkennen, dass er von Conrads Seemannsleben gehört hat.
„Wenige Menschen sind sich dessen bewusst, dass ihr Leben, die wahre Eigenart ihres Charakters, ihre Fähigkeiten und ihre Kühnheit nur der Ausdruck ihres Glaubens an die Sicherheit ihrer Umgebung sind. Mut, Gelassenheit, Zuversicht, Gemütsbewegungen und Prinzipien, jeder große und jeder bedeutungslose Gedanke gehört nicht dem Individuum, sondern der Masse, der Masse, die blind an die unerschütterliche Macht ihrer Institutionen und Sitten glaubt, an die Macht ihrer Polizei und ihrer Meinung.“ So steht es in „Ein Vorposten des Fortschritts“ und es straft die arg ahnungslosen Worte Wassermanns vom Dichter, dessen Bücher nichts sagen, schlicht Lügen. Ich lasse folgen: „Doch über Gefühle wissen die Menschen tatsächlich nichts. Wir sprechen mit Unwillen oder Begeisterung, wir sprechen über Unterdrückung, Grausamkeit, Verbrechen, Ergebenheit, Selbstaufopferung, Tugend, und wir wissen in Wahrheit nicht mehr davon als bloße Worte. Niemand weiß, was Leiden oder Opfer bedeutet“. Und zum Schluss: „Die Angst bleibt immer. Ein Mensch kann alles in sich ausrotten, Liebe und Hass und Glauben und sogar Zweifel, doch so lange er am Leben hängt, kann er Angst nicht ausrotten, die subtile, unzerstörbare, entsetzliche Angst, die sein Wesen durchdringt, sein Denken färbt, in seinem Herzen lauert, auf seinen Lippen den Kampf seines letzten Atemzuges bewacht.“ Wem, bitte, sagt das denn nichts?
Noch zu DDR-Zeiten, als Joseph Conrad durchaus in hohem Ansehen stand und Günter Walch, der fast 30 Jahre an der Humboldt-Universität wirkte, gleich reihenweise Nachwörter vor allem für die Ausgaben der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung Leipzig schrieb, ich besitze allein acht davon, gab Karl-Heinz Magister im „Sonntag“, der Wochenzeitung des Kulturbundes, die wenig präzise Auskunft, Conrad, der eigentlich, endlich habe auch ich es nun zu schreiben, Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski hieß, habe Polen „auf Grund der dort herrschenden politischen Misere verlassen“. Nun gab es seit der dritten Teilung Polen gar kein Polen mehr, weshalb die Misere dort nur die russische gewesen sein konnte. Die aber bestand für den Sohn eines zeitweise Verbannten vor allem darin, von der russisch-zaristischen Armee rekrutiert werden zu können. Sein Onkel war es, der ihm die Ausreise erlaubte, seine Eltern lebten 1874 nicht mehr, als er die Heimat für immer verließ. Am 28. August 1951 entwarf Thomas Mann einen Brief an Irita Van Doren (16. März 1891 – 18. Dezember 1966), sie war langjährige Verantwortliche für die Buchbesprechung in der „New York Herald Tribune“. „... und wenn ich mich den ersten Erzähler der Epoche nennen höre, so verhülle ich mein Haupt. Unsinn! Das war nicht ich, es war Joseph Conrad, wie man wissen sollte.“
„Nie hätte ich „Nostromo“ schreiben können, noch den herrlichen „Lord Jim“; und wenn er hinwiederum den „Zauberberg“ oder den „Faustus“ nicht hätte schreiben können, so fällt diese Gegenrechnung gar zu sehr zu seinen Gunsten aus.“ Als Mann seine Vorrede schrieb zu „Der Geheimagent“, hätte er das wohl noch gar nicht so sagen können. Mir fehlen Daten, wann er was las, es scheint mir aber, dass die Wahl von „Der Geheimagent“, falls es denn eine Wahl war und er nicht einfach nur der Bitte seines Haus-Verlages folgte, mit der Mannschen Ahnungslosigkeit in Sachen Seefahrt mehr zu tun hat als dem Streben, einfach nicht das zu Erwartende zu tun. Wer von der Speisekarte eines Fischrestaurants ausgerechnet das vegetarische Nudelgericht rezensiert, darf nicht nur mit reinem Beifall rechnen. Verglichen mit Jakob Wassermann, dem Freund, aber war sein Vorwort, bei allem Ausweichen auf Nebenthemen und -gegenstände, frappierend substanzhaltig, nicht aus dem Ärmel gezaubert. „Conrads Erfolg bei uns wird durch das Maß seines Talentes bestimmt werden.“ So Thomas Manns Prognose am Ende. Und eine Nebenwirkung seiner Vorrede: 1986, sechzig Jahre später, schrieb der Thomas-Mann Biograph Hans Mayer in fortgeschrittenem Alter einen erstaunlich wenig inspirierten Beitrag ausgerechnet zu „Der Geheimagent“. Warum nur?
Dass im Vorfeld des 150. Geburtstages von Joseph Conrad 2007 auch Marcel Reich-Ranicki nach ihm gefragt wurde, versteht sich fast von selbst. Der genoss mit seinen mittlerweile 87 Jahren das beneidenswerte Privileg, auf Leserfragen antworten zu dürfen, was immer ihm Spaß machte. So äußerte er sich eher zu Shakespeare, „Hamlet“ und der seiner Meinung nach unübertroffenen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel als zu Conrad. Von dem nannte er wohl ein paar Titel, gelesen vor 60, ja gar 70 Jahren, er erinnerte sich, am Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf „Jugend“ gelesen zu haben, das war es dann aber auch schon. In seiner Autobiographie „Mein Leben“ kam Conrad nur kurz zu Sprache: Reich-Ranicki erinnerte sich der Liebschaft mit einer Frau über vierzig, Tatjana, mit der er, neunzehn Jahr selbst nur alt, zu Übungszwecken, das war der Vorwand, John Galsworthy und eben Joseph Conrad las. Weil diese Tatjana zu Beginn der zwanziger Jahre aus St. Petersburg nach Berlin geflüchtet war und nun, 1939, nach Warschau geraten, bietet sich der Phantasie die Vorstellung an, beide hätten „Der Geheimagent“ gelesen. Der englischen Ausgabe hätte dann freilich Thomas Mann gefehlt, der Reich-Ranicki später nie wieder fehlte. Bliebe noch, Conrads Philosophie des Ankers zu gedenken, doch fehlt dazu die Sendezeit.