Goethes Urfreund Knebel im Vortrag

Bis zu der gar nicht so steilen These, Ilmenau (und Weimar) verdankten ihren Goethe letztlich und streng genommen just diesem Karl Ludwig von Knebel, hat sich Charlotte Kurbjuhn in ihrem Vortrag im GoetheStadtMuseum nicht hinreißen lassen. Da sie gleich eingangs betonte, mit den Ilmenauer Details im Knebel-Leben nicht so vertraut gewesen zu sein, aber in den wenigen Stunden vor ihrem Auftritt im Amtshaus schon viel dazu gelernt zu haben, ist zu vermuten, dass sie Manfred Wolfs „Ilmenauer Porträt“ mit eben der genannten These noch gar nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Sie hätte dort vieles gefunden, was auch sie zitierte, sie hätte außerdem gesehen, dass Wolf von der ersten Wohnung Knebels in Ilmenau in der jetzigen Marktstraße 17 nichts wusste, sonst aber wohl beruhigt registriert, nicht sehr viel verpasst zu haben. Aus meiner Sicht ergänze ich die Eingangsthese freilich gern in der Weise, dass auch Jean Paul nie nach Ilmenau gekommen wäre, hätte nicht Knebel hier einige Jahre gelebt.

Ein Geheimnis muss nicht darum gemacht werden, was Manfred Wolf meinte und genau so natürlich auch in dem außerordentlich sympathischen Vortrag der promovierten Referentin vorgetragen wurde: Karl Ludwig von Knebel (Namensschreibweise laut Literaturlexikon, 30. November 1744 bis 23. Februar 1834) hatte mit beiden Söhnen der Herzoginmutter Anna Amalia in seiner Eigenschaft als Erzieher des zweitgeborenen Konstantin eine Reise von Weimar nach Paris zu unternehmen. Unterwegs bot sich ein Abstecher zu dem eben den Frühgipfel seines Ruhms genießenden Johann Wolfgang Goethe an, der 1774 in Frankfurt am Main all die Neugier-Besuche noch durchaus genoss und sich nicht wie später in Weimar häufig genervt fühlte, wenn er besichtigt werden sollte für Tagebücher empfindsamer Gattinen und Memoiren diverser Prominenz-Touristen. Und so standen sich eben der kommende Herzog Carl August als künftiger Dienstherr Goethes, sein jüngerer Bruder Konstantin, Goethe und Knebel gegenüber, Knebel fünf Jahre älter und bald für immer und ewig der „Urfreund“, was fast sein dritter Vornahme geworden ist, sein Rufname gar.

Knebel selbst ist, Charlotte Kubjuhn verfolgte sein Leben weitgehend chronologisch und schaffte das gar nicht so Selbstverständliche, einen komplett ausformulierten Text ausdrucksvoll und fast lesenbühnenartig ins kleine Museums-Mikro zu sprechen, zunächst hauptsächlich wegen Wieland nach Weimar gekommen. Goethe kam dann, weil die Knebel-Visite zur Einladung an ihn führte, den Hof an der Ilm zu besuchen, der 1774 freilich noch Musenhof im Werden war, wenngleich schon mit kräftigen Wachstumsraten. Es verging freilich noch eine kleine Weile, die alle Goethe-Freunde mit den Augen des alten Goethe aus „Dichtung und Wahrheit“ ganz und gar wunschbildgemäß repetieren können. Dass Knebel anders als viele Zeitgenossen Theologe nicht werden sollte, sondern wollte und genau deshalb bei der Juristerei landete wie Goethe auch, ist ein rückblickend hübsches Faktum, das erinnert zu werden verdient. Doch hat über die Jahre seit Knebels Tod im Alter von fast neunzig Jahren, er überlebte seinen jüngeren Freund fast volle zwei Jahre, ein großes biographisches Interesse nie aufkommen wollen.

Als Forschungsgegenstand macht das Knebel, das verriet die Referentin natürlich nicht, besonders attraktiv, weil einfach das Meer an Sekundärliteratur keines ist. Im zitierten Lexikon wird  eine Monographie aus dem Jahr 1929 genannt, Verfasser Hellmuth Freiherr von Maltzahn, hinzu kommt eine Jenaer Dissertation aus dem Jahr 1968, Autorin Regine Otto. Ansonsten muss man sich eben durch das überschaubare überlieferte Werk arbeiten, Briefwechsel lesen, Lebenserinnerungen von Zeitgenossen, das Übliche halt. Das Fazit vorwegzunehmen: Charlotte Kurbjuhn rief nicht zu einer neuen Sicht auf den bis dato vermeintlich völlig verkannten Dichter Karl Ludwig von Knebel auf. Sie ließ seiner Übersetzerleistung hohes Lob zukommen, Knebel soll bereits mit vierzehn Jahren perfekt Latein beherrscht haben, ist aber zweifelsfrei selbst durch diese Tatsache, metrische Sicherheit eingeschlossen, nie zu wirklicher lyrischer Originalität gelangt, vielleicht sogar genau deswegen nicht. Sehr wohl verdiene der Mensch Knebel alle Neugier und Aufmerksamkeit. Das ist eine mehrheitsfähige Meinung.

Ilmenau sei für Knebel, der dreißig Jahre immer irgendwie auf der Flucht war, eine Scharnierstelle im Leben gewesen, runde sieben von fast neunzig Jahren Leben sind nicht wenig. Hier begann sein spätes Eheleben mit der jungen Frau, die er doch schon länger kannte, als oft behauptet oder einfach nur vermutet wird, Charlotte Kurbjuhn demonstrierte es anhand der Schreibkalender, die allerdings an entscheidenden Stellen auch Lücken ausweisen. Knebel besaß das erstaunliche Maß an Loyalität, den leiblichen Sohn seines jungen Herzogs als eigenen zu nehmen und sogar zu adoptieren. Die durchaus üppige Alimentation des Frührentners Knebel aus der herzoglichen Schatulle hat wohl auch etwas mit Dankbarkeit zu tun. Doch war Ruhestand mit 37 Jahren auch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht höchstes Erdenglück, Lokführergewerkschaften und Pilotenvereinigungen gab es damals noch nicht. Irgendwie half sich Knebel, er reiste, er übersetzte, er dichtete selbst. Und stand seinen eigenen Dichtungen, was ihn fast mehr als alles andere ehrt, deutlich kritischer gegenüber als etwa das Ehepaar Herder oder gar Charlotte von Stein.

So verwunderlich, wie die Referentin es wohl des dramaturgischen Rede-Effektes wegen machen wollte, ist die Divergenz von Fremd- und Eigensicht nicht. Die Nachwelt steht klar auf der Seite Knebels selbst, wobei die literarhistorische Urteilsbegründung, es mangele der Lyrik Knebels an eingebrachter Subjektivität natürlich einem sehr bestimmten Lyrikverständnis folgt, dem Goetheschen nämlich, jedenfalls so, wie oft verstanden wird: als Poetik des Gelegenheitsgedichts. Aus dessen Sicht fiel und fällt selbst Schiller vielen aus dem Dichter-Olymp, während Knebels eigene, ausdrücklich auch bekannte und im Vortrag zitierte Poetik ja nicht nur auf Lukrez fußt mit dem Groß-Gedicht über die Natur, das Knebel übersetzte, sondern implizit Goethe-Kritik darstellt. Bis dahin freilich steigert sich kein Knebel-Leser gern. Denn es ist ja der „Urfreund“. Der im Ilmenau-Gedicht Goethes in aller Skurrilität porträtiert ist, der selbst ein Ilmenau-Gedicht verfasste und dessen Freundschaft zwischenzeitlich auch heftige Abkühlung erfuhr.

Es ist alles andere als ein Zufall, dass die wirklich lebenslange Freundschaft von Goethe und Knebel zu neuer Blüte geriet, als Herder 1803 gestorben war. Da Herder und Goethe sich längst fremd geworden waren, kaum etwas blieb aus der Zeit von Straßburg und danach, waren für Goethe auch alle engen und ausdauernden Freunde Herders Bewohner einer speziellen Kältezone, wie man es nennen könnte. Doch wenigstens kurzzeitig weg von der Dauerfixierung auf den Bund, der ja auch Knebel nie seine Identität nahm. Der Vortrag nannte sein Wirken in Tiefurt, sein Verhältnis zur Jagd, seine kritische Sicht auf den Adel (dem er selbst angehörte), Knebel war ein großer Weintrinker, der sich deshalb auch verschuldete (was für nette Schuldenarten es gab dereinst!). Ohne das bei Veranstaltungen der Goethegesellschaft Ilmenau übliche Koreferat des Vorsitzenden wäre vielleicht die Frage zu stellen gewesen, warum Knebel seine Gedichtsammlung von 1815 anonym erscheinen ließ, warum er überhaupt dieses tat und jenes ließ.

Anregend die Hinweise auf verschiedene Briefe Schillers, die Knebel weit weniger vorteilhaft zeichnen, haarsträubend die Zufallsgeschichte um die Elegie „Der Hügel“, die Knebel nicht nur im Wald verlor, die nicht nur wieder gefunden wurde, sondern sogar von einem Menschen, der in derselben Kutsche nach Berlin reiste wie Frau Knebel mit Sohn. Dramatiker, die sich solcherlei ausdenken, werden bis ans Ende ihres Nachlebens gescholten, das Leben selbst schert sich offenbar doch nicht um die Gesetze der Stochastik. Wie auch immer, Ilmenau hat einen Knebel-Blick auf dem Ehrenberg, es hat ein Wenzelsches Haus, in dem Knebel von 1800 bis zu seinem Wegzug wohnte, es hat die Marktstraße 17, der ein Schild wegen Knebel und wegen Jean Paul unbedingt gut täte und eine Knebelstraße gibt es auch. Sie verdankt ihren Namen der Zeit nach 1945, am 27. Mai 1945 verkündete der erste Bürgermeister Zachäus (ich zitiere Manfed Wolf) den neuen Namen für die alte Straße Nummer 2c zwischen Straße am Lindenberg und Herder-Straße.


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