Gustav Freytag, Siebleben

Wäre das Grab von Friedrich Melchior Grimm (25. September 1723 – 19. Dezember 1807) auf dem alten Friedhof von Siebleben erhalten, ich hätte spätestens 2007 mit Kamera davor gestanden, als ich meinen Text zum 200. Todestag für den „Palmbaum“ vorbereitete, der dann im Heft 2, 2007 erschien (S. 85 – 89) und seit dem 18. Mai 2011 auch hier in den „Alten Sachen“ nachgelesen werden kann, Titel „Schlichte braune Lederbände“. Der beginnt so: „Aus der Tatsache, dass jenes Haus, in dem Friedrich Melchior Grimm mit Unterbrechungen von 1790 bis zu seinem Tod am 19. Dezember 1807 lebte und Gäste empfing, in den späten DDR-Jahren abgerissen wurde, wie auch aus der Tatsache, dass seine Grabstätte in Siebleben, um deren Erneuerung sich noch Gustav Freytag 1867 rührig kümmerte, spurlos verschwunden ist, lässt sich eine Folgerung ganz sicher nicht ziehen: Dass an Grimm an seinem 200. Todestag in Gotha nichts mehr erinnert.“ Gustav Freytag war von mir, ohne es zu ahnen oder gar zu wollen, an einem unauffälligen Symptom seiner Folgenlosigkeit erfasst worden und so nimmt es kaum Wunder, wenn der Name Grimm auch jetzt den Freytag-Freunden des Gothaer Ortsteils alles andere als geläufig ist, wie ich als Frager erfuhr.

Dabei hätte das Kamera-Team des MDR zum Abschluss des Gustav-Freytag-Jahres das ursprünglich unweit des Freytag-Grabes gelegene Grimm-Grab womöglich gar nicht mit gefilmt, den Zusammenhang beider nicht kennend. Es bleibt also auf mindestens unabsehbare Zeit ein Geheimnis, was aus jener Grabplatte für Grimm wurde, die 1867 auf Betreiben und wohl auch auf Kosten des sehr wohlhabenden Gustav Freytag saniert worden war. Auf der anderen Straßenseite, direkt an der B 7, steht das große Haus, das Freytag lange als Sommersitz bewohnte mit seinem wahrhaft weitläufigen Garten dahinter, derzeit leer. Es wird renoviert und soll mindestens einen neuen Mieter finden. Die Freytag-Gedenkstätte liegt nur wenige Schritte entfernt im Pavillon, der zum Anwesen gehörte und nun über zwei Etagen die Ausstellung präsentiert, deren Bestände während der Festverantaltung in der Kirche wertvolle Ergänzungen erhielten aus den Händen der Freytag-Nachfahrin Thekla Löffler, einer Urenkelin von Freytags Bruder Reinhold. Für den Vorsitzenden des Heimatgeschichtsvereins Siebleben, Dirk Ponick, einer von mehreren Gründen, in der Kirche Sankt Helena Dankesworte zu formulieren und Freude zu zeigen.

Hier also hat er seit 1851 sein Leben verbracht, zunächst lange mit Leipzig alternierend, dann bis zu seinem Tod 1895 mit Wiesbaden. Hier hat er große Teile seines Werkes verfasst, sein Arbeitszimmer ist im Pavillon oben zu sehen, unfassbar aufgeräumt für ein Arbeitszimmer, wie in Aspik. Von hier aus wurde er thüringischer Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Reichstag des Norddeutschen Bundes, er blieb es nur für eine Wahlperiode. Die entsprechenden Erfahrungen der Jahre 1867 bis 1870 können also schlechterdings nicht in sein Lustspiel „Die Journalisten“ eingeflossen sein, in dem es unter anderem auch um Wahlkandidaturen geht, aber eben anderthalb Jahrzehnte früher zu Papier und danach auf die Bühnen gebracht. Am 2. August 1949 auf der Rückreise von Weimar, wo er seine berühmte Goethe-Rede gehalten hatte, legte Thomas Mann eine Pause ein, um das Haus und damit den Gedächtnisort für Freytag zu sehen. Vermutlich deshalb ließ Professor Jochen Schröder in seinem Festvortrag in der Kirche fast nebenher den Satz fallen, auch Thomas Mann sei bekanntlich ein Verehrer Gustav Freytags gewesen. Just dieser Satz findet sich nicht im gedruckten Text der Rede in der sehr gelungenen Festschrift.

Zu Gunsten des Redners will ich annehmen: weil der Satz einigermaßen übertrieben ist. Denn wie könnte es sonst sein, dass Thomas Mann, dessen Tagebuch vom 23. Juli bis 4. August 1949 einfach schweigt, aber am 4. August die wichtigsten Stationen seines Ausflugs nach Weimar nachvollzieht, Gotha mit keinem Wort erwähnt. Nur ein einziges Mal findet sich der Name Gustav Freytag in den zehn voluminösen Bänden der Tagebücher Manns, der Autor registriert einen Theaterbesuch mit Kindern am ersten Oktober 1920: „Mit Erika und Klaus im Residenztheater: Die Journalisten“. Damit hält er sich noch bedeckter als Jahre früher Franz Kafka, der im März 1912 in sein Tagebuch einträgt: „Journalisten“ mit Kramer vorher, anderthalb Akte. Viele gezwungene Lustigkeit in Bolz ist sichtbar, aus der sich allerdings auch ein wenig wirkliche, zarte ergibt. Fräulein Taussig vor dem Theater getroffen, in der Pause nach dem zweiten Akt.“ Es ist leider nicht exakt zu erkennen, von welchem Tag diese Eintragung stammt, denn sie ist mit Sonntag gekennzeichnet, steht vor einem 8. März, der ein Freitag war und nach einem 5. März. Der Sonntag müsste also zwischen Dienstag und Freitag gelegen haben, was selbst im alten Prag als unmöglich zu gelten hat.

Thomas Hüther, Autor eines im April 2011 veröffentlichten Zeitungsbeitrages mit der Überschrift „Als Thomas Mann in Gotha den Dichter Gustav Freytag ehrte“, weiß keinen Beleg für die Sicht von Thomas Mann auf Freytag zu nennen. Die Behauptung: „Mit dem Stopp seines Wagens bekannte er sich zur Vorbildwirkung Freytags“ ist schlicht absurd, so absurd wie dieser Tage die Aussage eines Jubiläumsartikels in der Zeitung „Preußische Allgemeine“, die allen Ernstes meint, Gustav Freytag stehe „auf einer Stufe mit den großen Erzählern des Realismus wie Theodor Storm, Gottfried Keller, Theodor Fontane, C. F. Meyer oder Wilhelm Raabe.“ Dagegen sei Hermann Hesse zitiert, dem man eine gewissen Literaturkenntnis kaum absprechen wird: „In Deutschland hat Jahrzehnte lang der Roman „Soll und Haben“ für ein Meisterwerk und einen treuen dichterischen Spiegel des Lebens seiner Zeit gegolten. Ich möchte dem Andenken des braven und klugen Mannes, der das Buch geschrieben hat, nicht wehe tun, aber neben dem geschmähten Salander ist das gepriesene „Soll und Haben“ eine Scharteke.“ Gemeint ist der große Roman „Martin Salander“ von Gottfried Keller. Auch einen direkten Bezug zu Wilhelm Raabe hat Hesse einst hergestellt.

„Es gibt keinen deutschen Erzähler der letzten Jahrzehnte, Gustav Freytag nicht ausgeschlossen, der die Brücke vom alten zum neuen Deutschland so für uns personifizierte.“ Die „Preußische Allgemeine“ dagegen meint Gustav Freytag gegen den bekannten Antisemitismus-Vorwurf dadurch zu verteidigen, dass sie auf Ähnliches bei Charles Dickens (in „Oliver Twist“) und eben Wilhelm Raabe, vor allen in dessen „Der Hungerpastor“, verweist. Als ob eine Fehlleistung dadurch an Gewicht verlöre, dass sie auch von anderen begangen wird. Zu bedenken ist heute allerdings, ob ein Buch, um bei der Literatur zu bleiben, tatsächlich dadurch antisemitisch wird, dass eine Figur darin negativ gezeichnet wird. Folgte man dieser ja keineswegs unüblichen Logik konsequent, wäre alles rassistisch, was den Angehörigen eines beliebigen Volkes in der Literatur eines anderen Volkes so oder so negativ zeichnet. Anhand des berühmtesten negativ gezeichneten Juden der Weltliteratur in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ sollte das Thema eigentlich als hinreichend erörtert betrachtet werden können. Das jüngste begierig aufgeblähte Feuilleton-Spektakel im Anschluss an einen Antisemitismus-Vorwurf gegen Johann Sebastian Bach aus Eisenach spricht Bände.

So verfiel leider auch der Festredner in Siebleben auf die wenig hilfreiche Idee, Freytag mit dem Hinweis zu entlasten, es habe seinerzeit den Begriff des Antisemitismus noch gar nicht gegeben. Eine neue Auseinandersetzung mit Gustav Freytag kann sich nicht darauf beschränken, alten Verdikten die Berechtigung ganz oder teilweise abzusprechen. Im Kern geht es immer um den Nachweis der literarischen Qualität eines Autors. Gerade im natürlich vorbelasteten Deutschland weiß jeder halbwegs Informierte, dass selbst eine offene Affinität zum Faschismus, sei es auch nur eine zeitweilige gewesen, eine Würdigung des Werkes nicht ausschließt. Man muss gar nicht zu all den braven UFA-Darstellern und -darstellerinnen kommen, die mit Goebbels Sekt tranken und nach 1945 völlig ungebrochen Karriere machten. Leider, leider aber gilt, was seine Freunde natürlich am liebsten nicht wahrhaben möchten, dass hinsichtlich seiner literarischen Qualitäten Freytag eben nicht mit Knut Hamsun oder Gottfried Benn oder Ezra Pound verglichen werden kann, um Fallbeispiele des zwanzigsten Jahrhunderts zu nennen, selbst ein Gabriele d'Annunzio steht wohl unbestritten auf einem anderen Niveau und bleibt trotzdem in seinen Ansichten peinlich.

Die entscheidende Frage, es kann nicht verschwiegen werden, die sich und seinen Hörern in der Kirche der Festredner Jochen Schröder stellte, blieb unbeantwortet. „Was bleibt?“ wissen wir auch nach seinen Ausführungen nicht, denn dass Gustav Freytag ein guter Journalist, ein über dem Durchschnitt stehender Schriftsteller und außerdem ein Mitbegründer der Kulturgeschichte war, besagt zum Thema wenig. Was gab es nicht für hervorragende Journalisten, die dennoch niemand mehr kennt, wie viele Wissenschafts-Begründer leben allenfalls noch in Institutsgebäuden als Ölschinken an der Wand, an denen die aktuellen Studenten des Faches vollkommen achtlos vorbeigehen. Und Theodor Mommsen, ein Freund Gustav Freytags, erhielt sogar den Literatur-Nobelpreis im höchsten Alter. Kennt ihn noch jemand, blieb etwas von ihm? Man muss nur darauf achten, welche Bücher aus wissenschaftlichen Bibliotheken ausgesondert in Antiquariaten landen, um die Rede vom Bleiben sehr gelassen zu sehen. Dass aber ein Doppeljubiläum wie im Fall von Gustav Freytag neue Neugier erst einmal entfacht, zeigt wie wichtig Anlässe eben doch sind. Gut also, dass es dieses Gustav-Freytag-Jahr 2015/2016 gab und vielleicht wirkt es sogar nach.


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