Zum Klassentreffen 2017 in Gehren. Eine kleine Rede
Das ist eine mehr als komische Situation: Zu Euch zu sprechen, ohne zu Euch zu sprechen. Aber wir haben, wie Ihr seht, eine Lösung gefunden. Also Reinhard Franke hat die Lösung gefunden. Meine Entschuldigung tröstet nicht einmal mich selbst. Ihr könnt sie also auch bestenfalls zur Kenntnis nehmen. Dass Ihr alle gekommen seid, ist schön. Ich hoffe, Ihr glaubt mir wenigstens, dass ich auch gern gekommen wäre. Aber wir sind alle in dem Alter, da wir Enkel und Enkelinnen haben oder auf alle Fälle haben könnten. Und so bin ich heute eben in Berlin, weil mein älterer Enkel fünf Jahre alt wird. (Der andere ist zweieinhalb.) Vielleicht hätte es sich anders organisieren lassen, aber für ein vielleicht muss nun keine Zeit mehr vergeudet werden.
Ihr erinnert Euch, und nun muss ich doch noch einmal vielleicht sagen, an unser voriges Treffen im März 2015. Ich sprach da von diesem und jenem, was ich heute auf keinen Fall wiederholen werde, unter anderem auch vom Anlass, den wir nicht hatten. Obgleich der Wunsch, einander einmal wieder zu sehen, natürlich ein sehr guter Anlass ist, eine Gelegenheit. Jetzt, reichlich zwei Jahre später, haben wir sogar einen mustergültigen Anlass: Es ist 50 Jahre her, dass wir „aus der Schule kamen“, wie unsre Eltern das noch fast alle nannten. Obwohl ja nur noch eine Minderheit tatsächlich aus der Schule und in die Lehre kam. Ihr wisst es selbst, wie es war, wer bis zur zehnten, wer bis zur zwölften ging.
1967: als jemand, der beruflich immer wieder mit Jahrestagen, Jubiläen, runden Geburtstagen zu tun hat, schaue ich fast reflexhaft nach, was da so war vor 50 Jahren. Und ich stoße auf ein Faktum, das mich heute eher zum Lachen bringt. Obwohl es alles andere als zum Lachen war und bis heute Anlass für Konflikte ist. Am 10. Juni 1967 besetzte Israel die syrischen Golanhöhen. Und wer von Euch weiß, wo ich seit 1979 wohne in Ilmenau, wird sogar verstehen, warum mir das Lachen kommt. Ich wohne auf den Golanhöhen. Die diesen Namen bekamen, ich weiß nicht von wem, weil die Stadt Ilmenau die Höhen mit dem Namen Pörlitzer Höhe gewissermaßen besetzte, um das nach dem Stollen zweite große städtische Neubaugebiet zu besiedeln. In den vier Jahren, die ich von 1967 bis 1971 von Gehren nach Ilmenau mit dem Zug zur Schule fuhr, sah ich dort, wo jetzt der Stollen steht, Felder, die sogar noch bestellt wurden. Erinnert Ihr euch? 4 Mark eine Monatskarte?
Die Dörfer Oberpörlitz und Unterpörlitz, zu deren Gemarkung mein Wohngebiet gehörte, waren damals, man vergisst so etwas schnell, noch selbständig. Unterpörlitz wurde 1981, Oberpörlitz sogar erst 1993 Ortsteil von Ilmenau. Und Ihr alle wisst, was nun nach dem Wunsch vieler in der Verwaltungsgemeinschaft möglichst eher als später passieren soll: Gehren will Ortsteil von Ilmenau werden, auch Möhrenbach und Pennewitz wollen, Jesuborn muss sowieso wollen. Früher habe ich auf Nachfrage bisweilen gesagt: Ich bin ein in Arnstadt geborener Gehrener, der in Ilmenau lebt. Was sage ich dann? Was sagen wir alle dann? Ist es, wenn man es nüchtern betrachtet, ein Thema, an dem man sich festhalten muss? Eher nicht.
Vor fünfzig Jahren, daran denken sicher die wenigsten von uns überhaupt, und wenn, dann nicht eben mit verspäteter Begeisterung, war der siebente Parteitag der SED, wir hatten noch Ulbricht und wir hatten von ihm vor allem die Briefmarken-Serie: Ulbricht in allen Farben. Der Sammler Volkmar, der mich Anfang des Jahres fragte, ob ich die heutige Rede halten würde, weiß sicher, wie viele Werte die Serie von fünf Pfennig bis eine Mark umfasste. Ich erinnere mich an etwas, was heute unsere Kinder und Enkel wohl nur mit Kopfschütteln beobachten könnten: Ich schnitt alle Marken von allen Briefen und nicht selten auch Postkarten, auch die so genannte Massenware. Man bündelte sie zu je 100 Stück mit einem Klebestreifen und konnte sie, unglaublich, sogar tatsächlich an Händler verkaufen. Ich schweife ab.
Sind außer Volkmar noch andere Briefmarkensammler unter Euch? Beatles-Fans? Schlaghosen-Träger? Wir saßen kürzlich in einem Kreis unserer Ü-60-Jahrgänge und erinnerten uns an die aus Möhrenbach stammenden Manchester-Hosen. Feincord sagt man wohl mit höherem Schulabschluss: die Mutigen unter uns trugen schwarze mit aufgenähten roten Taschen hinten: Arschtaschen hießen die und es guckte ein Mordskamm raus, möglichst in einer ganz anderen Farbe. Der Schneider aus Möhrenbach, gleich vorn rechts, wenn man aus Gehren kam, gehörte angeblich zu den Zeugen Jehovas und war deshalb höheren Ortes ungern gesehen und geduldet. Meine ersten Schlaghosen von ihm bekam ich erst spät und nicht aus Feincord, sondern aus dem leicht glänzigen Stoff, den später die Busfahrer für ihre Arbeitsklamotten nutzten.
Liebe Freundinnen, Freunde, ich hoffe, Ihr seht es mir nach, dass ich ein wenig in solchen Erinnerungen krame. Das hat auch damit zu tun, dass es mir hilft, mit der Tatsache umzugehen, dass nun schon einige von uns nicht mehr leben, obwohl doch uns allen mittlerweile eine fast japanische Lebenserwartung droht. Obwohl doch nicht wenige von uns noch ihre Eltern haben, oder wenigstens ein Elternteil. Trauern wir um die, die nicht mehr sind, die Sprache hat leider dafür nur solche Phrasen wie: Für uns alle viel zu früh. Auch wer neunzig ist, stirbt für alle, die ihn oder sie liebten, viel zu früh. Von unseren Lehrern sind kaum noch viele da, auch Erwin Tesch, von dem ich vor zwei Jahren noch redete, lebt nicht mehr. Ich sah ihn zuletzt als Gast einer Lesung, die ich aus meinem NVA-Buch machte.
Damit bin ich an einer Stelle, wo ich der Tatsache, dass ich via Bildbotschaft zu euch rede, eine gute Seite abgewinne: Ihr müsst nicht fürchten, dass ich versuche, Euch eines meiner inzwischen acht Bücher aufzuschwatzen. Was ich freilich machen werde: diese Rede ins Netz stellen wie die vorige auch. Die ist zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, exakt 5244mal aufgerufen worden, warum auch immer. Das ist mehr als doppelt so oft, wie meine beiden Reden zu den Ilmenauer Goetheschüler-Treffen 2011 und 2016. Am Stichwort Gehren muss also etwas sein. Mich freut das, euch sicher auch. Und wenn ich an jedem Aufruf auch noch was verdienen würde, wäre es noch besser. Aber die Rente rückt näher und bis dahin halte ich auf alle Fälle durch.
Wisst Ihr, wessen Geburtstag heute ist? Theo Lingen und Harald Juhnke. Und in Portugal ist heute Nationalfeiertag, weil es der Tag ist, an dem deren berühmtester Dichter gestorben ist. Stellt Euch vor: Wir feiern am 22. März, weil da Goethe starb! Bei uns ist heute nur Kindersicherheitstag. Den gibt es erst seit 2000, es geht um die Verhütung von Kinderunfällen. Mir fallen sofort Unfälle aus unserer Schulzeit ein. Ich weiß auch noch gut, wo die Kindergräber alle waren auf unserem Friedhof in Gehren. Einer aus unserem Schuljahrgang war auch dabei, Wölfel hieß er, Rainer, glaube ich, mit Vornamen. Entschuldigt bitte. Vielleicht ist das so, wenn man mehr Jahre hinter als vor sich hat. Man denkt an so etwas und kann sich kaum dagegen wehren. Themawechsel: Wer weiß noch, wie es unter der Treppe zum Kartenraum aussah in der Dimitroff-Straße? Hatten wir ein Gerippe auf dem Lehrmittel-Boden?
Wann gab es 1967 die Schluss-Zeugnisse? Mein Blatt ist leider verloren gegangen. Die Lehrerin, die es meiner Erinnerung nach haben musste, auch wenn sie es leugnete, ist vor einigen Wochen ebenfalls gestorben. Aber Ihr könnt ja nachschauen, falls Ihr es nicht schon getan habt. Wir hatten in diesem Jahr auch schon den Jahrestag 50 Jahre Jugendweihe. Habt Ihr an den gedacht? Oder doch verpasst? Wer Lust hat, kann auf meiner Internet-Seite unter der Überschrift „Ja, das geloben wir“ nachlesen, was mir dazu eingefallen ist, es steht in der Rubrik „Meine DDR“, Datum 19. März 2017. Das war schwieriger, als ich dachte. 1997, als wir uns im „Edelweiß“ trafen, kam ich später und ging eher. Nur musste ich damals keine Rede halten. Ich hatte zum großen Gruppenfoto meinen Fotografen Ari bestellt, der heute noch für Freies Wort arbeitet, weitere Bilder schoss Peter Hille.
Soll ich Euch ein paar Zeilen aus meinem Tagebuch vom 21. Juni 1997 vorlesen? „Später kamen Klaus Escher, Dieter Zentgraf und Volkmar Eberhardt, es fehlten Peter Huck, Bernd Juffa, Klaus Bendig, Jürgen Domhardt, Rainer Zentgraf, Gerda Jäger, Renate Ermisch, Eva Eisenhuth, Helga Lendzian, Anita Kaulitz.“ Ihr seht, alles auf die alte a-Klasse konzentriert. Nicht alle waren alle acht Jahre bis 1967 beisammen. Das wird in b und c nicht anders gewesen sein. Wer auch 1997 schon gern gesehener Gast war: Herr Oßmann. Ich musste damals eher weg, weil mein Schwiegervater seinen 76. Geburtstag hatte und am nächsten Tag der Sonntagsdienst in der Redaktion wartete. Wie viele von Euch müssen noch, oder dürfen noch arbeiten? Gesprächsstoff wird kaum fehlen heute.
In Eurem Namen danke ich denen, die dies alles organisiert haben. Ich höre jetzt auf, weil ich es nicht übertreiben will. Ich habe in meinem Zeitungsjob Rentnerfeiern erlebt, da waren die Reden so lang, dass der Kaffee kalt und der Kuchen trocken wurde. Auch bei den Vertriebenen wurde sehr gern sehr lange geredet. Und das Schrecklichste wäre, wenn ich Euch vertreiben würde. Und wäre es auch nur zu einer vorzeitigen Rauchpause. Ich wünsch Euch was. Danke.
Begrüßungsrede zum Klassentreffen am 10. Juni 2017 in Gehren,
Einschulungsjahrgang 1959