Theodor Fontane: Meiningen, 27. August

Niemand muss verzweifeln, wenn ihm das im Titel genannte Werk von Theodor Fontane unbekannt ist, vermutlich gehört es nicht einmal im unmittelbaren Weichbild des Theaterherzogs und seiner so oder so gearteten Nachfolger zum Stoff der höheren Schulklassen. Aus heutiger Sicht müsste man vielleicht sogar vermuten, dass es Köpfe geben könnte an verantwortlichen Stellen der einstigen Residenz, die Werke aus Zeitungen wie der „Kreuzzeitung“ verbannt sehen möchten wegen des jugendgefährdenden Potentials betont konservativen Schrifttums. Fontane musste, so wird es bisweilen freundlich ausgelegt, des lieben Geldes, des schnöden Mammons wegen für länger ein Blatt bedienen, dessen Geist ihm keineswegs fremd, auch nur unvertraut war, dem er aber nicht selbst huldigte. „Meiningen, 27. August“ stand also in der genannten „Kreuzzeitung“, die gar nicht „Kreuzzeitung“ hieß, sondern nur im gehobenen Volksmund so genannt wurde. Genauer genommen wurde sie auch offiziell so genannt, weil sie das Kreuz in der Mitte oben hatte, wo der eigentliche Titel, nämlich „Neue Preußische Zeitung“, für sie prangte. Die erschien ab 1848 mit wöchentlich zwölf Ausgaben, außer am Montag täglich einmal am Morgen, einmal am Abend. Wunderliche Zeit.

Seinen Job bei der „Neuen Preußischen Zeitung“ trat Fontane am 1. Juli 1860 an, am 20. April 1870 kündigte er nach Auseinandersetzung mit dem Chefredakteur. Wie in solchen Fälle nicht selten, hat den Chefredakteur längst die vollständige Vergessenheit ereilt, während der Redakteur 200 Jahre nach seiner Geburt ein ganzes Fontane-Jahr auslöst: allein mit den 2018 und 2019 neu erschienenen Biographien kann man den Rücksitz eines Kleinwagens füllen. Ob sie den Eisenbahnwaggon voll älterer Fontane-Literatur ersetzen, bezweifle ich, ohne noch eine neue Zeile daraus gelesen zu haben. Man kennt das Verfahren: Wenn der 200. Geburtstag tatsächlich da ist, am 30. Dezember, ist medial das Ereignis bis zur Erschöpfung ausgelutscht, in Redaktionskonferenzen nennt man das so. Jedes jetzt noch erscheinende neue Fontane-Buch würde Kopfschütteln über den Erzamateur von Autor, den Erzamateur von Verlag auslösen. „Meiningen, 27. August“ erschien am 1. September 1867 in der Beilage des gern ultrakonservativ genannten Blattes, es war der erste Teil einer zweiteiligen Beitragsfolge „Aus Thüringen“, der zweite Teil kam 14 Tage später unter die Leute. In dem ging es um Kissingen, heute Bad Kissingen, nicht ganz Thüringen, aber für Berlin doch fast.

Für Meininger Lokalpatrioten ist das Werkchen nicht pures Labsal, denn für den Reisenden aus Berlin war Meiningen nur Durchgangsstation. Es war, der Text verrät es, sogar so etwas wie ein Fluchtpunkt, denn Fontane kam aus Eisenach, ein nicht geringer Teil des gedruckten Zeilenumfangs galt dann auch Eisenach, und nicht Meiningen. Zuvor hatte Fontane mit Gattin eine Urlaubsreise nach Thüringen absolviert, just am 27. August trennte man sich, Emilie reiste über Kösen, wo sie Zwischenaufenthalt nahm, nach Berlin zurück, während Theodor sich gen Kissingen wandte, denn er wollte Schauplätze des so genannten „Deutschen Krieges von 1866“ in Augenschein nehmen. Das Projekt wuchs sich zügig zu einem zweibändigen Werk aus, das sich einreihte in die Folge der großen Kriegsberichte, die mit „Der Schleswig-Holsteinische Krieg 1864“ begonnen hatte und mit „Der Krieg gegen Frankreich 1870 – 1871“ endete, in der wunderbaren Ausgabe der „Manesse Bibliothek der Weltgeschichte“ stattliche vier Bände. Wer nicht nur den alten Fontane gelten lassen mag, kann sich am jungen und mittleren durchaus ein eigenes Lesevergnügen machen, denn den Reisenden dieses Namens gab es viel eher und keineswegs nur den in Brandenburg Wandernden.

„Seit vier Stunden bin ich in Meiningen“, beginnt Fontane seinen Bericht und setzt fort: „Das wäre soweit ganz erfreulich; minder erfreulich ist es, dass ich zu diesen vier Stunden noch zwanzig zulegen muss, ehe ich wieder fortkann.“ Er bleibt, will das sagen, eher der Not gehorchend als dem eigenen Plan. Immerhin, Zeitungen werden ja gelesen, mag er der Stadt, die er so rasch als möglich wieder verlassen will, kein Negativ-Image an den Hals reden, deshalb lässt er einen Satz folgen, der vorsorgliche Abbitte leistet: „Meiningen ist reizend, nicht nur durch seine Lage, auch an sich.“ Dann folgt schon Städtegeographie, als guter Zeitungsmann setzt er nicht voraus, dass die über ganz Deutschland verteilte Leserschaft schon immer alles weiß: „Die Werra teilt es in eine Alt- und Neustadt. Da, wo sich beide Hälften treffen, liegt das Herzogliche Schloss, ein stattlicher, etwas sonderbarer Bau.“ Eine Wache am Portal lenkt Fontanes Gedanken ganz schnell auf das Meininger Kontingent des Norddeutschen Bundes, er will ja Schlachtfelder besuchen für sein geplantes Buch.

Wie er es schon im August 1866 tat, als er mit seinem Schulfreund Hermann Scherz (1818 – 1888) böhmische Kriegsschauplätze sah, auf denen fast noch der Pulverdampf zu riechen war. „Alle diese thüringischen Bataillone, besonders auch die Weimaraner, machen sich vortrefflich … Der Herzog baut ihnen jetzt eine schöne Kaserne unmittelbar am Bahnhof.“ Doch nicht nur auf Militärisches fixieren sich seine Sinne: „Die Mädchen sind hübsch, die Bäckerläden einladend; gegenüber dem Schloss wohnt der Hofkonditor Adami. Es gibt überall Adamis in Thüringen.“ Auch Seifensieder dieses Namens, lässt sich nach einer raschen Internet-Recherche anfügen. „Die Neustadt ist eine einzige breite Straße, die sich mitten durch den Park zieht. Hier stehen die Prachtbauten, unter andern das Theater.“ Ein langes gelbes Gebäude auf der rechten Seite beherbergt eine ganze Reihe von Kaufläden, deren Inhaber-Namen Fontane zu dieser Schlussfolgerung führen: „Das Ganze also höchstwahrscheinlich ein Meininger Ghetto, aber mit römischer Fassade und großen Goldbuchstaben.“ Fontane meint das 1833 errichtete Kaufhaus, in dem sich heute eine Galerie und die Kammerspiele des Meininger Staatstheaters befinden. Er selbst wohnte im „Sächsischen Hof“.

„Der Wirt heißt Kulmbach; ein Name voll süßer Erinnerungen an das erste bayerische Seidel. Im selben Hause ist auch die Post.“ Sehr viel später saßen nach absolvierter Sitzung die Mitglieder und Kandidaten des Schriftstellerverbandes der DDR, Bezirksverband Suhl, soweit sie Übernachtung bestellt hatten, beim Bier und redeten über Kaninchenzucht, den neuen historischen Roman von Horst Jäger, der mehr gelesen wurde als Anna Seghers. Fontane sah die zweite Phase des Hauses mit Post, die erste endete 1825, die zweite begann mit Übernahme des Hauses durch die Fürsten von Thurn und Taxis, sie endete 1873. Voller Humor erzählt Fontane dann, warum er aus Eisenach flüchtete: Dort werde am 28. August das „Wartburg-Jubelfest“ gefeiert, Liszt, Wagner und Bülow seien schon im „Halben Mond“ eingefallen, wo er doch, wie Fink in Gustav Freytags „Soll und Haben“, dem Bestseller der Zeit, „im wesentlichen nur für die Pauke“ schwärme. Freytag war für Fontane im übrigen ein „Lederschneider, noch viel lederner als Gutzkow“, er nahm nur das Stück „Die Journalisten“ aus und eben den Roman „Soll und Haben“. Die vielen Violinkästen unter den Gepäckstücken im Hotel, behauptet Fontane fröhlich, hätten ihn an raschen Abgang denken lassen.

Meiningen wurde, aus dieser Perspektive, zum „vielleicht geschütztesten Orte in Deutschland.“ Die Begründung für diese verblüffende Behauptung klingt wie der Witz von der Bombe, die man mit in ein Flugzeug nehmen müsse, weil zwei Bomben in einem Flugzeug völlig undenkbar sind: „Hier haben sie nämlich bereits vier Tage geprobt, und wo das Wetter sich ausgewettert hat, kommt es sobald nicht wieder.“ Im Reisetagebuch vermerkt Fontane Regen für den 27. August und den Grund für die gestreckten Aufenthalt: „Die Post geht erst am andern Tag 10 1/2 Uhr.“ Tatsächlich fuhr er erst eine weitere Viertelstunde später erst ab, hatte dafür aber einen Brief an Dr. Tuiscon Beutner (1816 – 1882) geschrieben, von 1853 – 1872 Chefredakteur der „Kreuzzeitung“. Dieser Brief wird vermutlich auch das Manuskript enthalten haben, sonst hätte „Meiningen, 27. August“ kaum am 1. September bereits im Blatt stehen können. Über Henneberg, Mellrichstadt, Neustadt an der Saale, Münnerstadt, Nüdlingen und Winkels kam Theodor Fontane am 28. August 1867 in Kissingen an. Gegen 6, notiert er, stieg ab in einer „Dependance des Sächsischen Hof“. Doch das wird schon eine andere Geschichte, in deren Mittelpunkt der 10. Juli 1866 steht, für Meiningen ohne Bedeutung.


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