Goethe 1819

Für das Jahr 1819 greife ich auf ein Buch aus dem Jahr 1933 zurück, weil es dem Besitz meines Vaters entstammt aus ferner Zeit, da er Bücher noch mit Kopierstift als seine markierte. Den kleinen Stempel nahm er erst später in seine Dienste. Mit ihm sind auch viele meiner Bücher versehen. Das Buch trägt den Titel „Die letzten 1000 Jahre. Kulturgeschichtliche Tabellen“, Autor war Dr. Ludwig Hesse, der Verlag Müller & I. Kiepenheuer Potsdam. Für 1819 vermerkt die Tabelle: „Kolumbien wird selbstständig. Singapur wird britisch. Die Karlsbader Beschlüsse (auf Betreiben Metternichs; gegen die Lehrfreiheit). Kotzebue wird von Karl Ludwig Sand in Mannheim ermordet (wegen angeblicher russischer Spionage).“ Von Kolumbien und Singapur hat Goethe wohl keine Notiz genommen, die Karlsbader Beschlüsse dagegen bewegten ihn wie auch der Mord an Kotzebue. Denn der war in den Jahren 1818 und 1819 eben nicht mehr nur der Autor, den Goethe während seiner Intendanz am Weimarer Hoftheater am häufigsten auf die Bühne brachte, er war zu einem Politikum geworden. Es wird darauf zurückzukommen sein. Dr. Hesse hält für 1819 neben dem „Westöstlichen Divan“ von Goethe für erwähnenswert: Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Niebuhrs „Monumenta Germaniae historica“ sowie Brentanos „Offenbarungen der stigmatisierten Anna Katharina Emmerich“, dazu Victor Cousins Wort-Findung „l'art pour l'art“.

Dass Christian Gottlob Voigt am 22. März 1819 starb, weimarischer Staatsminister und in gewisser Weise Amtskollege von Goethe, fällt so weit schon in die eher regionale Geschichte, dass es der auch Singapur einbeziehende Historiker meint, vernachlässigen zu können. Es muss ihm dabei nicht widersprochen werden. Voigt aber, knapp sechs Jahre älter, fünf Jahre vor ihm in weimarische Staatsdienste eingetreten, stand fast vierzig Jahre in dienstlichen und privaten Beziehungen zu Goethe. Ihr Briefwechsel, bearbeitet und herausgegeben von Hans Tümmler, umfasst immerhin vier Bände. Tümmler war es auch, der sich wiederholt dem Thema „Goethe in Staat und Politik“, so der Titel einer Sammlung seiner Aufsätze aus dem Jahr 1964, zuwandte und damit als Experte gelten kann auf einem von Goethe-Philologen eher vernachlässigten Terrain. Genannter Band enthält zwei Arbeiten, die hier besonderes Interesse beanspruchen dürfen: „Glückwunsch und Anteilnahme. Zeugnisse der Freundschaft aus der letzten Periode des Briefwechsels zwischen Goethe und Voigt 1806 – 1819“ und „Goethe, Voigt und die Weimarische Pressefreiheit 1815 – 1819“. Der zweite Beitrag bringt, bemerkenswert genug, die Formulierung, dass „die Besorgnis vor russischem Ausdehnungsbestreben ja auch einen so maßgeblichen Staatsmann wie den von Goethe bewunderten Fürsten Metternich heftig beunruhigte“. D e r Metternich von Goethe bewundert?

Es gehört nicht zum Jahr 1819, der langen Geschichte von Voigt und Goethe nachzufolgen, da wären neben der Verantwortung für das Bibliothekswesen, neben der Tätigkeit zur Neubelebung des Bergbaus in Ilmenau, sehr viele Linien zu ziehen. Hans Tümmler fand es bemerkenswert, dass noch Gratulationen im Briefwechsel „wie eingekeilt zwischen einer Flut geschäftlicher Mitteilungen“ daherkamen. Und zitiert die Entschuldigung des Präsidenten des Staatsministeriums, Goethe erst am 6. Januar 1819 alles Gute im neuen Jahr zu wünschen. Seinen letzten Besuch bei Goethe absolvierte Voigt am 17. Januar 1819, seine Besuchsankündigung liest sich im Nachhinein wie eine Vorahnung des Endes. Am 19. oder 20. März schrieb der schwer erkrankte Voigt „stellenweise ganz unleserlich“ letztmalig an Goethe. Darin: „Grausamer Gedanke ein letztes Wort an Göthe. Ach lieber Göthe, wir wollen doch innig zusammenleben.“ Tümmler bezweifelte nicht, dass Voigt den allerletzten Gruß Goethes noch in Händen hielt und las, in dem stand: „Sollten wir im ernstesten Falle nicht auch widerspenstig seyn?“ Voigt starb an dem Tag, an dem genau 13 Jahre später auch Goethe starb. Seine letzte Ruhestätte findet sich noch auf dem Jacobsfriedhof in Weimar.

Goethes Eintrag ins Tagebuch vom 22. März 1819 lautet: „Orientalia. Aufnahme der Konzepte. Zu Frau von Stein. Mit Serenissimo in die neuen Ananas und Sonst; wegen des jenaischen botanischen Gartens. Staatsminister von Voigt stirbt um 1 Uhr. Mittag zu vieren. Nach Tische Beerdigung des jungen Falk. Adele Schopenhauer. Abends Hofrat Meyer und Kanzler von Müller.“ Der junge Falk war ein Sohn von Johannes Daniel Falk (28. Oktober 1768 – 14. Februar 1826). Von ihm stammt unter anderem ein Buch mit dem Titel „Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt“. Es ist 2010 in der von Ulrich Völkel herausgegebenen Reihe „Weimarer Texte“ neu herausgegeben worden, eingeführt von Gerhard Heufert. Der wiederum Autor eines ebenfalls in der genannten Reihe erschienenen Buches „Johannes Daniel Falk. Satiriker, Diplomat und Sozialpädagoge“ ist. In den „Tag- und Jahresheften“ lesen wir für 1819: „Staatsminister von Voigt verlässt uns den 22. März, für mich entsteht eine große Lücke, und dem Kreise meiner Tätigkeit entgeht ein mitwirkendes Prinzip. Er fühlte sich in der letzten Zeit sehr angegriffen von den unaufhaltsam wirkenden revolutionären Potenzen und ich pries ihn deshalb selig, dass er die Ermordung Kotzebues, die am 23. März vorfiel, nicht mehr erfuhr, noch durch die heftige Bewegung, welche Deutschland hieraus ergriff, ängstlich beunruhigt wurde.“ Klar, dass das rückblickend gesagt ist.

Die Mord-Nachricht erreichte Goethe erst am 26. März, dem Tag, da Voigt ein „solennes Begräbnis“ erhielt in früher Morgenstunde. Goethe hat nicht weniger als vier Ausrufezeichen in sein Tagebuch gesetzt, mir fehlt die Muße nachzuprüfen, bei welcher Gelegenheit er ähnlich verfuhr und ob überhaupt: „Kanzler von Müller die Nachricht von Kotzebue!!!! Ermordung.“ Am folgenden 27. März heißt es: „Hofereignisse bey Gelegenheit von Kotzebue's Tod.“ Erst am 18. April noch einmal: „Fortgesetzte Zeitungsnachrichten und Urtheile über Kotzebue's Ermordung.“ Aus heutiger Sicht besonders widerlich: Kotzebue's vierjähriger Sohn wurde Augenzeuge der tödlichen Messerstiche. Der Student Sand versuchte, sich anschließend das Leben zu nehmen, nicht ohne einem Diener ein in heutigem Verständnis Bekennerschreiben zu nennendes Schriftstück zu übergeben. Zweihundert Jahre individuellen Terrors von Selbstmord-Attentätern haben wenig Neues gebracht seither. Kurioserweise hat etwas, was wir noch heute Pressefreiheit nennen, damit nicht wenig zu tun. Kotzebue war mittels eines veröffentlichten geheimen Papiers als Spion bloßgestellt worden. Mörder Sand als einer, der schon an der öffentlichen Bücherverbrennung 1817 während des Wartburgfestes der Burschenschaften nahe Eisenach teilgenommen hatte, vollzog den Willen all derer, die sich heute in einem Shitstorm von Hass-Mails zusammenrotten würden.

Im kommenden Jahr 2020 jährt sich der Tag der öffentlichen Hinrichtung Karl Ludwig Sands in Mannheim zum 200. Male. Hinrichtungen waren damals noch immer volksfestartige öffentliche Ereignisse. Bei Sand war es so, dass man sich Locken von seinem abgeschlagenen Kopf schnitt und Taschentücher in sein Blut tauchte. Einen Toten des Monats März 1819 hat Goethe in seinen aktuellen Tages-Notizen wie im späteren Jahres-Rückblick glatt ausgespart: Friedrich Heinrich Jacobi (25. Januar 1743 – 10. März 1819). Erst 2005 ist der Briefwechsel der beiden unter dem Titel „Ich träume lieber Fritz den Augenblick“ neu herausgegeben worden, das Buch hat knapp 300 Seiten, dokumentiert also eine keineswegs periphere Beziehung. Wer Goethes „Campagne in Frankreich 1792“ kennt, weiß, wie viel Zeit sich der Heimkehrer aus dem Krieg gegen das revolutionäre Frankreich ließ, obwohl zu Hause Christiane Vulpius auf ihn wartete: Goethe blieb in Pempelfort, das damals noch nicht zu Düsseldorf gehörte, einen knappen Monat, weil dort eben Friedrich Heinrich Jacobi sein Gut hatte. Seine Rolle in der deutschen Geistesgeschichte kann hier nur mit Stichworten wie „Pantheismusstreit“ und „Atheismusstreit“ angedeutet werden, jedes Detail würde zu weit führen. Ein Vorfall aber lag Ende 1792 schon fast anderthalb Jahrzehnte zurück.

Goethe hatte 1779 ein Exemplar von Jacobis Roman „Woldemar“ im Ettersburger Park an einen Baum genagelt, eine Parodie auf den Roman-Schluss war ausgerechnet von Herzogin Anna Amalia zum Druck gegeben worden, die enthusiastische Freundschaft im Stile der zeitgenössischen Kulte der Empfindsamkeit kühlte von einem Moment auf den anderen zum Nullpunkt ab. Adele Schopenhauer war 1819 nur kurz verschnupft. Goethe hatte sie bei einem Essen verärgert, wie sie am 9. Januar im Tagebuch vermerkte, aber keine zehn Tage später, am 18. Januar, trug sie „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ihres Bruders Arthur zu Goethe, der sich sogleich einen ersten Eindruck verschaffte: „Ward einiges gelesen und mitgeteilt.“ Lesen wir in seinem Tagebuch. Der Jahresrückblick nimmt dann nur den Philosophen selbst ins Visier: „Ein Besuch Dr. Schopenhauers, eines meist verkannten, aber auch schwer zu kennenden, verdienstvollen jungen Mannes, regte mich auf und gedieh zur wechselseitigen Belehrung.“ Den Besuch hält das Tagebuch wiederum für den 19. August fest: „Kam Dr. Schopenhauer, brachte mit demselben den Abend zu. Über seine Studien, Reisen und nächste Vorsätze.“ Und am 20. August noch einen: „Dr. Schopenhauer, demselben die entoptischen Erscheinungen vorgewiesen.“ Wen das Thema „Schopenhauer und Goethe“ interessiert, der sollte zu dem gleichnamigen Buch, Verlag Felix Meiner 2016, greifen.

Ins Jahr 1819 fällt für einen, der 1749 geboren ist wie Goethe, natürlich auch ein runder Geburtstag, der Siebzigste. Goethe erlebte ihn in Karlsbad, wohin er, von Jena aus, am 26. August abreiste. Ich zitiere Johannes Urzidil, den unübertroffenen Experten im Thema „Goethe in Böhmen“: „Es war wunderlich genug, dass Goethe sich am Morgen seines 70. Geburtstages in dem missliebigen Asch befand, wo er übernachtet hatte. Den Geburtstag verbrachte er im Reisewagen, bei schönstem Wetter über Franzensbad, Maria Kulm und Zwodau nach Karlsbad fahrend, wo er am Nachmittag eintraf, einen kleinen Spaziergang machte und sich dann in seine Wohnung bei Frau Heilingötter zurückzog.“ Luzia Heilingötter kannte Goethe schon seit 1806, als er erstmals im Haus „Drei Mohren“ am oberen Ende des Marktes logierte, 1817 erwog er, nach sechs Jahren Pause seit 1812, sich wieder bei ihr einzuquartieren, nun betreute sie ihn wieder. Auch der von seinen Karlsbader Freunden anberaumten Nachfeier am 29. August wich er aus, entschuldigte sich mit Unpässlichkeit. Urzidil vermutet, Goethe habe seiner Trinkkur gleich zu heftig zugesprochen. Immerhin, zum 70. Geburtstag sandte ihm Marianne Willemer einen Spazierstock. Und Goethe ließ in einer Karlsbader Druckerei ein von ihm erst vor Ort verfasstes Gedicht drucken mit dem Titel „Die Feier des 28. August dankbar zu erwidern“. Das ging an die, die ihn mit Geschenk oder Glückwunsch ehrten.

Das Gedicht ist 1827 in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen worden als Nummer 51 der Gruppe „Inschriften, Denk- und Sendeblätter“, das ist, mit Verlaub, so etwas wie die Resterampe und ich gestehe gern, dass mir die eventuelle Schönheit dieser Verse komplett verborgen blieb. Was soll das heißen: „Bring er Tochter nun und Söhne, / Sittenreich, in holder Schöne, / Vor den Vater alles Guten, / In die reinen Himmelsgluten. Mitgenossen ew'ger Freuden!- / Das erwarten wir bescheiden.“ Das sind die letzten sechs von 24 Zeilen. Als Goethe an seinem 70. Geburtstag in Karlsbad eintraf, war die Ministerkonferenz der deutschen Bundesstaaten schon seit drei Wochen im Gange, erste Teilnehmer reisten ab. Immerhin vermerkt Goethes Tagebuch für den 30. August: „Getruncken zu Hause. Schema von 1817. Zu Fürst Metternich, zu Geh. R. Behrends. Adam Müller bey mir.“ Für den 2. September dann: „Halb neun Fürst Metternich ab, mit allen Haus-, Kanzley- und Gesandtschaftsverwandten.“ Die längste Zeit seines nur 32 Tage insgesamt währenden Aufenthaltes im Kurort war Goethe also nicht in der Nähe des Fürsten, der natürlich auch in den „Tag- und Jahresheften“ Erwähnung findet. Alles andere wäre verwunderlich, bedenkt man, was Goethe dem vielleicht meist gehassten Mann der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdankt.

In den „Tag- und Jahresheften“ lesen wir: „In Karlsbad sah ich Fürst Metternich und dessen diplomatische Umgebung, und fand an ihm wie sonst einen gnädigen Herrn.“ Wie sonst? Den Fußnoten von Johannes Urzidil ist zu entnehmen, dass Goethe ihm sehr wichtige Sachen verdankte: die Ehrenmitgliedschaft in der „Wiener Kaiserlichen Akademie der vereinigten bildenden Künste“, das Kommandeurskreuz des Leopoldsordens von Kaiser Franz und, das nachhaltigste: Metternich setzte beim Frankfurter Bundestag, angeregt dazu von Friedrich Gentz, einen besonderen Schutz der Werke Goethes vor unberechtigtem Nach- und Raubdruck durch. Am 26. Oktober 1813 hatte Metternich Goethe in dessen Haus in Weimar besucht, Goethe kam noch am selben Tag zum Gegenbesuch. Metternichs Name taucht in einem Brief an den oben erwähnten Friedrich Heinrich Jacobi vom 27. Juli 1793 erstmals auf, danach in Briefen von 1812 bis 1827 immer wieder einmal, in Tagebuch-Notizen zwischen 1812 und 1825 sowie 1815 in Gesprächen, die Goethe mit Sulpiz Boisserée führte, dort ist auch die spezielle Dankbarkeit Goethes für den Orden belegt (2. August). Es könnte sein, dass dem Verhältnis Goethes zu Fürst Metternich bis heute nicht mit allergrößtem Eifer nachgeforscht wurde. Rüdiger Safranski hat den Namen Metternich nur dreimal, erst fast zum Schluss seines Buches erwähnt er, wie begeistert Goethe von genanntem Urheberrechtspapier war.

Auf 1000 Seiten Goethe-Biographie von Karl Otto Conrady fällt der Name Metternich ganze zweimal, beide Male ohne Bezug zu Goethe. Allein die Tagebücher aber mit ihren sehr knappen Notaten weisen mehrfach auf Besuche und Gegenbesuche, auf Briefe Goethes, auf Sendungen Goethes an Metternich hin. Kurz: das Thema ist interessant genug, soll trotzdem hier nicht weiter verfolgt werden. Aus Karlsbad 1819 noch diese Nachricht: Der Ordenspriester Anton Franz Dittrich (1786 -1849), den Goethe 1813 zuerst in Teplitz getroffen hatte und der ihn 1818 in Weimar besuchte, machte den Dichter auf Marienbad aufmerksam, eben noch im Entstehen begriffen. Was immerhin so erfolgreich war, dass Goethe seine letzten vier Reisen nach Böhmen von 1820 bis 1823 nach Marienbad unternahm. Der amerikanische Mineraloge Joseph Green Cogswell (1786 – 1871) traf Goethe kurz vor dessen Abreise aus Jena gen Karlsbad und teilt seinem Briefpartner am 11. September aus Dresden mit: „Er wurde dieses Jahr gerade siebzig; sein Geburtstag wurde in Weimar gefeiert, am 28. August, und deshalb ging er weg. Ich bin zu alt, sagte er, mich am Geburtstag zu erfreuen.“ Vielleicht auch deshalb hat er sich in Karlsbad und Umgebung mehr als sonst um Natur und Wetter gekümmert, weniger um Menschen. Charlotte von Stein aber, eine Empfängerin von Goethes oben zitierten Dank-Gedicht, wandte sich am 16. Oktober an Knebel.

„Mein armer Kopf“, schrieb sie, „ist mir aber so schwach, das ich auch nicht ein Wort von den Versen verstehe, welche Goethe zur Danksagung seiner Geburtstagsfeier gemacht. Ich bitte Sie, teuerer Freund, ein Licht mir darüber aufzustecken, und helfen Sie meinem schwachen Fassungsvermögen über.“ Charlotte Schiller informierte ihren Sohn Karl am 24. Dezember 1819 über die Sorgen, die sie sich um Goethe mache: „Er ist sehr krank. Er hat einen starken Andrang des Blutes nach dem Kopfe und hat Ader lassen müssen. Er schläft gar nicht. Gott möge ihn uns noch erhalten!“. Was Gott bekanntlich tatsächlich tat. Auch Adele Schopenhauer hatte Goethe in diesem Jahr schon einmal ähnlich gesehen, wenngleich aus anderen Ursachen: „Goethe kam von Berka; einige Gläser Punsch und die Frühlingsluft nahmen ihm alle Besinnung. Ich sah ihn in einem furchtbaren Zustande. Nie werde ich es vergessen.“ Die Literaturgeschichte vergisst etwas anderes nicht von diesem Jahr 1819: Ende August erscheint bei Cotta Goethes große Gedicht-Sammlung „West-östlicher Divan“, entstanden zwischen 1814 und 1819, bis 1827 immer wieder erweitert, am Ende zwölf Bücher umfassend, einige Gedichte im Buch Suleika von der Hand Marianne von Willemers, was Goethe verschwieg und Marianne nicht an die große Glocke hängte. Deutungen und Erörterungen füllen seither ganze Regalreihen, populär sind diese Gedichte niemals geworden.

Fast am Ende des Jahres hat Goethe noch eines Todesfalles zu gedenken. Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg stirbt am 5. Dezember. Wenige Tage vorher las Goethe die Schmähschrift „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“, Autor Johann Heinrich Voß (1751 – 1826). Mit Fritz und dessen Bruder Christian reiste Goethe 1775 in die Schweiz. Es ist die in der Literatur wiederholt und hinlänglich behandelte erste Schweizer Reise Goethes vom 14. Mai bis 22. Juli 1775, gern auch als Flucht vor Lili Schönemann gedeutet. Fritz Stolberg begleitet Goethe anschließend bis nach Weimar und nimmt dort beinahe eine Stelle an wie sein Freund. Schwester der beiden Brüder war Auguste, berühmt und unvergessen als Empfängerin Goethescher Briefe, in denen er seinen Werther-Stil zum privaten Briefstil machte und Gefühle suggerierte, die er für Auguste auf gar keinen Fall empfand. Weder im Tagebuch noch in den „Tag- und Jahresheften“ findet sich ein Hinweis auf den Tod Fritz Stolbergs. Erst am 29. Dezember vermutet Goethe brieflich seinem „Urfreund“ Knebel gegenüber, dass die Schrift von Voß zum Tod Stolbergs beigetragen haben könnte. Die Stelle eines Kurators der Universität Jena, für jede Universität in den „Karlsbader Beschlüssen“ vorgeschrieben, lehnt im Oktober Goethe dankbar ab. Er bleibt, ungewöhnlich genug für ihn, ein knappes halbes Jahr in Weimar. Von da aus startet er zu seiner nächsten Böhmen-Reise, das aber fällt schon ins Jahr 1820.


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