Als Claus Hammel starb

Als Claus Hammel starb, es war Donnerstag, der 12. April 1990, war ich eben den vierten Tag meines Berufsleben verantwortlicher Kreisredakteur einer neuen regionalen Tageszeitung, die sich einfallsreich auch gleich DIE NEUE genannt hatte. Schon im Juli war die neue Herrlichkeit vorbei, nicht nur gerüchtweise hieß es, die westliche Hälfte unserer Modrow-GmbH hätte eigentlich nur einen Einstieg zur Platzierung eines Anzeigenblattes gebraucht, die Währungsunion halbierte die östliche GmbH-Einlage um 50 Prozent, was der westlichen über Nacht alleinige Befugnis für alle Entscheidungen bescherte. Die getroffene Entscheidung zur Einstellung der Tageszeitung führte mich erstmals zum Arbeitsamt, wo ich freilich nur zwei Wochen gezählt werden musste, weil die nächste westliche Zeitung herandrängte, die immerhin anderthalb Jahre durchhielt. Unter ihrem Dach besichtigte ich den Eisenacher Jubel über die deutsche Einheit, ehe ich dann, frischer und ehrgeiziger und immer noch leidlich junger Bundesbürger, meinen zweiten Job als verantwortlicher Redakteur in Ilmenau antreten durfte. Da war Claus Hammel schon ziemlich genau ein halbes Jahr tot, mein Archiv bewahrt als letzten Beitrag zu ihm den Nachruf des ND, erschienen in der Ausgabe vom 19. April 1990, wieder ein Donnerstag, also genau eine Woche später: schnelles Blatt damals.

Aus welchen Gründen auch immer verschwieg der Nachrufer Gerhard Ebert, dass Hammel in den Jahren 1955 bis 1957 als Theaterkritiker für NEUES DEUTSCHLAND gearbeitet hatte, hielt aber den Hinweis für wichtig: „Ohne Studium avancierte er zum Theaterkritiker“. „Er hatte sich zum Schreiben ein Häuschen in Ahrenshoop, Ortsteil Althagen, eingerichtet. Die Ruhe auf Fischland an der Ostsee genoss Claus Hammel wie eine gute Zigarre aus Kuba. Manch einer mag ihm diesen Arbeitsort geneidet haben.“ Den frühen Tod im Alter von 57 Jahren dann vermutlich nicht. Wer am 12. April 1990 starb, hatte das mehr oder minder zweifelhafte Vergnügen, noch als DDR-Bürger zu sterben, in Claus Hammels Fall als DDR-Bürger radikal verblassender Bedeutsamkeit. Keine zehn Jahre war es her, da hatte er mit seinem Stück „Die Preußen kommen“ sogar im Westen Erfolge verbuchen dürfen. Ältere werden sich erinnern: die DDR ließ lange und intensiv die Überzeugung öffentlich pflegen, dass Preußen die Ursache allen deutschen Übels gewesen sei und dann wurde da plötzlich und unerwartet, für viele viel zu früh, ein preußisches Reiterstandbild Unter den Linden zu Berlin aufgestellt, wo es heute noch steht, und ein Professor namens Ernst Engelberg beglückte die Leserscharen unter den Arbeitern und Bauern mit einer durchaus voluminösen Bismarck-Biografie.

Wenn ich nichts übersah, vergingen zwischen der Uraufführung von „Die Preußen kommen“ am Volkstheater Rostock, wo Hammel einige Jahre eine Festanstellung hatte, am 3. Juli 1981 und dem Druck des Textes als Buch im Eulenspiegel-Verlag 1988 sieben lange Jahre. Zwischenzeitlich durften Zuschauer des II. Programms die Komödie zu Hause genießen: DDR II strahlte die Hanns-Anselm-Perten-Inszenierung am 2. Juli 1983 erstmals aus. Für die Erstaufführung in den noch nicht alten Bundesländern, die noch drei Jahre warten mussten, es zu werden, sorgte das Schlosstheater Celle am 21. März 1987, die Regie führte dort Jürgen Kern. Und ich mittendrin? Ich las am 18. Dezember 1976, schon im dritten Semester meines Berliner Philosophie-Studiums, „Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt“ (und wurde am selben Tag auch mit „Die Kipper“ von Volker Braun fertig). Am 25. August 1978 las ich „Um neun an der Achterbahn“ zwischen insgesamt vier Bühnentexten von Alexander Puschkin und vor zweien von Harald Mueller. Damit endete mein aktives Verhältnis zu Claus Hammel. Heute, da sein früher Tod 30 Jahre her ist, sehe ich meine Bleistift-Markierungen in beiden Bändchen mit leiser Wehmut: lang ist es her. Und ich denke, dass der arme Kerl Hammel im Wissen starb, mit seinem letzten Stück zu spät gekommen zu sein.

In Joachim Walthers „Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik“ (Ch. Links 1996) taucht Claus Hammel weder als Spitzel noch als Bespitzelter auf. Damit war er nach 1990 uninteressanter als uninteressant. Am 22. Oktober 1989 aber durfte er im SONNTAG, für den auch ich eifrig schrieb, über die Rostocker Uraufführung von „Der Nachbar“ lesen: „Ich gestehe, in diesen Tagen keinen Bedarf an verschlüsselten Sprüchen über Nation, Staat, Macht, Parteien und Diplomatie zu haben, in welchem historischen Gewand sie auch immer daherkommen mögen.“ Vernichtender als Ingrid Seyfarth das formulierte, konnte ein Urteil kaum ausfallen. Auch die Kritiken in der NATIONALZEITUNG und im ND waren alles andere als lobend. Nun hatte Hammel Bismarck auf die Bühne gebracht, Bismarck und seinen Nachbarn aus der Berliner Wilhelmstraße, den Eisenbahnmagnaten Bethel Henry Strousberg, einen Juden, was die Kritiker gar nicht oder nur nebenher erwähnten. Das Stück laufe nur auf eine Szene zu, wurde moniert. Da gibt es andere Stücke, die das auch tun. Nur hier eben, mitten in den Turbulenzen des Untergangs der DDR, waren die unlängst noch bedeutsamsten Debatten plötzlich vollkommen irrelevant geworden. Es wurde üblich, klarsten Klartext besser zu finden als das, was vor längerer Zeit ein gewisser Lenin die Sklavensprache genannt hatte.

Noch ein Jahr früher wäre das Aufhacken einer Mauer auf einer DDR-Bühne als Symbol ein ewiges Ruhmesblatt für Autor und Regie geworden. Jetzt war das reale Schaffen der Mauerspechte in allernächste Nähe, örtlich und zeitlich. Wen interessierte es noch, das ein Berliner Theater erst sechs Jahre nach der Rostocker Uraufführung endlich auch „Die Preußen kommen“ gezeigt hatte: das war eben so in der DDR; Test in der Provinz oder, bei Kinofilmen habe ich es selbst öfter erlebt, Vorführung am Rande Berlins, wohin man stundenlang mit der S-Bahn fahren musste. Das Verfahren verabschiedete sich gerade für immer in den Orkus der Geschichte. Testläufe in der Provinz ließ auch der Broadway starten, dort freilich ging es um den Markttest von Stücken, nicht um die faule Ausrede, man habe ja das Stück nicht verboten, nur halt im Theater Rudolstadt oder Neustrelitz erlaubt. Alles vorbei jetzt. „In seinen frühen Werken spiegelte sich seine zwar sarkastisch-kritische, doch zugleich freundliche Einstellung zum Leben. Ihn beflügelte der noch ungebrochene Glaube an die Prosperität des Sozialismus.“ Ja, ein Glaube war das, viel mehr nicht. Irene Böhme, ein Jahrgang jünger als Hammel und der DDR schon 1980 abhanden gekommen durch Umzug nach West-Berlin, hatte für die WEIMARER BEITRÄGE ein Interview mit ihm geführt, das im Februar-Heft 1969 gedruckt wurde. Es ist noch immer interessant, darin zu lesen.

„Die Pflicht des Schriftstellers ist es nicht, fortgesetzt schöpferische Pausen einzulegen. Wenn er länger als anderthalb Jahre nichts hervorbringt, sollte er sich auf anderem Gebiet nützlich machen. Schon aus Selbstachtung. Übrigens auch, um seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu bestreiten.“ Undenkbar, das noch fünfzehn Jahre später etwa im Bezirksverband Suhl des Schriftstellerverbandes der DDR vorzutragen. Dort saßen Monat für Monat nette ältere Männer beisammen, die ihre letzten Broschürchen in den 50ern publiziert hatten. Zu seinem berühmten Stück „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ verriet Hammel Irene Böhme, er habe zur Wachsamkeit aufrufen wollen: „Zur Wachsamkeit gegen die Beruhigung, dass es keine Feinde mehr um uns und in uns selbst, in jedem einzelnen gäbe, seit wir Betreiber und Nutznießer der Gesellschaft des entwickelten Sozialismus sind.“ Mein Fragezeichen an der Seite bezog sich, darf ich heute vermuten, auf die Periodisierung der eigenen Geschichte. Die SED, sage ich mit eigener Theorieerfahrung im Hinterkopf, liebte kleinteilige Perioden, am liebsten von Parteitag zu Parteitag, um sich selbst die Entwicklungsdynamik einzureden, die real gar nicht vorhanden war. Und zwischen den Parteitagen von 1967 und 1971 hieß halt das Schlagwort für alles und nichts: EGSS (Entwickeltes Gesellschaftliches System des Sozialismus), die Literatur hatte zügig zu folgen.

Während in den Sonntagsreden, deren Besonderheit in der DDR darin bestand, auch an den restlichen Tagen der Woche gehalten zu werden, von Menschengemeinschaft fabuliert wurde, die Künstler aufgefordert wurden, sich stärker der „Königsebene“ zu widmen, war, was Hammel da so sagte 1969, durchaus quersinnig: „Diese Feinde – nennen wir sie ruhig so – schlafen nie. Sie heißen: Genügsamkeit, Trägheit, Überheblichkeit, Bildungsstillstand, Versöhnlertum, Mangel an Selbstkritik, Undiszipliniertheit und so weiter. Einer, ein besonders gefährlicher, heißt Entideologisierung.“ Da man in der DDR stets DDR-Bezug las, auch wenn der ausdrücklich verleugnet wurde, war das herbe Kritik am Alltag des real existierenden Sozialismus der späten Ulbricht-Zeit. Claus Hammel sprach 1969 natürlich auch über nichtantagonistische Widersprüche, die anders zu sein hatten als die antagonistischen, unter denen andere leiden durften, obwohl sie, laut hiesiger Theorie, ja die Alleinverantwortung für jegliche gesellschaftliche Entwicklung trugen. DDR-Widersprüche hatten irgendwie harmloser zu sein, lösbarer mit Tendenz zur Selbstauflösung (was den eigenen Theorien, die jeder von der Kreisparteischule bis zum Studium des Marxismus-Leninismus an den Universitäten vermittelt bekam, heftig widersprach). Schriftsteller waren nicht zwingend berufen, Hilfstheoretiker zu spielen. Wenn sie es doch taten, dann meist eher erfolglos.

Die Mehrzahl aller Bühnenwerke Claus Hammels fußt auf Vorlagen in Prosa, mal auf Fontanes „Frau Jenny Treibel“, mal auf Mark Twains „Ein Yankee an König Artus Hof“, mal auf Balzacs „Le Faiseur“, aber auch auf einem schon existierenden Stück: „Hier ist ein Neger zu lynchen“ ist eine autorisierte Neufassung von Hans Henny Jahnns „Straßenecke“. Wie in den fünfziger Jahren ausgerechnet Jahnn in die DDR finden konnte und das sogar autorisierte, wäre interessant zu wissen, ich habe nichts dazu finden können. Wohl aber eine Aussage Hammels zum Umgang mit Romanen für die Bühne: „Nichts ist heilig an Romanen, die dramatisiert werden sollen. Außer: die geistige Haltung und das moralische Ziel; diese sind unantastbar, alles andere ist Stoff, zuweilen auch nur Thema.“ Mit dieser Haltung könnte er heute zu Höhenflügen ansetzen an sehr vielen Theatern, verrät allerdings indirekt, dass es letztlich dann nur um Trittbrettfahrerei geht, um die heute alltägliche Hoffnung, mit dem Namen und dem Titel von Romanautoren und ihren Büchern ein wenig am Erfolg mitzulutschen, den sonst allenfalls Klassiker versprechen. „Die Naturwissenschaftler entscheiden die kommenden Schlachten“, glaubte Hammel 1969 in Nachwort zur Buchausgabe seiner „Komödien“, „Die zeitgemäße Internationale ist die Internationale der Forscher und Techniker.“ Spätestens mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 war das ein Satz für die unterste Schublade. Mit Kybernetik und Systemtheorie starb auch sozialistische Technikgläubigkeit.

In „Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt“ (Edition Neue Texte 1976), die Handlung spielt in Mecklenburg 1972, gibt es eine Figur namens Dinse. Der Zufall will, dass ich, da ich 1972 in Mecklenburg, speziell in Rostock und Umgebung, meinen NVA-Grundwehrdienst absolvierte, einen Soldaten kennenlernte und so etwas wie sein Freund wurde, der Dinse hieß, den Vornamen weiß ich nicht mehr. Ihn hielten alle für etwas einfältig, er war in vielen Dingen unfassbar naiv und was immer ich ihm antwortete, wenn er mich etwas fragte, und er fragte sehr viel, hielt er für der Weisheit letzten Schluss. Ich hatte nie einen gläubigeren Anhänger. Und dann fand ich diese Figur bei Hammel, die unter anderem sagte: „Wir sozialistischen Reaktionäre lieben das Leben. Du darfst ja auch eins nicht vergessen … Die Maßstäbe. An was soll Rom sich messen, wenn wir nicht sind? Ohne Durchschnitt keine Höhepunkte. Zum Wohl, Männer!“ Zum Wohl, Dinse, könnte ich noch heute rufen. Die Fassung von „Um neun an der Achterbahn“, die ich 1978 las, war schon eine gedruckte Strichfassung. Heute wäre ich neugierig auf das, was gestrichen wurde von den Theatern und ihnen folgend von Hammel selbst. In der dritten Szene des vierten Bildes sagt eine Gertrud: „Ich geh jetzt gern mit ihr einkaufen. Das macht immer viel Spaß. Neulich, die Apfelsinen – da haben wir fünf Pfund stückweise in dreizehn Delikatessgeschäften zusammengekauft.“ So war sie, die DDR, so schön. Als Claus Hammel starb, waren Apfelsinen-Lawinen nicht mehr aufzuhalten.


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