Urwald bei Storkow
120 mal 83 Millimeter misst ein kleiner roter Kalender im Querformat, er passt haargenau auf einen kleinen grauen Kalender im Hochformat, der deutlich dicker ist. Auf dem deutlich dickeren steht: NVA-Kalender 1972, den anderen ziert nur die nackte Jahreszahl 1973. Er zeichnet sich dadurch aus, dass seine erkennbare Nutzung gewissermaßen jählings am 26. April 1973 endet, während der kleine graue bis zum Silvestertag, es war ein Sonntag, diensthabend blieb. In der Spalte des 26. April steht mit Druckbuchstaben: „Auferstehung des Herrn“. Ostern war es nicht. Es war der Tag, an dem ich, auf einem Lkw sitzend, das Tor jenes Mot.-Schützen-Regimentes Nummer 28 auf immer verlassen durfte, zu dem ich achtzehn Monate lang gehörte, ein Tuch mit allerlei Namen um den Hals, einen Orden an der Brust und einen Teelöffel in der Hand, der unmittelbar vor dem Tor gemeinsam mit Dutzenden anderer Teelöffel schwungvoll aufs Pflaster geworfen wurde. Im Sammeltransport siedelte ich den Orden von der Brust auf die Hose in Höhe des rechten Knies um, was mit dem baldigen Verlust des baumelnden Unterteiles verbunden war, während das obere Dreieck noch heute in einem Schächtelchen ruht.
Unter dem 13. Januar 1973 findet sich das Wort „Storkow“ geschrieben. Womit klar wird, dass ich an dieser Stelle die Rubrik „Vor vierzig Jahren“ beliefere, weil sich eine erzählenswerte Geschichte anbietet. Die beginnt mit einer Vorgeschichte DDR-deutscher Art. Meine sämtlichen Verwandten mütterlicherseits wohnten „im Westen“, darunter meine leiblichen Großeltern, diverse Onkel und Tanten, diverse Cousins und Cousinen. Sie besuchen durfte man nicht, nicht einmal im Krankheitsfalle. Auch an eine Teilnahme an einer Beerdigung der eigenen Mutter, des eigenen Vaters, war über lange Zeit nicht zu denken. Dass dies bei den Betroffenen die Liebe zum Staat nicht direkt erhöhte, lässt sich nachvollziehen. Als ich im Rahmen meiner Musterung vor dem Abmarsch zum Grundwehrdienst die üblichen Angaben zu meiner Westverwandtschaft liefern musste, die ich teilweise nicht einmal dem Namen nach kannte, erheiterte die Sekretärin im Wehrkreiskommando Ilmenau mich auf lange Sicht mit dem Seufzer: „So einen Fall wie Sie hatten wir noch nicht.“ Sie musste ein zweites Blatt beginnen, ich fand das Ergebnis zwanzig Jahre später im Bestand meiner Stasi-Akte wieder, zur Armeezeit sonst leider nichts.
Der vollständige Text ist nur noch zu lesen in: Eckhard Ullrich: Restsympathien und andere, dictum-Verlag 2014 Seiten 205 bis 209, ISBN 978-3-95618-123-8