Wie man hassen lernt
Mein Tagebuch aus der Zeit vom 17. September 1971 bis zum 6. Dezember 1973 weist zwischen dem französischen Nationalfeiertag 1973 und dem zweiten August 1973 eine Lücke auf. Seltsam krakelig wirkt die Kugelschreiberschrift heute auf mich. Um 20.30 Uhr begann ich mit ein paar Zeilen über Hesses „Steppenwolf“, war eben mit dem „Traktat“ zu Ende gekommen. Im Radio hörte ich Weather Report, den „Boogie Woogie Waltz“, dreizehn Minuten lief das, wenn es so lange lief wie auf der CD „Sweetnighter“, die ich mir zwanzig Jahre später kaufte. Andrew White am Bass, Wayne Shorter die Saxophone, Joe Zawinul Keyboards, Miroslav Vitous auch Bass, Eric Gravatt Drums, Herschel Dwellingham Drums und dann noch die Percussions von Dom Um Romao und Muruga. Noch heute will niemand verstehen, warum ich Black Sabbath und Weather Report gleichzeitig mochte, wieso Soft Machine und Ritchie Blackmore parallel mein Ding waren.
„Mein Weather Report sieht genauso aus wie der Himmel draußen“, lese ich. Und weiter: „ Am 23. Juli die telefonische Nachricht, daß Leipzig meine Studienzulassung rückgängig gemacht hat, am 26. Juli Fahrt nach Suhl mit einer Aussprache wegen der Beurteilung, die für diese Entscheidung die Ursache war. Ich habe von der ganzen Sache so die Nase voll, daß es mir fast zuwider ist, hier etwas davon zu schreiben. Die Beurteilung ist unklug gemacht und trifft auch nicht die Wahrheit. Man hat mir alle Pläne zunichte gemacht, mich buchstäblich auf die Straße geworfen. Und auch meinen guten Willen in Richtung Journalismus arg strapaziert. Am 31. Juli waren wir in Leipzig, um den Einspruch abzugeben, man zeigte sich verwundert darüber, daß mir die Ablehnung bekannt ist, während der eigentlichen zentralen Kommission der Fall noch nicht vorlag. Endter war gar nicht berechtigt, mir die Ablehnung als offiziell mitzuteilen.“
Da ist er, der 23. Juli 1973. Es war ein Montag. Ich absolvierte wie immer seit dem ersten Juni meinen Arbeitstag in der Kreisredaktion Ilmenau von FREIES WORT. Anders als in den gut drei Wochen in Suhl im Mai hatte ich zu tun, wenngleich nicht annähernd so viel wie später, als ich erlebte, wie unvergleichlich viel mehr man in einer bestimmten Zeiteinheit machen kann als damals. Warum so viele Redakteure soffen, ist mir im Rückblick klar geworden: sie hatten einfach zu wenig zu tun. Kein besserer Beweis belegte das schon damals, als der Umstand, dass eine sehr junge Kollegin und ich in diesem Sommer 1973 den Lokalteil an etlichen Tagen allein bewältigten, weil die fest angestellten Redakteure nicht da waren, warum, weiß ich heute nicht mehr. Ich will nicht wiederholen, was ich andernorts darüber schrieb. Auf alle Fälle ist die anhaltende Schockstarre von FREIES WORT in der Wendezeit mindestens teilweise darin begründet, dass die Redakteure einfach nicht gewohnt waren zu arbeiten. Was sie selbst natürlich nie so sahen.
Ob alles anders, zivilisierter, menschlicher, welches Wort passt da, abgelaufen wäre, wenn die Kreisredaktion Ilmenau in diesem Sommer normal besetzt gewesen wäre an jedem regulären Arbeitstag, ich weiß es nicht. Auf alle Fälle redete normalerweise der stellvertretende Chefredakteur nicht mit dem Volontär auf direktem Draht, sondern er ließ den verantwortlichen Kreisredakteur weiterleiten. So aber ging ich ans Telefon und hörte, woran ich mich heute im Detail nicht mehr erinnere: Die Sektion Journalismus der Karl-Marx-Universität Leipzig habe meine Studienzulassung zurückgezogen, ich möge das entsprechende Papier doch nach Suhl zurücksenden. Woran ich mich erinnere, ist, dass ich wie vom Schlag getroffen war. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Ich bin aus der Redaktion gelaufen, nach kurzem Besinnen auf dem schnellsten Weg in die Krankenhausstraße, in das noch recht neue Gebäude des Rates des Kreises, wo in der dritten Etage die Abteilung Volksbildung saß. Ich bilde mir ein, dass ich gezittert habe. Dass ich Mühe hatte, von der Beurteilung zu sprechen, die mir am Telefon vorgelesen wurde.
Der zweite August 1973 war schon der Tag, an dem ich den Aufhebungsvertrag unterschrieb. In einem Schnellhefter mit der Aufschrift „Manuskripte“ finde ich ein leider undatiertes Typoskript von 24 Seiten Umfang, von dem nur die ersten fünf Seiten mit Kugelschreiber ausgeführte Korrekturen aufweisen. Es war, erinnere ich mich vage, die impulsive Reaktion auf diesen Montag, der Versuch, ohne Vorbereitung mir selbst literarisch zu machen, was passiert war. Die Idee war sehr einfach. Ich ließ Stimmen sprechen, die jeweils verschiedene Beziehungen zu demjenigen hatten, um den es ging, der selbst aber nicht zu Wort kam. Ich wollte mit aller Macht versuchen zu objektivieren, sieben Stimmen sind versammelt in der Mappe, jeweils ein Name steht am Anfang, sonst keinerlei nähere Aussagen zu den Namensträgern. Es ist mir noch heute leicht, die fiktiven Namen ihren Urbildern zuzuordnen. Der stellvertretende Chefredakteur und der Kreisredakteur in Ilmenau sind dabei. Dokumentarisch ist das alles natürlich nicht.
Dokumentiert sind aber verschiedene Vorgänge, die mich noch jetzt wütend machen. Es herrschte eine unfassbare Verlogenheit in Suhl und auch in Ilmenau. Unter dem Datum vom 6. Juli 1973 sandte ich eine von der Kreisredaktion erstellte Beurteilung in die Leipziger Tieckstraße. Deren Text ich leider nicht besitze, die mir aber offenbar keinerlei Bauchschmerzen bereitet oder gar Ahnungen verursacht hat, damit könnte meine Zukunft als Journalist in Gefahr geraten. Diese Beurteilung war jedoch nicht die, die mir am 23. Juli von Harry Endter, dem damaligen stellvertretenden Chefredakteur und nachmaligem Verlagsleiter, vorgelesen wurde. Die hatte überhaupt keinen Bezug zu meiner Arbeit in der Kreisredaktion, enthielt aber diesen Passus: „Eckhard Ullrich ist parteilos. Er glaubt noch Zeit zu haben, sich für den Eintritt in die Partei zu entscheiden. Seine politische Grundeinstellung bedarf dringend der Festigung.“ Es folgen noch Sätze bezüglich des angestrebten Einwirkens auf mich, Ziel, „ um ihn so im letzten Monat noch gründlicher auf das Studium an der Sektion vorzubereiten.“
Von dieser am 7. Juni 1973 ausgefertigten Beurteilung, die ich entgegen dem geltenden Arbeitsrecht nicht zu sehen bekam, bevor sie in Umlauf gebracht wurde, ist der rein lobende Teil, 22 von 41 Maschinenzeilen, mir mit dem Datum vom 31. Juli 1973 als Gesamteinschätzung ausgehändigt worden. Demgemäß hatte ich schriftlich: „Eckhard Ullrich ist ein junger, sehr intelligenter und vielseitig interessierter Volontär.“ Mein Text endet mit „Seine Arbeitsbereitschaft ist zu loben.“ Schon im lobenden Teil fand sich eine Formulierung, die heute zum Klippschulbestand der beurteilenden Heimtücke gehört: „Er bemühte sich...“ Dann aber, im nichtöffentliche Teil „Gewisse Stärken...“, „... wurde von ihm mit weniger großem Interesse erledigt.“ Nach der löblichen Arbeitsbereitschaft kommt ein Satz, für den der Autor mit Prügel bestens bedient gewesen wäre. Ich weiß nicht, wer aus meiner Suhler Abteilung NIP (Nachrichten- und Informationspolitik) das Formulieren übernahm, ich hörte nur später mit fast beschwörender Hartnäckigkeit, alle meine Kollegen würden alles jederzeit wieder unterschreiben.
Also verdienen sie alle die Verachtung, die mich damals manchmal regelrecht wild machte, jetzt vor allem traurig, weil ich natürlich längst gelernt habe, was Fleisch ist, was Geist. Also, Abteilungsleiter Walter B., Horst P., Jochen M.; Renate P., Harald K., Heinz P., Günther H.; Iris B.; eure damalige und spätere Verlogenheit war bodenlos. Der schlimmste aber, Heinz P., outete sich mit einer Selbstverständlichkeit als Spitzel, dass mir damals, als wir in Suhl zur Aussprache antraten, fast die Luft wegblieb. Er, mit dem ich zeitweise in einem Dienstzimmer saß, Harald K. war der dritte im Bunde, hat ein A-5-Buch, kleinkariert, über mich geführt, aus dem er mir in Gegenwart des stellvertretenden Chefredakteurs und meines mir sekundierenden Vaters vortrug, was für finstere und schlimme Meinungen ich alleweil zum besten gegeben hatte. Am stärksten gegen mich sprach, was ich zum aktuellen ZK-Plenum gesagt hatte. Es muss, wenn ich mich richtig erinnere, das neunte gewesen sein, welches die halbwegs positiven Ansätze des sechsten schon wieder zurücknahm, wie ich es mir deutete. Mich interessierte ohnehin immer nur die Kultur in diesen Schwafeleien, die unser täglich Zeitungsbrot waren.
Die Sätze, die mich zum Amokläufer hätten machen können, wenn meine Konfiguration dazu gepasst hätte, lauteten: „Allerdings müsste er sich befleißigen, mehr Eigeninitiative zu zeigen. Sie wurde manchmal vermißt.“ Ich habe nur eine Woche nach meiner Entlassung aus dem Armeedienst mein Volontariat in Suhl wieder aufgenommen, andere Entlassene haben drei oder vier Wochen Urlaub gemacht. Ich habe in meiner alten Abteilung angefangen. Niemand hat auch nur ein Wort mit mir geredet, wie es jetzt mit mir weiter gehen könnte, ob es vielleicht gut wäre, auch einmal eine andere Abteilung kennenzulernen. In der Kultur, die damals nachweislich unter Unterbesetzung litt, hätte ich ganz andere Fähigkeiten und Kenntnisse einsetzen können als im Bearbeiten von Agentur-Meldungen und Seitenspiegel-Malen. Selbst die dokumentierte Boshaftigkeit gegen mich verweist auf Stärken, wenn auch nur gewisse, in der schöpferischen Tätigkeit, auf die gute schriftliche Qualität dessen, was ich schrieb, wenn ich mal etwas schreiben durfte.
Ansonsten hatte das Volontariat, wie ich es in einem halben Jahr erlebte in Suhl und Ilmenau, mit Ausbildung nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es gab nie irgendeine Schulung, nie Arbeit am Text. Es war wie in jedem normalen Betrieb auch, nur schlimmer, der Lehrling als billige Arbeitskraft. Dass aber die Leute, die mir vor dem Grundwehrdienst, also als ich noch 18 war, fast täglich die Seite 7 überließen, eine reine Nachrichtenseite, an etlichen Tagen den Keller auf der Seite 2 oder bisweilen auch die halbe Seite 8, weil die verehrten Kollegen Redakteure wochenlang mit einer Partnerstädteseite, einer Militärseite oder mit nichts befasst waren, mir nun mit 20 plötzlich keinerlei Aufträge mehr gaben, mir diese Situation nie erläuterten, mir auch nie mit einer einzigen Silbe angedeutet hatten, was sie nun von mir erwarten vor dem Abgang nach Leipzig, das war mehr als starker Tobak. Im Nachgang reimte sich mir natürlich vieles zusammen. Man ließ mich einfach in ein offenes Messer laufen, indem man mich an einer Elle maß, von der mir niemand sagte, dass sie mir zugedacht war.
Vorbei die schöne Zeit, da ich frei erfundene Leserbriefe zu Angela Davis beantwortete, die Zeit, da ich mit einer vorgeschriebenen Meinungsäußerung in das Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk eilen durfte, um den Urheber der Meinung, den mir der Betriebsparteisekretär nach Kenntnisnahme des Textes empfahl, mit seiner ihm bis dahin noch unbekannten Meinung zu konfrontieren und sein Einverständnis einzuholen für die Nennung seines Namens in der Zeitung. Welche Eigeninitiative hätte ich in der Nachrichtenabteilung entfalten sollen, schöpferische Texte waren dort nicht gefragt, wo sie gefragt waren, war ich aber nicht gefragt. Fast noch schlimmer als die Aussprache in Suhl war später die in Leipzig, dort hieb mir eine Sektionsparteisekretärin, deren Namen ich vergessen habe, auf die Schulter, Optimismus verbreitend, wie sie wohl meinte, und forderte mich auf, ein Kämpfer zu werden. Ich aber wollte nur schreiben. Als ich dann nach einer Phase der Arbeitslosigkeit, nach einem vergeblichen Versuch, einen Studienplatz für Theaterwissenschaft zu bekommen, nach knapp zwei Jahren als Bibliothekshilfsarbeiter mein Philosophiestudium begann, hörte ich noch im ersten Semester, wie froh ich sein müsste, nicht in Leipzig gelandet zu sein. Mir wurde als Beispiel die BERLINER ZEITUNG genannt, die immer lieber Fachleute nehme, die schreiben könnten, als diese Diplom-Journalisten aus der Kader-Schmiede.
Das förmliche Ende des Kapitels Journalistikstudium ereignete sich übrigens erst am zweiten Oktober 1973. Harry Endter streute sich in Leipzig in Anwesenheit eines Professor Michaelis, eines Dr. Jahn, einer Frau Wittenbecher Asche aufs Haupt, wohl auch deshalb, weil vom Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, wo wir ebenfalls vorstellig wurden, ungeschützt gesagt worden war, unser Fall sei nicht der erste, in dem sich Suhl als besonders problematisch erwiesen habe. Endter gab sich einsichtig, selbstkritisch. Die Dame Wittenbecher aber war offenbar voller Kenntnis meiner ideologischen Rückentwicklungsdetails aus Armeebriefen und Gesprächen in der Redaktion. Die Frage, ob ich denn überhaupt eine Chance gehabt hätte, in die SED einzutreten, was weder einem Soldaten im Grundwehrdienst noch einem Schüler einer Erweiterten Oberschule noch einem Volontär ohne weiteres möglich war, weil immer die Prozente gewahrt werden mussten, die den vorgeblichen Arbeiteranteil bestimmten, diese Frage wurde nicht einmal gestellt, es galt die pure Tatsache: Du bist nicht in der Partei.
Ich schied aus Leipzig mit dem himmelschreienden Angebot, noch einmal ein Jahr Volontariat in Suhl machen zu dürfen, obwohl ich doch die schriftliche Bestätigung eines erfolgreich abgeschlossenen Volontariats in den Händen hielt (und noch heute halte, als fast schon wieder lustige Erinnerung). Mein Tagebuch vom 10. Oktober zieht das Fazit so: „Meine Zusage gab ich, entschloß mich dann aber nach ruhiger Überlegung doch anders. Ich konnte nach allem einfach kein Vertrauen in Endters Versprechungen setzen. Damit ist die Frage Journalismus ein für allemal erledigt.“ Sie tauchte erst wieder 1990 auf, als ich die Chance bekam, die erste Konkurrenzredaktion zu FREIES WORT mit aufzubauen. Ich war motiviert. Ich war sehr gut motiviert. Denn auch die zweite sporadische Phase einer Zusammenarbeit mit meiner einstigen Volontariatszeitung, 21 Artikel von Ende Januar 1986 bis Ende September 1988, endete mit dem Abbruch der Beziehungen, Hauptgrund: die unterdrückte Besprechung von Landolf Scherzers „Der Erste“, die die erste in der DDR gewesen wäre.
Am 23. Juli 1973 stand von mir in FREIES WORT nur dieser umfangreiche Bildtext: „Sehr beliebt ist die Gaststätte „Auerhahn“ bei in- und ausländischen Wanderern, die auf Goethes Spuren unterwegs sind. Neben den zahlreichen FDGB-Urlaubern aus der Umgebung loben auch Gäste aus Ungarn, Polen, der BRD und anderen Ländern die gute Küche des Hauses. Fast 250 Mittagessen werden zur Zeit täglich verabreicht. Unser Bild (rechts) zeigt den Stammtisch in der Traditionsecke des „Auerhahns“.“ Auf dem Bild sieht man oben ein Geweih mit Glühbirnen dran und darunter sitzen drei Männer, drei Frauen, zwei Kinder. Das jüngere Kind und der älteste Mann schauen in die Kamera. Am Tag nach dem Schockmontag erschien der umfangreichste Text meiner endenden Volontariatszeit: „Stippvisite bei Berliner Jören und Kindern von der Waterkant“, Dachzeile „Zwischen Veronikaberg und Jüschnitztal“. Auf dem linken oberen der insgesamt sechs Fotos zum Feriensommerreport sieht man mich mit kariertem Hemd und Sonnenbrille, das Notizbuch vor mir. Das habe ich noch irgendwo, es war ein A-6-Ganzleinen-Büchlein.