Silvio Blatter, im Vorbeigehen

Im Jahr 1984 veröffentlichte die Evangelische Verlagsanstalt Berlin (DDR) eine Sammlung mit „Erzählungen aus der Schweiz“ unter dem Titel „Ich kehr zurück im Morgengrauen“. Von Silvio Blatter wählte der Herausgeber Jörg Hildebrandt jedoch keine Erzählung aus dem durchaus vorhandenen Angebot, sondern einen Auszug aus dem Roman „Zunehmendes Heimweh“ (1978), der später mit „Kein schöner Land“ (1982) und „Das sanfte Gesetz“ (1988) die so genannte „Freiamt Trilogie“ bildete. Hildebrandt gab dem Auszug die dem Text entnommene Überschrift „Ein Bild, das sich aus einem Traum gestohlen hat“. Sechs von 476 Druckseiten vermitteln naturgemäß kein Bild von den Zusammenhängen, in denen der Auszug im Buch steht, viel mehr als die Namen Margrit und Herbert kann der Leser nicht in Erfahrung bringen. Margrit ist schwanger und leidet an Schlaflosigkeit. Was sie nachts aus ihrem Fenster schauend sieht, scheint ihr das nämliche Traumbild, ansonsten aber steigen Erinnerungsbilder in ihr auf an ihre Kindheit, die eine sehr stark katholisch geprägte war. Es sind teils beklemmende Bilder von strafweisem Knien im Mittelgang der ungeheizten Kirche, oder vermeintlich harmlosere wie die vom Sitzen auf der Frauenseite in eben dieser Kirche. Saß man da früher nach Geschlechtern getrennt?

Durch Margrits Kopf geht auch dies: „Die katholische Kirche ist vor allem ein schwerreicher, multinationaler Konzern, hatte Herbert einmal gesagt. Ihre Geschichte ist nachweisbar der Abfall von ihrem Ursprung. Gott ist eine Erfindung, der Katholizismus eine Herrschaftsform. Es geht um Machtausübung und Geld. … Und so wie das Geheimnis Gottes sein Schweigen war, war das Elend der Kirche ihr Sagen. Sie unterstellte Gott, dem Schweiger, Sätze und Reden, und wurde dadurch eine Schwätzerin.“ Als Heinrich Böll den Roman las, dem das entnommen ist, schrieb er für den SPIEGEL eine Besprechung (25. September 1978), nachgedruckt später auch in seiner Sammlung der „Schriften und Reden 1978 – 1981“, Titel: Die „Einfachheit“ der „kleinen“ Leute. Böll, der selbst einen nicht geringen Teil seines Ruhm seiner Kritik an der katholischen Kirche Kölns und des Rheinlandes verdankt, war von Sätzen wie den zitierten in seinem eigenen Katholizismus dann doch offenbar etwas überfordert, schmallippig empfahl er: „Das lässt sich gewiss auch auf andere Konfessionen und ihre Abweichungen anwenden. Mögen auch die Nichtkatholiken ihre Kerker erkennen und öffnen.“ Als wären die Katholiken auf diesem Feld die natürlichen Vorreiter gewesen. Das Freiamt ist eine katholische Enklave im Kanton Aargau, es ist die Heimat Silvio Blatters.

In Bremgarten dort ist er am 25. Januar 1946 geboren, heute demnach sein siebzigster Geburtstag. Er war also noch keine 30, als sein Roman „Mary Long“ in der DDR erschien (Verlag Volk und Welt Berlin 1975), zeitig ist von meinem Exemplar das Cover am Rücken weggebrochen. Das war damals ein auch formal ungewohntes Buch hierzulande: viele sehr kurze Absätze, ein sich ständig selbst reflektierendes Schreiben. Das in Prosa, was in der Dramatik längst ein älterer Hut war seit Thornton Wilder und seinen Schülern. Blatter ist selbst sehr direkt im Buch präsent: „Ich entschuldige mich bei allen, die von mir einen Arbeiterroman erwartet haben, weil ihnen mein Buch „Schaltfehler“ gut gefallen hat. Aber wer mich auf ein Thema festnagelt, zerstört mich. Ich bin keine Maschine. Ich muss etwas anderes machen.“ Das letzte war gar in Versalien gedruckt. „Schaltfehler“ heißt tatsächlich ein frühes Buch von Blatter, es war nach „Brände kommen unerwartet“ (1968) und „Eine Wohnung im Erdgeschoss“ (1970) sein drittes, 1972 bei Flamberg in Zürich erschienen, ein Jahr vor „Mary Long“ im selben Verlag. Herausgeber Roland Links wählte für den ersten Band der „Erkundungen. 35 Schweizer Erzähler“ (1975 in 2. Auflage bei Volk und Welt Berlin) just den Titeltext „Schaltfehler“ aus, heute fast nur noch literarisches Zeitdokument.

Was im „Westen“ inklusive Schweiz als „Literatur der Arbeitswelt“ mit Gruppe 61 und Werkkreis Literatur der Arbeitswelt für eine begrenzte Zeit allgemeinere Aufmerksamkeit eroberte, von gar nicht so bösen Zungen als Bitterfelder Weg des Ruhrgebiets apostrophiert, erscheint bei Blatter als detailversessene Schilderung von Arbeitsabläufen mit Entfremdungswirkung. Blatter selbst hat in seinem Autorenleben zweimal für kurze Zeit als Fabrikarbeiter sein Dasein bestritten. Die Bücher „Schaltfehler“ und „ Genormte Tage, verschüttete Zeit“ (1976) künden davon. Dass er seinen Figuren intellektuelles Empfinden, intellektuelle Wertungen und Sicht implantiert, ist ihm möglicherweise nie wirklich bewusst geworden. Systemübergreifend kenne auch ich als Kind der DDR mit Erfahrungen in den Schulfächern „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“ (UTP), später „Wissenschaftlich-praktische Arbeit“ (WPA), die Schockwirkung bei Anblick stupider und monotoner Arbeit an Fließbändern, Dreh- oder Fräsmaschinen, im Ferienjob „Entgraten“ von Metallteilen. Doch hatte ich später das Glück, mit soziologischen Forschungen konfrontiert zu sein, die gerade bei Frauen alles andere als brachiale Entfremdungseffekte oder gar Persönlichkeitsstörungen diagnostizierten. Der intellektuelle ist immer der Blick von außen.

Folglich muten die Reflexionen von Blatters Rolf K., der sich vorgenommen hat, das Kopieren eines Hohlfußüberganges in sechstausend Exemplaren mit einer Normerfüllung von 125 Prozent im Akkord zu schaffen, bisweilen fast bizarr an. Nicht nur die Beschreibung der Abläufe muss älteren DDR-Lesern damals wie ein Rückfall in die schlimmste Zeit der frühen Produktionsromane erschienen sein. Das literarische Interesse an Arbeitswelt, wie das in der DDR nie hieß, hat dort stets wie verordnet gewirkt, im „Westen“ hatte es dagegen wenigstens zeitweise ganz marktwirtschaftlich einen stofflichen Neuwert, ein verkaufsaffines Alleinstellungsmerkmal im Literaturbetrieb. Man liest etwa: „Zudem ist es immer peinlich, wenn man einen Schaltfehler zugeben muss und dumm dasteht, weil man nicht weiß, was zu machen ist.“ In der tatsächlichen Produktion, auf dem Bau oft noch viel deutlicher, ist die hierarchische Arbeitsteilung viel selbstverständlicher ausgeprägt, peinlich ist es kaum, wenn einer etwas nicht kann, was der Einrichter oder der Vorarbeiter kann. Man brauchte die ja sonst nicht. Wenn der angelernte Fräser freilich vorher einige Semester studiert hat, ist die Situation vollkommen anders. „Die Gedanken müssen doch zwölftausendmal irgendwo ausweichen können.“ Schriftsteller-Irrtum!

Für „Schweiz heute. Ein Lesebuch.“ (Volk und Welt Berlin 1976) wählten die Herausgeber von Silvio Blatter die bezeichnende, fast exemplarische Geschichte „Santanas Greatest Hits“ aus. Es ist nach vierzig Jahren kaum noch vorstellbar, wie extrem gefragt ein solches Lesebuch damals war. Wenn sich auch niemand mit einem spitzen schwarzen Hut auf dem Kopf um Mitternacht vor einer Buchhandlung anstellte, um es als einer der ersten zu ergattern. Literarische Schweiz war Bückware, Gegenstand von Beziehungen, Zufallstreffer nie ausgeschlossen. Die Langspielplatte „Santana's Greatest Hits“, Spieldauer 34:31 Minuten, kam im Juli 1974 auf den Markt, sammelte zehn Titel, fünf des Albums „Abraxas“, drei von „Santana“ und zwei von „Santana III“, Platin in Deutschland für eine halbe Million verkaufter Exemplare, siebenmal Platin in den USA für sieben Millionen verkaufter Exemplare. Silvio Blatter erzählt von einem Mosch, sonst keinerlei weitere Charakterisierungen, der in einem Warenhaus das Cover sieht mit dem nackten schwarzen Oberkörper, vor dem eine schwarze Hand eine weiße Taube hält. Er lässt sich an der Theke die Scheibe vorspielen. Bald danach zieht er mit den Augen erst eine Frau, dann nach und nach alle anderen Warenhaus-Besucher aus. Und imaginiert eine verrückte Szenerie.

Während die wirklichen Menschen erstarren, werden die Puppen mobil, die verschiedenen Artikel verselbständigen sich: „den starren Mädchen fielen die Brüste ab, doch die Büstenhalter waren schon aus der Wäscheabteilung gekommen, und die abgefallenen Brüste lagen nun in den Fächern, in denen vorher die Halter gelegen hatten“. Alles kommt wieder ins Lot natürlich. Sie kauft einen Pullover und sieht sich beim Schmuck um, „und Mosch war, als sie wegging, froh, dass in der Parfümerie eine Bombe explodierte, dort die Decke einstürzte und die ganze Warenwelt zu Boden riss. Aber es war wieder nur die Musik gewesen, die die Ordnung für einen Moment zerstört hatte.“ Das ist 68 pur, intellektuelle Gewaltphantasien, harmlos zumeist, zu allermeist nur in Köpfen, aber dann auch in jäher Eskalation folgten tatsächliche Kaufhausattentate und Carlos Santana würde sich herzlich bedanken, damit auch nur entfernt musikalisch in Verbindung gebracht zu werden. Silvio Blatter konnte seine Generationszugehörigkeit nicht einfach ausschalten. Von der es mehr Spuren im Werk gibt als diese eine. Mehr soll hier aber nicht stehen. Nur noch Dieter Fringeli zu Blatters „Love Me Tender“ (1980): „Wir sind ja so weit gekommen, dass wir uns nicht einmal mehr glücklich zu fühlen wagen; wir leben in einer Umgebung, in der Verbissenheit Trumpf ist und entsetzlicherweise mit Verantwortungsbewusstsein verwechselt wird.“ Ja doch.


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