Heinrich Zschokke: Der zerbrochene Krug

Wir können verhältnismäßig viel über Heinrich Zschokke lesen, weil wir unverhältnismäßig viel über Heinrich von Kleist lesen können. Zum Kleistjahr 2011 regnete es Biografien und durch jede geistert Zschokke. Der in Magdeburg geborene Schweizer (22. März 1771 – 27. Juni 1848) hat eine kleine Rolle in Kleists kurzem Leben, sie beschränkt sich auf dessen Zeit in der Schweiz. Schauen wir in die Biografien, beginnend bei Jens Bisky. „Zschokke hat später von einem Dichterwettstreit erzählt, der vor einem französischen Kupferstich entbrannt sein soll, auf dem die Freunde in seiner Wohnung ein „trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter“ zu erkennen glaubten. Ludwig Wieland habe daraufhin eine Satire versprochen, Kleist ein Lustspiel entworfen, Zschokke eine Erzählung verfasst.“ Bei Gerhard Schulz liest es sich so: „... und irgendwann in den geselligen Tagen mit Zschokke, Geßner und Wieland war auch die Idee zu einem Dichterwettstreit um einen französischen Kupferstich entstanden, auf dem ein Richter über einen zerbrochnen Krug zu befinden hatte, den ihm ein junges Mädchen präsentiert. Ob es damals mehr war als eine Idee, ist unbekannt, jeder der vier hat aber auf seine Art tatsächlich eine Variation dazu geschrieben“. Knapper bringt es Günter Blamberger.

„Man begeistert sich laut Zschokke … und vereint sich zum „poetischen Wettkampf“ anlässlich eines Kupferstichs „La cruche cassée“, der in Zschokkes Zimmer hängt. Kleists „Zerbrochner Krug“ hat – laut Zschokke - „den Preis davongetragen“. Das Zitat holt der Biograph später noch einmal in voller Länge nach, nachdem er zuvor Details zum Kupferstich vorträgt: „Das Original stammt von dem französischen Maler Louis-Philibert Debucourt. Er inspiriert damit seinen Landsmann Jean Jacques André Le Veau zu einem Kupferstich mit dem Titel „Le juge, ou la cruche cassée“, der den zerbrochnen Krug als Sinnbild verlorener Unschuld in einen juristischen Rahmen setzt. Ein Abdruck davon findet sich in der Wohnung von Kleists Freund Zschokke in Bern.“ Es folgt aus der Reihe der Neu-Biographien zum Jubeljahr noch Peter Michalzik. „in diesem Kreis ereignete sich eine kleine Geschichte, die für manche Kleistforscher zu schön klingt, um wahr zu sein. In Zschokkes Wohnung hing ein Kupferstich, der den Titel „Le Juge ou la Cruche cassée“ trug, „Der Richter oder der zerbrochene Krug“. Zschokke, Wieland und Kleist ließen sich von dem Bild zu verschiedenen Deutungen inspirieren und machten daraus im Scherz einen Dichterwettstreit. Jeder sollte aufschreiben, was er in dem Bild sah.“ Michalzik bleibt immerhin misstrauisch.

„Offenbar steckte für alle in dem Scherz so viel Ernst, dass jeder der vier Freunde – einschließlich Geßners, der nach Zschokkes Erinnerung gar nicht dabei war, einen dichterischen Versuch wagte. Merkwürdig bleibt, wie Kleist den Sieg davontragen konnte, so berichtet es jedenfalls Zschokke, wo Kleists Stück doch frühestens drei Jahre später fertig wurde. Vielleicht aber hat ja auch jeder der Teilnehmer am Dichterwettstreit einen mündlichen Vortrag seiner Idee gegeben, oder Kleist hat eine frühe Szene vorgelesen.“ Vielleicht sind auch alle Deuter der Geschichte einfach der fortwirkenden Grundidee des klassischen Dramas, des geschlossenen Dramas, wie es später genannt wurde, den drei Einheiten des Aristoteles, aufgesessen. Die Quellen aber geben es keinesfalls her, dass der Wettstreit zu einer Zeit an einem Ort als geschlossene Handlung ablief. Wenn Kleist den Sieg davontrug, muss das ja nicht zu Füßen des Kupferstichs gewesen sein. Heinrich Zschokke hat seine Lebenserinnerungen, aus denen immer zitiert wird, deutlich später zu Papier gebracht. Seine beiden Bände „Eine Selbstschau“ erschienen 1842 zuerst, 1853 gab es bereits die fünfte Auflage. Kleist war da bereits mehr als dreißig Jahre tot, eine wertende Rückschau aus Kenntniss der Zeit danach für einen klugen Mann wie Zschokke also keineswegs undenkbar, eher im Gegenteil.

Hundert Jahre vor Bisky, Schulz, Blamberger und Michalzik setzte Arthur Eloesser in seinem Kleist-Büchlein die Geschichte einfach als bekannt voraus, Kleist habe die Arbeit am „Zerbrochnen Krug“ wieder aufgenommen (in Königsberg), „der in Bern auf Grund der bekannten Wette zwischen den drei Freunden zuerst entworfen worden war.“ Auch später, in seiner zweibändigen Literaturgeschichte wird Zschokke als einer der Freunde mit nur wenigen Zeilen bedacht: „Auf dem Wege von Hebel ging Heinrich Zschokke. Der frühere Theologe aus Magdeburg, der mit Komödianten umhergezogen war, der mit seinem „Abällonio, der große Bandit“ gegen Vulpius „Rinaldo Rinaldini“ konkurriert hatte, brachte es zu einer hohen Stellung im schweizerischen Erziehungswesen, die ihn zur pädagogischen Volksschriftstellerei verpflichtete. Einige muntere Novellen vom ihm wie das „Abenteuer in der Neujahrsnacht“ haben sich lange erhalten; seine erbaulichen Schriften wurden dann von Jeremias Gotthelf erdrückt.“ Vom „Zerbrochenen Krug“ aus Zschokkes Feder kein Wort, in dieser Enthaltsamkeit stehen ihm spätere Kleist-Biographen nicht nach. Und auch Otto Brahm war nicht geneigt, sich nach den Produkten der anderen Teilnehmer an jenem Wettstreit umzutun, den natürlich auch er kannte und mit keinem Wort in Zweifel zog.

„Ein zweites Werk Kleists ist aus der unmittelbaren Anregung und dem freundschaftlichen Wettstreite dieser Berner Zeit entstanden: „Der zerbrochene Krug“, der durch einen Kupferstich in Zschokkes Zimmer und den Vorsatz von Kleist, Zschokke und Wieland, diesen zum Ausgangspunkt einer Dichtung zu nehmen, angeregt wurde.“ Hans Joachim Kreuzer, 1980 Begründer des Kleist-Jahrbuches und viele Jahre Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, wischte die gesamte Geschichte schwungvoll vom Tisch: „Dieser Wettstreit hat nie stattgefunden. Es ist eines von den vielen Beispielen dafür, wie sich Zeitgenossen selbst ein Plätzchen in der Literaturgeschichte zuzuschreiben suchen. Der Kern der krausen Legende besteht darin, dass in Zschokkes Wohnung ein Kupferstich hing, auf den noch einzugehen ist.“ Kreuzer führt zu den bereits genannten Namen noch einen dritten ein: Jean-Baptiste Greuze, dessen „La cruche cassée“ im Louvre hing und Kleist bekannt gewesen sein soll. Was lernen wir aus dieser sicher beliebig zu erweiternden Auswahl von Darstellungen, die allesamt auf den gleichen knappen und dürftigen Quellen beruhen? Auf alle Fälle dies: Niemand lässt sich davon abhalten, altbekannte Tatsachen neu aufzutischen, wenn ihm die Chance dafür gegeben wird. Der Wettstreit selbst interessiert niemanden, allenfalls der Sieger.

Der aber hieß Kleist und es fragt sich, warum Heinrich Zschokke das alles erfunden haben soll. Seiner Geschichte „Der zerbrochene Krug“ half es jedenfalls weder in den Olymp der kurzen Prosa noch überhaupt zu irgendeinem Ruhm. Rund zwanzig Seiten Prosa mit Vorspruch gegen einen soliden dramatischen Einakter, den Goethe später in Weimar unsensibel in drei Akte zerbröckelte, was nicht half, den Dorfrichter Adam vom Weg in den Komödien-Olymp abzuhalten, wo er bis heute lebt und glänzt, glänzt und lebt. Heinrich Zschokke hat die Geschichte (oder Legende) aber nicht nur in seinem Lebensrückblick erzählt, er hat sie, in anderer Formulierung, auch seiner eigenen Geschichte vorangestellt, die zu DDR-Zeiten etwa im Rahmen der Zusammenstellung von Erzählungen gedruckt wurde, die im Aufbau-Verlag als bb-Buch unter dem Titel „Der tote Gast“ erschien. Dort ist „Der zerbrochene Krug“ im Inhaltsverzeichnis verbunden mit der Jahreszahl 1813, was ihn in die Zeit nach Kleists Selbstmord im November 1811 versetzen würde. Wie auch immer: zum 250. Geburtstag von Heinrich Zschokke darf ein Blick auf eine Erzählung von ihm geworfen werden, die sich durch mehr als nur ein zusätzliches e im Titel von Kleist unterscheidet.

„Der zerbrochene Krug“ von Heinrich Zschokke führt in den Süden Frankreichs in einen sehr kleinen Ort namens La Napoule. Wer ihn heute sucht, findet ihn unter dem Namen Mandelieu-la-Napoule, westlich von Cannes, aber die heutige Kommune ist natürlich nicht mit jener zu vergleichen, in der der Erzähler seine kleine Geschichte angesiedelt hat. Damals galt: „Doch sagt man, es wachsen da die feurigsten Weintrauben, die süßesten Rosen und die schönsten Mädchen.“ Das schönste der schönen Mädchen aber war Mariette, 17 Jahre alt, Tochter der Manon, die wegen einer Erbschaft aus Avignon beide in ihren Geburtsort zurückkehren. Zschokke hat seine Erzählung in zwölf kurze Abschnitte gegliedert, jeder hat eine eigene Zwischenüberschrift und voran steht folgender Vorspruch: „Man kennt, unter gleichem Namen, ein kleines Stück vom Dichter des „Käthchen von Heilbronn“. Dieses und die hier folgende Erzählung hatten im Jahr 1802 zu Bern einerlei Veranlassung des Entstehens. Heinrich von Kleist und Ludwig Wieland, des Dichters Sohn, pflogen Freundschaft mit dem Verfasser, in dessen Zimmer ein Kupferstich, „La cruche cassée“ unterschrieben, hing, dessen Gestalten und Inhalt ungefähr dieselben waren, wie sie unten im Kapitelchen „Das Gericht“ vorgestellt sind.“ Das ist das zehnte der zwölf Kapitelchen.

„Die ausdrucksvolle Zeichnung belustigte und verlockte zu mancherlei Deutungen des Inhalts. Im Scherz gelobten die drei, jeder wolle seine eigentümliche Ansicht schriftlich ausführen. Ludwig Wieland verhieß eine Satire, Heinrich von Kleist entwarf sein Lustspiel und der Verfasser gegenwärtiger Erzählung das, was hier gegeben wird.“ Damit wäre, wenn es stimmte, auch die Zeitfrage geklärt: 1802 gab es nur Ankündigungen, Entwürfe, keineswegs fertige Texte. Es ist interessant, dass Zschokke Kleist mit dem „Käthchen von Heilbronn“ in Verbindung bringt, dies also als das bekannteste Stück von ihm bei seinem Lesern voraussetzt. Mariette aber, die eigene Mariette, hat gar nichts mit allem zu tun, was Kleist in einen holländischen Rahmen in die Gegend von Utrecht verlegt hat. Zschokke ist eher dem nahe Liegenden gefolgt: französischer Stich, französischer Schauplatz. Und auf dem verdreht seine Heldin allen im Dorf den Kopf, allen in einer bestimmten Reihenfolge, den älteren Männern, den jüngeren Männern, den älteren Frau und schließlich auch den jüngeren Frauen und Mädchen. Zschokke gibt sich als Kenner des Lebens und er durchschaut auch, was er passieren lässt. „Die Chronik von La Napoule hatte ihre guten Gründe, von Marietten zu erzählen. Ich, an der Stelle der Chronik, hätte es auch getan.“ Sympathischer Ton.

„Denn seit Mariettens Ankunft war mehr als ein Bräutigam kühl geworden und mehr als ein Anbeter seiner Geliebten abtrünnig.“ Ganz früher waren das gute Gründe für eine zünftige Hexenjagd. Hier aber: „Denn wer mit Marietten sprach, konnte nicht anders als sie liebgewinnen. Und ehe ein halbes Jahr verging, hatte jeder mit ihr gesprochen und war sie jedem lieb.“ Das dritte Kapitelchen ist mit „Vom bösen Colin“ überschrieben und es beginnt bibelfest: „ Doch nicht alle Menschen haben die Gabe des süßen Mitleids, sondern sind verstockten Herzens wie der Pharao.“ Colin ist 27 Jahre alt, der reichste Pächter und Gutsbesitzer, eine gute Partie für alle potentiellen Bräute, ein erwünschter Schwiegersohn für alle träumenden Schwiegermütter. Nun er hat bisher keinerlei Anstalten gemacht, er hat gelebt, „ohne gefragt zu haben, wozu ein Mädchen erschaffen sei.“ Das müssen wir dem Erzähler glauben. Aber man kennt sich aus mit solchen Expositionen. Man ahnt, wie es weiter geht und ist neugierig, welche Stolperfallen auf dem Wege warten. Erst aber gibt es einen schwerhörigen Pastor, Pater Jerome. Und einen Jahrmarkt in Vence. Damals war das noch kein Wohnort für Prominente, wurde es aber später. Damals verkaufte man auf dem Markt auch Krüge und einer von diesen gefiel Mutter Manon wie Tochter Mariette über alle Maßen.

Ausgerechnet der böse Colin, der natürlich nicht böse ist, kauft den Krug, lässt ihn fein verpacken und beauftragt seinen Knecht Jacques, die Schachtel in Manons Haus zu bringen. Da auch ein Richter noch vonnöten ist, wird dieser im Kapitelchen „Der Überbringer“ eingeführt, es ist der Richter Hautmartin. Kein Adam. Dieser Richter nennt eine spezielle Nase sein eigen: „Ja, diese Nase, die dem Richter immer wie ein Trabant vorausging, seine Ankunft zu verkünden, war ein rechter Elefant unter den menschlichen Nasen.“ Er würde gern Manons Schwiegersohn werden, was die auch keineswegs ungern sähe. Dieser Richter, 50 Jahre alt, bringt den Krug, den er dem Knecht abgeschwatzt hat, als wäre er es, der ihn kaufte. „Da ging Mariette hinaus und weinte bitterlich und hasste den schönen Krug von Herzen.“ Ich gestehe, dass ich Texten nur schwer widerstehe, in denen bitterlich geweint wird. Und von Herzen wünsche, dass nicht die großen Nasen Sieger der Geschichten werden, in denen schöne Mädchen schöne Krüge hassen. Mariette aber findet am Brunnen nun immer Blumen, Blumen von Colin, was sie nicht weiß und nicht gleich erfährt, selbstredend. „Mariette war, was die Mädchen sonst gar nicht zu sein pflegen, sehr neugierig.“ Währenddessen predigt der schwerhörige Pastor zu „Des Himmels Fügungen sind wunderbar.“

Auf Erden sind es bisweilen Dichter, die wunderbare Fügungen ersinnen. Mariette findet heraus, wer der Blumenspender ist, es gibt, was ein anderer, bedeutenderer, „Kabale und Liebe“ zu nennen sich gefallen ließ. Die Mutter drängt auf Hochzeit, der potentielle Bräutigam ist immerhin nicht dreist genug, das fehlende Jawort der Braut einfach zu ignorieren. Mutter Manon aber hat eine eigene Wahrheit: „Wenn die Sache so steht, muss die Hochzeit schnell sein. Ist die vorbei, ist alles vorbei.“ Welten tun sich auf in diesem alles. Und am Brunnen ereilt den schönen Krug sein Schicksal: Colin „schleuderte die Blumen so tückisch zum prächtigen Krug auf dem Felsstück, dass dieser zu Boden stürzte und zerbrach. Schadenfroh floh er davon.“ Während bei Kleist der Richter beim Sprung aus dem Fenster seine Perücke verliert und bald eine Fußspur des Teufels hinterlässt, reißt bei Heinrich Zschokke Mutter Manon gleich das gesamte Fenster „aus den morschen Steinen, dass es mit grauenhaftem Getöse zu Erde stürzte und zerbrach.“ Keine zwei Seiten füllt das Kapitelchen „Das Gericht“, das Zschokke im Vorspruch eigens ankündigte. Richter Hautmartin wird von Knecht Jacques der Falschaussage überführt und Colin, der Käufer des Kruges, will zum Landvogt nach Grasse, wohin die Leute heutzutage hauptsächlich des Parfüms wegen reisen.

Die Geschichte, wie aus der ungewollten Hochzeit des Richters mit Mariette die ebenfalls ungewollte Hochzeit des bösen Colin mit der guten Mariette wird, die dennoch als Happy End zu sehen ist und Konstellationen aufgreift, die bis weit zurück in die italienische Renaissance-Novelle verfolgt werden dürfen, soll hier verschwiegen werden. Das feinere Feuilleton könnte daraus das Narrativ „Die Segnungen der Schwerhörigkeit“ destillieren, die Klappe wäre gefallen und hätte eine von eins verschiedene Zahl an Fliegen erschlagen. „Frau Manon ward ihres Schwiegersohnes froh, als sie seinen Reichtum kennenlernte, und besonders, da Herr Hautmartin gefangen samt seiner Nase nach Grasse geführt ward.“ Das Schwiegermutter-Motto lautet zeitgemäß wie überzeitlich schlicht: „Lieber reich und gesund, als arm und krank.“ Womit das Finale erreicht ist. Heinrich Zschokke fasst es in diese Worte: „Der zerbrochene Krug aber ward in der Familie bis auf den heutigen Tag als Andenken und Heiligtum aufbewahrt.“ Und wandte sich anderen Geschichten zu, deren Titel jeder kennt, aber niemand mit seinem Namen in Verbindung bringt: „Hans Dampf in allen Gassen.“ Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters Peter Dampf: man meint ihn zu kennen.


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