Max Frisch: Blätter aus dem Brotsack
Wie muss man gebaut sein, was muss man gelernt haben, um sich beim Schreiben über „Blätter aus dem Brotsack“ von Max Frisch, als Buch zuerst 1940 erschienen, mit so simplen Feststellungen wie „schildern den Militärdienst des Kanoniers Frisch im Tessiner Grenzgebiet“ oder „Beschreibung des Soldatenalltags“, „Darstellung des Militärs“ begnügen zu können, wie es Klaus Haberkamm und Svenja Kroh für „Kindlers Literatur Lexikon“ vollbracht haben? Zu vermuten ist, dass dafür gar keine besondere Konstitution vonnöten ist. Man muss nur ins Buch gucken und aufschreiben, was drin steht. Dem gehobenen Feuilletonisten wie dem ins biographische Fach der Literaturgeschichte schlagenden Autor fallen dagegen Fragen ein wie: „Max Frisch im Krieg. Passt das zusammen?“ Die Frage ist nicht nur unsinnig, sondern auch noch komplett falsch gestellt. Und der folgende Satz macht es nicht besser: „Auf Fotos, die ihn in Uniform zusammen mit Kameraden zeigen, passt es gut.“ Es gibt nur leider kein Foto, das Max Frisch im Krieg zeigt, keins mit Kameraden, keins ohne Kameraden, denn Frisch war nicht im Krieg. Frisch hat Militärdienst geleistet in der neutralen Schweiz, alles in allem gut 21 Monate, während in Europa und der Welt der Zweite Weltkrieg tobte.
Der Autor, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendeiner, dem man abwinkend alles nachsieht, es ist Volker Weidermann, dessen Buch „Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher“ neben anderem einen Hang zur Überinterpretation von Fotos zeigt. Das Verfahren ist aus der Geschichte des Porträtierens unrühmlich bekannt. Es geht bis auf einen gewissen Lavater zurück, auch ein Schweizer, was hier wenig bedeuten will, der sich sogar fähig wähnte, aus Schattenrissen und Scherenschnitten ganze Persönlichkeitsdiagnosen zu formulieren. Sollte Max Frisch auf den Fotos fröhlich ausgesehen haben, heißt das so wenig, dass er den Krieg auf die leichte Schulter nahm wie umgekehrt, dass er mit suizidalen Erwägungen umging, weil sein Blick weltverloren wirkte. Nein, Max Frisch hat, wie nahezu alle männlichen Schweizer, seinen Militärdienst geleistet, erstmals 1931, das war das, was man Grundausbildung nennen müsste, und später, wenn er einberufen wurde. „Blätter aus dem Brotsack“ sind Aufzeichnungen über die erste Dienstphase unmittelbar nach Kriegsbeginn. Diese Phase endete schon Ende Oktober 1939. Weil in diesen Blättern steht, dass es einen ausdrücklichen Schreibauftrag an den Kanonier Frisch gab, werden sie immer als ein Auftragswerk verstanden.
Wer ehrlich ist, kann solche Lesart keinesfalls dem Text selbst abgewinnen. Denn dort steht wohl ziemlich am Anfang dies: „Es handle sich um ein Tagebuch, das geschrieben werden sollte, so ein Tagebuch unseres Grenzdienstes. Jeden Tag während der Geschützschule stehe eine Stunde zur Verfügung, auch ein feldgraue Schreibmaschine sei da.“ Das bedeutet aber mitnichten, dass der Text, der als „Blätter aus dem Brotsack“ sogar Buchform gewann, nachdem es Vorabdrucke gab, identisch ist mit jenem täglichen Pflichttext, den Max Frisch auf der feldgrauen Schreibmaschine zu tippen hatte. Wer auch nur ein ganz winziges bisschen Ahnung von Militärdienst hat, dazu reichen ein paar Monate Zivildienst bei der Bundeswehr oder gar des Wehrdienstverweigerers volle Enthaltsamkeit eben nicht hin, der weiß, dass auch der freundlichste Hauptmann der Schweiz niemals das als das gewünschte Tagebuch hätte gelten lassen, was Frisch mit seinen „Blättern“ lieferte. Es ist ja nicht einmal im förmlichen Sinne ein Tagebuch, denn es fehlen, als Minimum, die Tage. Es fehlt das Faktische. Es gibt allerhand genaue Beobachtungen, allerhand kluge Reflexionen, allerhand farbige, poetische Beschreibungen, der Grenzdienst selbst aber kommt eher knapp weg.
Man könnte, dem heutigen Zeitgeist in Deutschland nachtapsend, die pseudoprovokatorische Frage stellen: War Frisch ein Rassist? Denn zweimal in den „Blättern“ kommt das Wort Neger vor, spitzfingrig vor Ekel jetzt meist nur noch das „N-Wort“ genannt, als hätte es ausgeschrieben den Ansteckungsgrad von Pest, Cholera, Ebola und Covid in einem. Einmal ist ein Korporal, im Zivilleben Maurer, „untertänig wie ein Neger“, das andere Mal lassen sich Soldaten in einem sehr reichen Haus, dorthin vom Fahrer des Barons geladen, in der Küche „von einem Neger bedienen.“ Nein, natürlich war Max Frisch kein Rassist. Er ist, als er diesen ersten Grenzdienst in Tessin nach dem Überfall Deutschlands auf Polen antritt, immerhin schon reichlich 28 Jahre alt. Als ich meinen Grundwehrdienst in der NVA der DDR 1971 antrat, waren 28 Jahre alte Mitsoldaten unfassbar alte Männer, die verheiratet, bisweilen Diplom-Ingenieure waren, die Kinder hatten, eigene Häuser sogar in einzelnen Fällen. Solche „Erwachsenen“ sahen das Leben, also auch das Militärleben, einerseits gelassener, andererseits aber auch betroffener. Max Frisch hat in seinen Aufzeichnungen thematisiert, was ich als „Sinn des Soldatseins“, in Halbleinen sogar gedruckt, studieren durfte.
Volker Weidermann irrt an einer weiteren Stelle heftig: „Natürlich ist der immer noch auf schwankendem Boden stehende Max Frisch in Versuchung, sich nach dem Kriege zu sehnen, wie so unendlich viele europäische und vor allem deutsche geistesmüde Intellektuelle am Vorabend des Ersten Weltkrieges.“ Nein, nach dem Krieg sehnten sich vermutlich nur sehr, sehr wenige Intellektuelle und geistesmüde waren sie auch nicht. Sie sehnten sich nach einem Ende der, eine sehr viel spätere westdeutsche Metapher sei bemüht, bleiernen Zeit um 1900, des „Fin de Siécle“, und als der Krieg dann kam, missverstanden sie ihn in just diesem Sinne. Das aber ist etwas völlig anderes als ein Herbeisehnen des Krieges. In der Schweiz schon ganz und gar nicht, die lieferte zwar über Jahrhunderte brave und beliebte Söldner an allerlei ausländische Heere und in den Vatikan, Erfahrung mit Kriegen, gar positive, konnte sie jungen Männern dennoch nicht vor Augen stellen. In den Aussagen der Blätter, in denen Max Frisch auf Gefühle und Empfindungen kommt, die mit einer Waffe in der Hand verbunden sind, lassen sich unterdrückte militaristische Ambitionen nicht finden, auch nicht in die hineindeuten. Kanonier Frisch registriert sie ja voller Erstaunen.
Auch Volker Hage, zwanzig Jahre älter als Volker Weidermann und deshalb entsprechend eher beim SPIEGEL gelandet, scheute in seinem Buch über Max Frisch („Max Frisch mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“) an bestimmten Stellen zurück wie ein springendes Fohlen vor einem zu breiten Wassergraben: „Die Erkenntnis, dass nicht alles, was man sagen will, auf der Hand liegt, verhinderte freilich nicht, dass es auch in diesem Buch noch einige Passagen gibt, die sich vielleicht aus der Zeit heraus erklären lassen und aus der persönlichen Situation des Autors, die dennoch schwer genießbar sind“. Abgesehen davon, dass ich einer Literatur ohne merkbaren Bezug zur Zeit und zur Situation des Autors zutiefst misstrauen würde, ist es natürlich ein rein subjektiver Blick, dem Hage denn Anschein allgemeiner Gültigkeit zu geben versucht. Frisch-Sätze wie „Alles Leben wächst aus der Gefährdung“, es gibt weitere ähnlichen Sinnes im Buch, ist kein Satz für Genießer, sondern einer für Nachdenker. Deshalb ist er selbst dort noch, wo man ihm möglicherweise nicht zustimmen möchte, anregend: zu eigenem Denken anregend. Vor allem aber zeigt Max Frisch schweizerisches militärisches Innenleben. Das finde ich, es tut mir nicht leid, durchaus interessant.
Da ist eine mir sehr bekannte infantile Mentalität in Uniform: „Und wo einer schläft, legen sie ihm eine grüne Kastanie neben die Wange“. „Von den Rängen, wie bei einer Schüleraufführung, fliegen papierne Flugzeuge in den Saal, landen in der Loge“. Das bezieht sich auf einen bunte Abend zur Truppenbetreuung. „Mit der Grausamkeit einer Schulklasse, unbarmherzig, gehen sie daran.“ Daran, einen jungen Leutnant zu düpieren. Bemerkenswert finde ich diese vermeintlich harmlosen Details, weil sie eins vorführen: Unterschiede zwischen einer „kapitalistischen“ Armee eines neutralen Landes und einer „sozialistischen“ Armee im Angesicht des Klassenfeindes sind eben in den Details fast nicht vorhanden. Das sagt mir mehr über die NVA als über die Armee der Schweiz, so genannten Ungedienten aber sagt es vermutlich nichts, sie stehen einer ganzen Text-Dimension bei Frisch somit hilf- und ahnungslos gegenüber. Wenn solche über die „Blätter aus dem Brotsack“ schreiben, ist es wie mit den von fröhlich-originellen Chefredakteuren nach Roskilde oder Wacken entsandten Freunden böhmischer Blasmusik im Death-Metal-Inferno. Im Theater nennt man es Fehlbesetzung. Vor Max Frischs „Blättern“ war solche Fehlbesetzung eher Regel als Ausnahme.
Für ehemalige NVA-Soldaten las sich so etwas ganz anders als in Westberlin, wohin man floh, wenn man der Bundeswehr entkommen wollte: „Zwei Leute haben den Eid nicht geleistet. Der Hauptmann ruft sie vor, fragt unter vier Augen. Die Sache ist in Ordnung.“ Ist das jene angeblich treuherzige Beschönigung wahren Geschehens im Tessin 1939? Ich fand nicht einmal das Wort treuherzig aus dem Munde von Frisch in dem Gespräch mit Horst Bienek, in dem es angeblich gefallen sein soll. Selbst solche lapidaren Fehlgriffe fehlen nicht: Volker Hage hat zwar alle Diensttage Frischs brav addiert, aus den tatsächlich sechs Fortsetzungen des Buches, die unter dem Titel „Blätter aus dem Brotsack. Neue Folge“ nur in der „Neuen Zürcher Zeitung“ abgedruckt wurden zwischen dem 23. Dezember 1940 und dem 1. Januar 1941, aber fünf gemacht. Und alle, alle, die über die „Blätter aus dem Brotsack“ schrieben, so viele waren es übrigens gar nicht, sahen diskret hinweg über Frischs Aussagen über Dörfer und Menschen des Tessin. Frisch sah dort Armut, Not, Rückständigkeit, hinterwäldlerische Denkart, Naivität und: „Fast alle hier, im ganzen Tal, haben sehr schlechte Zähle und tragen es wie ein Selbstverständlichkeit.“ War das zu deutlich?
Oder für ehrgeizige Gesamtwerks-Spekulanten zu direkt, zu vordergründig? Man kann Formalist sein, indem man Fragen der Form über alles stellt, sie gar zu den einzig stellbaren Fragen erklärt. Man kann aber auch einfach vom Inhalt absehen. Und sich darauf beschränken, vermeintlich seltsame Sehweisen des (noch) jungen Frisch mit gerümpfter Nase zu registrieren und dazu die dann rasch arg langweilende Auskunft stellen, dass er mit diesem Tagebuch endlich eine/seine Form gefunden habe. Übrigens hantiert Max Frisch in den „Blättern aus dem Brotsack“ auch genau dreimal mit dem Wort Fortschritt und der geübte, sprich: von Vorwissen nicht gänzlich freie Leser erkennt, dass hier einer eigenen Sinnes nachgedacht hat, dass einer, der auch Philosophie zu seinen Studienfächern des abgebrochenen ersten Studiums zählte, durchaus philosophischen, wenigstens theoretischen Ehrgeiz nicht verleugnete. Da ist nichts hingeschwatzt wie gerade in Bezug auf den Fortschrittsbegriff in Dutzenden von Schriften (als jemand, der zum Fortschrittsbegriff promovierte, weiß ich das nur zu gut). Frisch bietet Substanz und mit Substanz kann man sich immer gut auch auseinandersetzen. Auch die gern diagnostizierten Vorgriffe auf später gibt es in den „Blättern“.
Im Teil II der „neuen Folge“ wird einer geschildert, dem „das Gehorchen nicht eben leicht fällt“, weil er im zivilen Leben selbst Chef ist. Eine Wahrsagerin hat ihm einst zwei Briefe vorhergesagt, „ihm, einem Sohn der Technik, einem Jünger des Berechenbaren“. Und bald darauf: „Er glaubt nun durchaus ans Unberechenbare.“ Man kann das als frühe Kurzfassung von „Homo Faber“ lesen. Am Ende von Abschnitt III steht: „Dann singen sie wieder ...“. Folgt da nicht bald ein Stück von Frisch nach, Uraufführung am 29. März 1945, Titel „Nun singen sie wieder“? Am Anfang aber steht: „Man wurde erwartet – das ist ein gutes Gefühl, man weiß, wohin man gehört.“ Nicht weit weg davon steht, was gern zitiert wurde und wird: „Es gibt doch keinen Urlaub von der Zeit!“ Man hört als geschulter Leser förmlich Brechts „Du kannst nicht neutral bleiben, Teresa!“, das Frisch später ganz sicher auch zur Kenntnis nahm, als er Brecht in Zürich umherführte und über vieles mit ihm redete. Ebensfalls gern zitiert wird: „... wir werden unser Vaterland lieben und es verteidigen, niemals es anbeten.“ Heute ist so vielen schon das Wort Vaterland so suspekt, und sei es nur, weil es nicht auch Mutterland bedeutet, dass solchen Sätzen konsequent keinerlei Lehrwert mehr beigemessen wird.
Was aber fangen wir Heutigen hiermit an: „Fünf Millionen kostet täglich unsere Armee. Und eine Million kosten täglich unsere Krüppel und Schwachsinnigen!“ Mit Ausrufezeichen, mit dem falschen Vokabular! War Frisch heimlicher Euthanasie-Befürworter, wenn er eine solche Rechnung aufmachte? Frisch war mit 28 jedenfalls einer, der nicht jeden seiner Sätze auf der für korrekten Sprach- und Denkgebrauch noch gar nicht erfundenen Feingoldwaage prüfte. Immerhin: ich habe während und nach meinen 18 Monaten Grundwehrdienst in der DDR nie eine Zahl zu den Kosten des Unternehmens gehört, erst heute weiß ich, dass ganze Wohnungsbauprogramme vom Beton für die Grenzbefestigungen gefressen wurden: Zahlen dazu kenne ich immer noch nicht. Die Sätze, die Freunde, die gern pflichtgemäß und guten Sinnes stolpern, als passenden Anlass für ihr mimetisches Stirnrunzeln nehmen, lauten: „Es hilft nichts; es gibt eine Freude an der Waffe, die auch den lauten Kriegsverächter überkommt.“ Und: „Nach und nach gewöhnt man sich auch an eine Gasmaske.“ Und: „Mit einer geladenen Waffe in der Hand, da denkt sich manches anders.“ Und: „Man muss gehorchen können. Wo es verlangt ist – aber auch befehlen können, wo es verlangt ist.“
Es ist eine billige Übung, sich von solchen Sätzen tapfer zu distanzieren. Noch schlimmer wäre aus dieser Sicht, was Frisch über eine Gefechtsübung im Gelände mit scharfer Munition schreibt: „Für eine halbe Stunde ist es ein Rausch, der alles mitreißt, zum Äußersten zwingt.“ Die Frage dazu lautet freilich nicht und nie, ob man das denn denken und empfinden darf. Es wird gedacht und empfunden und damit ist es Realität, ist es Wirklichkeit, als solche zu behandeln. Eher wäre, wieder in meinem Sinne des gelernten NVA-Soldaten, zu fragen, warum es mir sehr bekannt vorkommt, wenn der Kanonier Frisch (Neue Folge, V) schreibt: „Nur bleibt es das eigentliche Talent des Soldaten, dass er in jeder Veränderung, die ja nie seinem eigenen Wunsch entspricht, doch wieder einen Vorteil sieht.“ Den Spruch „Vier Fünftel seines Lebens wartet der Soldaten vergebens“ kenne ich in der Fassung „Die meiste Zeit seines Lebens wartet der Soldat vergebens“ schon von meinem Vater (Jahrgang 1921) und fand sie in meinen 18 Monaten vollauf bestätigt. Aber selbst eine völlig pazifistische Mutter wie meine (Jahrgang 1928) fand es nicht ehrenrührig, der Armee Lerneffekte in Sachen Ordnung und Selbsthilfe zuzubilligen. Ein Bett machen, einen Knopf annähen, bügeln!
Max Frisch erwartete von der Schweizer Armee unter den Bedingungen einer vermeintlich oder tatsächlich extremen äußeren Bedrohung Effekte für die Entwicklung und Entfaltung männlicher Persönlichkeit und darüber hinaus wohl auch. Und blieb immer skeptisch, sogar zunehmend gegen Ende der nächsten Dienstperiode in jeder Zeit, als Deutschland Frankreich überrannte und in Paris einmarschierte. „Unser Untergangskampf ist vielleicht unsere Wiedergeburt, die einzige Chance unserer Wiedergeburt.“ Und: „Ein Alarm ohne Krieg, wird er hinhalten und ausreichen, dass eine Ahnung, eine, sich verwirklicht?“ Frisch sieht schweizerische Mentalität auch mitten in diesem Tagebuch kritisch. „Menschen eines Kleinstaates, was haben wir denn in der Welt zu erobern, wenn nicht die Weite des Herzens, die Reinheit und den Adel der Gesinnung?“ Was jedoch erobert werden müsste, fehlt im Lande, sonst müsste es nicht erobert werden. „Wie gerne aber verwechselt sich der Spatz mit dem Löwen, wenn sie zufällig gerade aus der gleichen Pfütze trinken.“ Blinde Leser sollten irgendwelche Blindheiten dem bestens sehenden Max Frisch gerade nicht vorwerfen. Der auch nicht verschweigt, wie lange es dauerte, ehe er und alle anderen warm duschen konnten.
Mit meinen Aussagen zum Duschen in meinem Rostocker Regiment (vergl. „Kulturschock NVA“) bin ich noch 45 Jahre später und ohne existierende DDR bei einigen Alt-Kadern auf wilde Proteste gestoßen, Soldaten dagegen bestätigten meine Erfahrung in etlichen Briefen, Mails und Anrufen. Die Schweiz war 1939/1940 sehr viel weiter, was den Umgang mit Wirklichkeit betraf. Frisch hat auch eine mild kokette Warnung in seine „Blätter aus dem Brotsack“ eingebaut. „... alle Briefe und Aufzeichnungen, die geschrieben werden, bleiben Entstellung. Wir halten uns darin stets an die Ereignisse, mitunter noch an die kleinsten. Weil wir das andere nicht erfassen können. Das Eigentliche aber, das Mühsame ist das Ereignislose.“ Das würde ich nicht unterschreiben wollen, kann es aber sehr gut so stehen lassen. Frisch nennt, fast mehr preußisch als eidgenössisch, die Pflicht als „Voraussetzung aller Rechte und Freiheiten“. Das hören deutsche 68er und ihre Nachgeburten natürlich höchst ungern. Und sehen auch deshalb darüber hinweg, wenn sie es lesen. Volker Weidermann meint gar, man lese das 1974 erschienene „Dienstbüchlein“ von Frisch mit, wenn man „Blätter aus dem Brotsack“ lese, eine absurde Behauptung, mit der er sein eigenes Mitlesen verallgemeinert, was unzulässig ist, dieses „man“ ist eine pure und unschöne Fiktion.
Das Verfahren, spätere vermeintliche oder tatsächliche Selbstkorrekturen zu kanonisieren, hätte im prominentesten aller Fälle, bei Goethe, zum Eliminieren des fast kompletten Werks bis zum Ende des „Sturm und Drang“ geführt und wäre literarhistorischer Schwachsinn sondergleichen geworden. Noch die verworfenen frühen Bücher von Max Frisch sind nach seinem Tode, selbst vom Feuilleton gefeiert, doch wieder gedruckt worden, man nehme als Beispiel die „Antwort aus der Stille“. Und die dazu gedruckten Kritiken. Die „Blätter aus dem Brotsack“ haben an manchen, wenn gleich nicht sehr vielen, Stellen sogar ausgesprochen aktuelle Rezeptionsangebote. „Bruderschaft im Nein, nichts ist leichter als dies, nichts ist trostloser und unfruchtbarer, nichts ist häufiger. Volksredner, sie kennen die Zaubermacht dieses Nein, wennschon es mitunter ein verschleiertes, ein vernebeltes, ein ganz unausgesprochenes Nein ist. … die Verbrüderung als solche, auch die scheinbare, kann dermaßen berauschen, dass sich die Leute nicht mehr um den Gegenstand überhaupt kümmern, geschweige denn um die Gesinnung“. War Max Frisch Sonderbeobachter bei Querdenker- und ähnlichen Demonstrationen? Natürlich nicht, er wusste nur, wie dergleichen sich zeitlos darstellt.
„Schroffer, rücksichtsloser, mutiger fallen die menschlichen Entscheidungen unter dem Segen einer großen bewussten Gefährdung, die alles überragt, stündlich.“ So enden die „Blätter aus dem Brotsack“, denen etwa ein Jahr später, nur in der Zeitung, in der Max Frischs Name 1931 zum allerersten Male gedruckt erschien, sechs Fortsetzungen, als die schon genannte „Neue Folge“ nachgereicht wurden. Dort steht der seltsame Satz: „Wenn die Welt ja nichts anderes wäre als schön, man könnte sich mit dreißig Jahren in den Sarg legen, ohne Trauergebärde, und den Deckel zumachen.“ In der sechsten und letzten Fortsetzung heißt es resümierend: „Der Blitz, die Vernichtung blieb uns erspart. Sieg und Niederlage blieb uns erspart. Alles blieb uns erspart, Bewährung jeder Art.“ Was wie Bedauern klingt, ist es wahrscheinlich sogar teilweise. Doch kann im wirklichen Leben eben weniger eigene Erfahrung auch mehr sein. Einer wie frisch weiß das, selbst wenn er es nicht ausdrücklich hinschreibt. Diejenigen, denen die „Blätter aus dem Brotsack“ immer noch lesenswert schienen wie Carol Petersen oder Hans Bänziger, sie schrieben das vor mittlerweile auch schon 50 und mehr Jahren, haben ausdrücklichen Beifall verdient für ihr Urteil.