Tagebuch
3. März 2018
Dass ich auf meine alten Tage in einem unsortierten Haufen von Gartengerätschaften wühlen werde und das an einem Sonnabend ohne Frühstück im Magen, hätte mir auch kein Fagottist an der Wiege geblasen. Nun bin ich stolzer Besitzer eines Fugenkratzers und eines Unkrautstechers, freilich noch immer keines Gartens. Kratzen und stechen werde ich in speziell in Normaltagesläufe eingefügten Zeiten auf unserem Mietparkplatz, wo einige besonders dreiste blattgrüne Kulturfolger ein munteres Dasein führen, vorwitzig aus den Fugen sprießen und bei Wind als Fangnetze für unerwünschte Luftfracht aller Art dienen. Gudrun Pausewang, wenn mein weltweites Netz nicht schwindelt, erlebt heute ihren 90. Geburtstag. Ihr verdanke ich ein Leseerlebnis, das ich nicht missen möchte, das Buch heißt „Guadalupe“, ich las es unmittelbar nach „Der Weg nach Tongay“ im August 1976. Ob der Eindruck heute noch so groß wäre wie vor mehr als vierzig Jahren, weiß ich natürlich nicht.
2. März 2018
Inzwischen habe ich mich für alle Glückwünsche bedankt, per Mail, per Anruf, per WhatsApp auf Umwegen und kann nun so leise weinend wieder dem Alltag ins Auge schauen. Das Auge des Alltags ist nicht das des Tigers. Heute vor siebzig Jahren starb ein Schriftsteller, der zu den ganz wenigen gehörte, die ich im Buchbestand meiner Eltern und meiner Schwiegereltern vorfand, bei letzteren spielte das Thema Landwirtschaft eine deutlich größere Rolle als bei ersteren, die als Lehrer mit der Scholle eher weniger zu tun hatten. Adam Scharrer wurde in der frühen DDR noch mit Erwin Strittmatter verkoppelt zum Band 3 der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“. Den Band füllte ab 1977 Strittmatter allein, seither ist Scharrer zwar nicht ganz vergessen worden, gedacht wird seiner jedoch höchst selten. 1979 erschien der achte und letzte Band einer Werkausgabe, der erste hieß, der Titel ist sprichwörtlich geworden, „Vaterlandslose Gesellen“, mir vertraut ganz früh.
1. März 2018
Man kann von einem überreichen Abendessen noch am Tag danach so satt sein, dass eigentlich nichts mehr reingeht. Ich habe für den heutigen Tag einen alten Text zu Franz Hohler aus den tieferen Vorratskisten gekramt, so ist der 75 Jahre alte Schweizer wenigstens nicht ganz aus meiner Aufmerksamkeit gefallen. Zu Hause ist die Heizung aufgedreht, Geschenke liegen im Wohnzimmer, Kindern erklärt man dies mit dem Wirken von Heinzelmännchen. Ein Dutzend Glückwunsch-Mails enthalten Gutschein-Codes für dies und das, was ich brauchen kann oder nicht. Nicht alle Vereine, deren Mitglied ich seit Jahren bin, haben an mich gedacht, andere dafür mehrfach und in all ihren Gliederungen. Der Journalistenverband gehört nicht zu den Säumigen, weshalb ich auch in diesem Jahr noch einmal wie in jedem Jahr den Bericht der Mandatsprüfungskommission vortragen werde, wenn ich gebeten werde, es zu tun. Danach verordne ich mir Rentnerruhe, wohlverdient, sagt man.
28. Februar 2018
Wie ist es jetzt mit 65? Im Prinzip wie vorgestern mit 64. An keinem meiner nun halbwegs zahlreichen Geburtstage saß ich vorher in drei verschiedenen Saunen, nicht einmal in einer. Nie vorher versendeten wir als Dank für wirklich freundliche Wünsche aus verschiedenen deutschen Gegenden frisch erstellte Foto-Collagen. Ich las endlich Frank Wedekinds „Marianne und andere Erzählungen“ zu Ende. Von der Domina ist noch etwas für heute geblieben, ein wahrhaft edles Tröpfchen. Die Biere blieben im Kofferraum, dort sind die Temperaturen erträglich. Gäbe es morgen einen 29. Februar, würde ich an Martin Suter denken. An Herbert Ihering denke ich ohnehin, weil ich ihn auf dem Arbeitstisch gestapelt habe zu Hause, ein Band liegt sogar hier auf dem Hotelzimmer-Schreibtisch. Es sind Nachkriegsartikel von ihm, auch Reden, sehr auf den Tag bezogen und trotzdem durchweg interessant. Nun also noch sieben Bonusmonate bis zur Rente.
27. Februar 2018
Weil im Hotel heute vier Stunden kein Strom ist, könnten wir an der Wasser-Gymnastik teilnehmen oder das Frühstück bis in den Brunch hinein verlängern. Es ist uns nicht gegeben, vier Stunden am Stück zu essen, weshalb wir gen Aschach fahren, wo es ein Schloss mit drei Museen gibt. Die haben aber erst am Nachmittag offen ab 1. April. Weshalb wir weiter nach Münnerstadt rollen, die dortige historische Altstadt passierten wir so oft, ohne abzubiegen, dass nun die Gelegenheit günstig ist. Wir sehen einen Riemenschneider-Altar in St. Maria Magdalena und fränkisches Rokoko in der Kloster-Kirche. Das Henneberg-Museum hat kurzfristig ganz und gar zu, nicht aber der ABO-Getränkemarkt. Ein frierender Mann freut sich, dass ich ihm zwölf verschiedene Biere abkaufe und noch ein zartes Trinkgeld zulege. Er wird Zeuge einer Gratulation am Handy. Am Morgen klopfte es so leise an unserer Zimmertür, dass ich beinahe um meinen Geburtstagssekt gekommen wäre.
26. Februar 2018
Sitzt ein Mann im Dampfbad, schnobert wie eine rossige Stute und beginnt plötzlich, sich mit dem Schlauch, den konventionelle Dampfbadbesucher nutzen, um die Sitzflächen zu spülen, selbst von oben bis unten zu kühlen. Das hat interessante Effekte: die Temperatur im Raum sinkt deutlich ab, die Sitzfläche wird so kalt, dass man sich nicht mehr hinsetzen mag. Kommt ein Mann in Badehose ins Dampfbad. Ich sage, hier sitze man nicht mit Badehose. Was soll ich nun machen, fragt der Mann. Ausziehen, sage ich, das hat sich bewährt. Irgendwann zieht er sie tatsächlich aus und legt sie sich aufs Knie. Ich verabschiede mich mit all meiner angeborenen Menschenfreundlichkeit. Sagt er, er kenne sich aus, wollte aber eigentlich in die trockene Sauna. Wir erwerben für den heutigen Vorabend einen 2015er Randersackerer Ewig Leben und für den morgigen Hauptabend eine 2015er Escherndorfer Domina. Hoch Hartmut macht es so kalt, dass wir auf frische Saale-Luft verzichten.
25. Februar 2018
Auf die Minute pünktliche Züge heute, die halbe Strecke las ich den TAGESSPIEGEL, hörte einen Mann mindestens dreimal in Folge fast wortgleich von einem Vortrag berichten, den offenbar eine Frau störte, die empörenderweise gar nicht ordentlich zugehört hatte. Der Mann wollte außerdem bis Augsburg noch zwei Artikel zu Ende schreiben und etwas mit dem Herder-Verlag abstimmen. Hätte er das alles nicht bis Halle fast pausenlos jemandem angekündigt, wäre er wohl längst fertig gewesen, ehe wir in Erfurt sein Geräuschfeld verließen. Der Briefkasten zu Hause quoll nicht über, den Briefkasten im Netz ignoriere ich noch bis zum späteren Abend. Meine Zeitungen warteten brav an der Tankstelle. Nun heißt es nur noch zweimal schlafen, dann ist das Rentenalter erreicht, die Rente lässt noch sieben Bonus-Monate auf sich warten. Zwei Geburtstagskarten stehen schon vor der Durchreiche, die nächsten sehe ich erst am Donnerstag, wenn ich wieder zu Hause bin.
24. Februar 2018
Nach nur drei Stunden Schlaf und einer anstrengenden Nachtschicht an der neuen Software die Kurztour gen Berlin, Check-In in der Wielandstraße, Eilmarsch in die Schillerstraße, Dienstbier in die Goethestraße und dann der Ausflug zum Teufelsberg. Der ist ein Trümmerberg wie der andere im Friedrichshain, den ich aus den berühmten alten Zeiten kenne. Bis zum einstigen Spionage-Areal der Amerikaner sind wir mit Buggy nicht mehr vorgedrungen. Das wird ein separater Ausflug. Der gestörte S-Bahn-Verkehr – Polizei- und Notarzteinsatz – zwang uns rückwärts zum Bus ab S-Bahn Heerstraße. Vom Teufelsberg aus sieht man den Funkturm und den Fernsehturm je nach Standort fast in einer Fluchtlinie und hat auch sonst ein eindrucksvolles Stadtpanorama. Der eisige Wind trieb uns freilich bald vom kahlen Plateau. Vor der Abreise gen Hauptstadt im allerletzten Moment den korrigierten Buchblock zur Druckerei geschickt, die „Nathan“-Kritik muss bis morgen warten.
23. Februar 2018
Der nächste etwas rundlichere Geburtstag von Erich Kästner lässt noch ein volles Jahr auf sich warten, deshalb heute nur ein winzig kleines Zitat aus dem Jahr 1945, Juni: „Das Gewissen ist um 180 Grad drehbar. Doch man muss ihm etwas Zeit lassen.“ Es grassierte, wie er auch schrieb, in jenen Tagen die Unschuld. Der 23. Februar ist auch mit einer Dame verbunden, der ein sehr treuer Fan sintemalen das Kompliment machte, sie sei die schönste Moderatorin von Dresden Fernsehen. Die schönste ist sie immer noch, nur halt nicht mehr Moderatorin. Es geht das Gerücht, sie reise, wenn sie mit dem ihr seit vielen Jahren angetrauten Gatten in Länder reise, deren Weinproduktion zu wünschen übrig lässt, mit eigenen Weinschläuchen an, die auf dem Rücktrip dann leer sind. In Russland begehen sie heute einen von Lenin 1918 eingeführten Feiertag, damals wurden die ersten Rekruten zur Roten Armee eingezogen. Da muss man Russe sein, um so etwas feiern zu können?!
22. Februar 2018
Das Wort Arbeiterschriftsteller hatte, aus DDR-offiziellem Munde gesprochen oder aufgeschrieben, eine abschreckende Wirkung. Wohl kannte ich aus den Bücherregalen meiner Eltern Karl Grünberg und Hans Marchwitza, vor allem natürlich Willi Bredel, aber die Produktion der frühen 50er Jahre fand sich bald selbst in den Literatur-Lehrbüchern des Landes als schematisch, als konfliktscheu gekennzeichnet. Ich ignorierte sie. Dass ich dem „Arbeiterschriftsteller“ Theo Harych mit meiner Ignoranz unrecht tat, ist mir erst jetzt wirklich aufgegangen. „In der Nacht zum 22. Februar 1958 nahm er sich das Leben, erhängte sich in seiner Wohnung.“ Lese ich bei Jürgen Serke in dessen wichtigem Buch „Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR“. Harych hätte ich, ahnungslos wie ich war, in einem solchen Zusammenhang nicht vermutet. Noch 1988 schwieg sich eine namhafte DDR-Tageszeitung zu seinem Tod und seinen Konflikten im Land schlicht aus.
21. Februar 2018
Aus dem Nachmittag ist Nacht geworden, bis die Druckerei endlich die Lieferbarkeit des Titels bestätigte: nun also erwarte ich die Lieferung selbst. Das Warten hatte einen positiven Nebeneffekt, ich entmistete meine Outlook-Ordner, führte uralte Korrekturen aus an längst im Netz stehenden Texten. Und nun schreite ich leicht beschwingt dem Monatsende entgegen, das in diesem Jahr leider keinen 29. Februar vorrätig hält, an dem ich einen Blick zu Herbert Ihering hätte werfen können, von dem ich gerade drei Bücher gleichzeitig lese. Mal sehen. Heute gibt es die Hamburger ZEIT genau 72 Jahre, die ich zuerst noch als Kulturbündler in der „Alten Försterei“ im Gratis-Abo lesen durfte. Später ging ich dazu über, sie mir Donnerstag für Donnerstag selbst zu holen. Die Briefe des Chefredakteurs befreie ich jeweils aus dem Umschlag, ehe ich sie in den Papiermüll werfe, ich finde die Fragen meist unbeantwortbar, die ich beantworten soll und brauche auch keine Präsente.
20. Februar 2018
Meine Abwesenheit am Jubiliergeburtstag erfordert Absprachen mit allen, die einen unabweislichen Drang haben, mir dennoch zu gratulieren. Es gibt liebe Menschen, die mir sogar aus Thailand Fotos von dortigen Bieren senden, damit ich wählen kann, welche ich noch nicht kenne. Der Verlag, den die mir angetraute Gattin vor reichlich anderthalb Jahren in ihr ungeteiltes Eigentum brachte, steht unmittelbar vor der Edition des ersten eigenen Titels in ihrer Regie, mir wurde signalisiert, ich könne am heutigen Nachmittag das erste Probeexemplar bestellen. Wenn das den Beifall des Hauses findet, kann in der Woche, in der sich der Februar verabschiedet, der Weltmarkt sich voll Schwung darauf stürzen. Vermutlich muss er erst Anlauf nehmen, wie ich den Weltmarkt kenne. Den Autor des Buches kenne ich recht gut, auch wenn ich manchmal nicht in seiner Haut stecken möchte. Es ist, weiß ich, eine ziemlich ehrliche Haut mit akuter Neigung zur Selbstausbeutung, also wie ich.