Tagebuch

26. Januar 2018

Wie auch immer: dies war definitiv der letzte Neujahrsempfang unseres Oberbürgermeisters als Oberbürgermeister. Zur Wahl darf er sich nicht noch einmal stellen, Wahlen aber sind in diesem Jahr, ergo. Noch wissen wir nicht, wann gewählt wird, denn zum 1. Juli wird aus Ilmenau Groß-Ilmenau und da sollen alle Neubürger mit wählen dürfen. Wir werden dann ein Stadtparlament haben, in dem aus Ilmenau selbst kaum noch jemand sitzen wird, und der neue große Stadtrat passt auch nicht mehr ins Rathaus. Ergo. Mir wird dieser kommunale Abend im Gedächtnis bleiben, weil eine Mitbürgerin afrikanischen Studier-Hintergrunds mir Teile ihres geplanten Abendmahles von hinten auf die Hose warf, was mein rechtes Hosenbein in seiner fürderhinnigen Tragbarkeit heftig beeinträchtigte. Mein achtes Buch wird in seiner zweiten Auflage einen neuen Titel bekommen, verriet mir der Verleger, mein neuntes wird dafür titelstabil bleiben, versichert meine Verlegerin.

25. Januar 2018

Ein Blatt mit dem Namen ZEIT sollte vielleicht auch nachvollziehbare Begriffe von Zeit haben. Wenn im heutigen DOSSIER behauptet wird, Dieter Wedel sei lange Intendant der Bad Hersfelder Festspiele gewesen, dann ist das entweder falsch oder aber das Autorenteam hat nur eine seltsame Vorstellung davon, was lange ist. Lange war Frank Castorf Intendant. Er war es so lange, dass ganze Fanblöcke seiner Dekonstruktionsspiele sich gar nicht vorstellen konnten, dass er einmal nicht mehr für Volksbühnen-Events sorgen könnte. Dieter Wedel folgte Holk Freytag erst 2015, debütierte in der Stiftsruine als Regisseur mit Shakespeares „Komödie der Irrungen“, ließ den frisch geschassten Freytag, der inzwischen rehabilitiert ist, Kleists „Der zerbrochne Krug“ inszenieren. Lange ist das nicht her, ich sehe Helen Schneider noch wie eben aus der Damen-Toilette kommen. Dachte ich nicht reflexartig an „Rock’n’Roll Gypsy“ und das Album „Schneider with the Kick“? Lange her das.

24. Januar 2018

Kaum schreibe ich Mulackstraße hin, schon geht der Blick zurück. Vor vierzig Jahren absolvierte ich im Januar die vorlesungsfreie Zeit zum Ende des fünften Semesters, ich las „Geschichte und Gesetze des Ästhetischen“, „Kriterien und Kritik“, „Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen“, „Regeln zur Leitung des Geistes“, „Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie“ und, wie eingeklemmt zwischen die beiden Descartes-Bücher, am 24. Januar „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon. Ich las auch „Die wunderbaren Jahre“ von Rainer Kunze, frisch aus West-Berlin gekommen, mich heftig enttäuschend. Ich war ein werdender Vater in diesem Januar, das für Mai angekündigte Kind feiert in diesem Jahr deshalb 40. Geburtstag. Als Student Vater zu werden, war keine große Sache, den ersten Vater in der Seminargruppe hatten wir seit dem 8. März 1976. Wir beiden Früh-Väter sind bis heute befreundet. Bisweilen telefonieren wir über große oder andere Koalitionen.

23. Januar 2018

In jenem irrwitzigen Oktober 1971 las ich, als ob ich nie im Leben wieder lesen dürfte. Unter den 42 Titeln, die im Register landeten, waren etliche dünne Bücher, darunter auch Friedrich de la Motte Fouqués „Das Galgenmännlein“, es war die von Horst Bartsch illustrierte Aufbau-Ausgabe aus dem Jahr 1960, die 1964 noch einmal aufgelegt wurde. Ich holte mir das Büchlein aus der Bibliothek, deren eifriger Nutzer ich war trotz eines mehr als soliden eigenen Buchbestandes. 13 der 42 Titel stammten aus der Bibliothek. Den Fouqué las ich nach Storms „Immensee“ und vor Fedins „Begegnungen zwischen Saratow und Leningrad“. Reichlich viereinhalb Jahre später bezog ich meine Wohnküche in der Berliner Mulackstraße 25 und wohnte volle vier Jahre ganz nahe am Garnisonfriedhof, ohne ihn je zu besuchen. Ich tröste mich mit Heinz Knobloch: dieser Friedhof sei  einer gewesen, „der gar nicht zu erkennen war.“ Dort liegt Fouqué, der heute vor 175 Jahren starb.

22. Januar 2018

Der breite Buchrücken, blau mit weißen Querlinien, sitzt in meinem Gedächtnis wie auf immer mit Sekundenkleber befestigt. „Lord Byron stirbt für Griechenland“, 1938 im Berliner Schützen-Verlag erschienen, Autor Claus Schrempf, von dem ich noch immer nicht mehr weiß als vor knapp zweieinhalb Jahren, als ich ihn erstmals im Zusammenhang mit den „Helden“ von George Bernard Shaw erwähnte. Das Buch stand in einem der beiden verglasten Bücherregale meiner Eltern, der Mann, der sie fertigte, ist Vater einer Mitschülerin und jetzt dabei, seinem hundertsten Geburtstag näher und näher zu rücken. Lord Byron, George Gordon, hat heute seinen 230. Geburtstag und wir wissen längst, dass sein Heldentod gar nicht so heldisch war. Ich las eben seinen kruden, aus zwei „literarischen Eklogen“ bestehenden Bühnentext „Die Blaustrümpfe“ und bin sicher, dass ich dazu nichts schreiben möchte. Auch nichts über kollektive Schneeschipp-Sonntage auf Mietparkplätzen.

21. Januar 2018

Dass er am 21. Januar starb, scheint sicher. Nur an welchem? WIKIPEDIA entscheidet sich für 1968, dann wäre dies sein 50. Todestag. Die dort zitierte Neue Deutsche Biographie (NDB) nennt 1969, Fritz Martini und Peter de Mendelssohn haben als Herausgeber verstreuter Schriften unter dem Titel „Geist und Politik in Europa“ 1965 zum Todesjahr gekürt, so hält es auch das Munzinger Archiv. Also werde ich heute vielleicht „Frühlingsmorgen bei Rousseau“ lesen oder Golo Manns Gedenkblatt für ihn: Ferdinand Lion. Mehr geht ohnehin nicht wegen Egon Friedell, für den der 21. Januar sein Geburtstag war. 140 Jahre sind kein Spezialjubiläum für die biographische Industrie und das vorauseilende Großfeuilleton, welches mit Karl Marx und dem Prager Fenstersturz in diesem schönen Jahr ohnehin hart an seine Grenzen geführt wird. Im engen Familienkreis hätten wir auch einen Geburtstag, es wäre ein 93. Seit gestern verfügen wir über einen zweiten Landratskandidaten.

20. Januar 2018

Joachim Schreck hat mir gestern einen solchen eingejagt. Da nämlich entnahm ich dem weltweiten Netz, dass der inzwischen uralte Mann, den einst seine Anthologie „Saison für Lyrik“ in den Status DDR-spezifischer Ungnade versetzte, inzwischen Joachim Bechtle-Bechtinger heißt. Seine längst verstorbene liebe Irmtraud ließ unter ihrem Familiennamen Morgner deutschlandweiten Ruhm auf sich klecksen, als Frau Schreck schrieb sie in jungen Jahren bisweilen schreckliche Buch-Kritiken. Soweit die Abteilung Kalauer für heute. Durchaus nicht schrecklich finde ich die Idee von Oskar und Sahra, eine Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in den Farben der Bundesrepublik ins Leben zu rufen. Mir fehlt mein Wohngebietsparteisekretär schon lange, der darüber wacht, ob ich an den gesetzlichen Feiertagen meine rote Fahne vom Balkon flattern lasse oder wenigstens die mit den drei farbigen Querstreifen, muss ja nicht immer ein Emblem in der Mitte sein, geht auch ohne.

19. Januar 2018

Sturmtief Friederike trägt seinen Namen wohl kaum nach einer besonders selbstbewussten jungen Theater-Pressesprecherin, sonst hätte es nicht nur unsere Trittleiter auf dem Balkon umgeworfen. Das Magazin „Kontraste“ ließ sich zur Feier seines 50-jährigen Daseins ein besonders blödsinniges Wort einfallen: Klima-Leugner. Als alter Pressemensch verstehe ich, dass vor allem Print-Medien auch für einspaltige Überschriften knackige Vokabeln benötigen, aber ein Klima-Leugner ist nicht der, der Klima-Wandel leugnet oder gar nur den Menschen als seinen Verursacher. Auch alle, die Gen-Mais ablehnen, laufen Gefahr, in Dummköpfe die Forderung nach genfreiem Mais zu pflanzen, die ich in durchaus seriösen Medien schon hören oder lesen durfte, wenngleich ein paar Sturmtiefs früher. Günter Kunert schrieb einst prägnant: „Was unsere Ratio nicht beim ersten Zugriff erfasst, wird automatisch entwertet, denn wir erteilen den Dingen die Schuld, dass wir sie nicht verstehen.“

18. Januar 2018

Mein seit 1964 geführtes Lese-Register nimmt nur Bücher auf, die ich vollständig zu Ende las. So gelangte gestern als Nummer 1 des Jahres 2018 „Das neue Organon“ hinein, ich besitze die zweite Auflage aus dem Jahr 1982 und kam darin seinerzeit bis zur Seite 274. Dort steckte nun runde 35 Jahre lang ein kleines Lesezeichen. An den Markierungen sehe ich, dass ich diesen Bacon schon mit Blick auf die anstehende Dissertation las, auf etlichen Seiten finde ich am Rand ein F, das mir zu signalisieren hatte, hier stehe etwas zum Thema Fortschritt. Man wird alt, las ich vorhin erst bei Kurt Tucholsky, der drei Bände „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ besprach. Dessen Autor Gustav Meyrink hat morgen seinen 150. Geburtstag. Wer meine beiden bisherigen Texte zu ihm lesen möchte, kann die Suchfunktion auf meiner Seite nutzen. Um beim Einkaufen ein Arschloch zu treffen, braucht man keine Suchfunktion, es reicht der dumme Zufall. Ich traf eins im „Kaufland“.

17. Januar 2018

Warum kämpfen Gender-AktivistInnen eigentlich nur dafür, dass auch Jungen ein rosa Pony lieben dürfen und nicht darum, dass Mädchen endlich anfangen, ölige Schraubenschlüssel zu sammeln und bei Tisch zu furzen? Warum hat noch niemand so richtig verstanden, dass sozialdemokratisches Genuschel über Minderheitsregierungen vielleicht das modernste ist, was sich derzeit denken lässt? Ein vermeintlich demokratisches Staatswesen, das immer stärker Züge diversifizierter Minderheits-Diktaturen annimmt, sollte eine Lappalie wie eine Minderheitsregierung doch aushalten können. Wenn für Menschen mit hinter den Ohren endenden Harnröhren eigene Kopfstandstoiletten gebaut werden müssen an jeder Autobahnraststätte, falls ein solcher Mensch genau dort dringend muss, dann wissen wir, dass es gerecht wäre, würden uns dritte und vierte Welt ausrotten, denn wir haben im Gegensatz zu ihnen keine Probleme mehr. Ansonsten kommt der Regen immer noch von oben.

16. Januar 2018

Der Fotograf Matt Cardy von Getty Images hat auf dem Gladstonbury Festival zwei junge Frauen in einer Menschenmenge belichtet, die ein handgemaltes Plakat hochhalten, auf dem steht weiß auf rotem Herzen: „Ohhh Jeremy Corbyn“. Die Redaktion hob den Mann auf ihren Gesamttitel mit der urdeutschen Schlagzeile „He will rock you“, Unterzeile „Labour-Chef Corbyn zeigt der Linken, wie’s geht“. Wie denn? Wenn wir das Wunschdenken der Redaktion einmal verständnisvoll außer Betracht lassen, sehen wir: die beiden jungen Frauen halten eine Bierdose in der Hand. Auf beiden Bierdosen ist die Marke sehr gut zu erkennen, es sind klassische Marktführermarken. Früher nannte man dergleichen Produkt-Platzierung (für junge Klassenkämpfer: product placement). Wir lernen: Marketing kennt weder links noch rechts. Redaktionelle Selbstkontrolle war früher. Wer sich an den letzten Labour-Mann in Downing Street 10 erinnert, hält seine Bierbüchse vielleicht weniger hoch.

15. Januar 2018

Zu den besonderen Erlebnissen des Jahres 1998 gehört meine erste Januar-Reise, der später etliche noch folgten. Ich mietete ein Häuschen im Ferienpark Grafschaft Bentheim, war dort, wie sich rasch herausstellte, der einzige Gast, die Rezeption nur für mich geöffnet. Ich war auch der einzige Nutzer des täglichen Brötchendienstes. Am 15. Januar 1998 unternahm ich einen Ausflug über die nur vier Kilometer entfernte Grenze nach Almelo in Holland. Bei einem sehr freundlichen und gesprächigen Mann in der Oranjestraat ergatterte ich 23 holländische und drei belgische Biersorten für meine Sammlung, wir plauderten lange über mein damals noch halbwegs junges Hobby. Der Mann rühmte sich der mehr als 400 Sorten in seinen Regalen. Und staunte, dass ich die meisten belgischen schon kannte. 20 Jahre später weiß ich nicht exakt, wie groß mein Bestand ist, ich muss nacharbeiten. Exakt kann ich sagen, dass Jewgeni Schwarz („Der Drache“) vor 60 Jahren starb.


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