Tagebuch

18. Februar 2018

Wie nennt man solch einen Tag, der dummerweise auch noch ein Familien-Sonntag ist? Desaster, Katastrophe, Tiefschlag? Einfache Dinge, die wahrscheinlich mittlerweile Milliarden Leute an einem Bildschirm beherrschen, leisten mir Widerstand. Hilfsprogramme helfen nicht, Anleitungen sind unverständlich, weil mir selbst in der deutschen Fassung jedes zweite Wort vollkommen fremd bleibt. Ich weiß nicht, sind meine hochgeladenden Dateien wirklich dort, wo sie hin sollen, wo sind sie, wenn sie nicht dort ankamen, außer bei mir auf der Festplatte? Mein Geburtstagsgeschenk ist akut gefährdet, dazu kommt eine andere Termindrückerei, die mir ohne Not, wenngleich juristisch natürlich sauber zuungunsten des Bürgers, der ich auch bin, den Spaß am Leben nimmt. Manche salbadern über wohltuende Wirkungen von Stress. Das sage einer den Blutzuckerwerten. Und morgen in aller Frühe nüchtern zum Arzt, reine Routine alles, reine Routine. Ich fahre mit dem Bus.

17. Februar 2018

Dienst am Kind, das kommt bisweilen auch außer der Reihe vor. Das Kind ist zehn Jahre alt und weckt Erinnerungen. Auf geradem Weg ins Rentenalter steigen Bilder auf: 1963 gab es für mich keine Playmobil-Figuren, wohl aber Indianer und Cowboys, ein Fort mit Türmen, die Indianer beritten und zu Fuß mit Gewehren und Speeren. Heute ein SEK- Hubschrauber, die kleinen Polizisten mit Schuss-Westen, mit Helmen, vier können einsteigen. Am Großen Teich Blesshühner in Scharen am Ufer, Eis wie aufgefaltet. Enten haben keine kalten Füße, sagt man, aber sie rutschen aus, wenn sie landen. Auf meinem Desktop liegt vorerst ein verworfenes Buchcover: Die nötigen Korrekturen sind geringfügiger Natur, das Verlagslogo muss noch verschoben werden. Neben mir ein großformatiges Buch mit vielen Fotos: Dieter Kranz führte ein Gespräch mit Wolfgang Heinz, ein sehr junger Dieter Mann spielte den Tempelherren, Christine Schorn ganz in Weiß die Recha.

16. Februar 2018

Eben lese ich in einem hübschen kleinen Aufsatz über Provinztheater mit Schwerpunkt Thüringen über einen Mann außerhalb Thüringens einen überlieferten Ausruf aus der Zeit, da der erste Tonfilm den einen oder anderen Theatermann dann doch heftig verunsicherte: „Ich lasse jeden aufschreiben, der ins Kino geht, damit er nie wieder ein Abonnement an meinem Theater bekommt!“ Das soll sich in Oldenburg zugetragen habe, der Ausrufer hieß Helmut Goetze. Jetzt lese ich in den Schlagzeilen des Portals „Nachtkritik“, dass sich eine Landesbühne an einen Filmklassiker wagt. Mal abgesehen davon, was Nachtkritiker für seltsame Vorstellungen von Filmklassikern haben können: ist das nicht herrlich: Filme auf Theaterbühnen, man muss nicht mehr ins Kino oder in die Mediathek, wenn man einen alten Streifen sehen will, man wartet einfach auf eine mutige Bühne. Wann werden die Talkrunden Wundertiere vorführen, die frech wagen, als Stücke geschriebene Stücke aufzuführen?

15. Februar 2018

Der Todestag Lessings erinnert mich daran, dass ich im vorigen Jahr schwungvoll einen Text zu seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ ins Netz stellte, versehen mit dem Hinweis, es handle sich um den Beginn einer Folge. Dem ersten Teil folgte aber bis heute nichts nach, auch wenn ich noch eine Weile tatsächlich dem Ausgangskonzept anhing. Jetzt bin ich immer noch nicht an dem Punkt der guten Vorsätze, sehe in der kommenden Woche aber wenigstens wieder einmal einen „Lessing auf der Bühne“. Das Buch gleichnamigen Titels von Gerhard Stadelmeier liegt schon mit Lesezeichen auf dem Stapel neben meinem Monitor. Nebenher frage ich mich, ob man sich noch einfach und reinen Herzens wundern darf über einen israelischen Ministerpräsidenten, den nichts anficht oder ob das schon als Antisemitismus gelten muss. Kann ein rassisch verfolgter Jude selbst Rassist sein, indem er von Negern oder gar Niggern schreibt mit Wulstlippen und deren seltsamem Brauchtum?

14. Februar 2018

Ilmenau in den Tagesthemen? Mit Sport? Nichts Rechtsradikales, kein Familiendrama mit sieben Toten? Es lebe der Rodelsport, für den wir sogar ein eigenes Museum haben. Die SPD ist nun die weltweit einzige große alte Partei, die aus den noch lebenden ehemaligen männlichen Vorsitzenden  eine eigene Fußballmannschaft mit elf Spielern stellen könnte. Und auf der Ersatzbank säße, die kommissarischen eingerechnet, ein Einwechsler. Warum bestimmt eigentlich alljährlich allein Dresden das öffentliche Bild des Gedenkens an den angloamerikanischen Bombenterror? Folgen wir der Reichswochenschau und ihrer Propaganda? Wie ist es mit Menschenketten in Würzburg oder wo sonst in den letzten Kriegstagen mutig aus der Luft ganze Städte ausradiert wurden? Mein Zitat des Tages stammt von Arthur Eloesser: „Es gibt nichts Überzeugenderes als eine große Dummheit, die im rechten Augenblick losgeht.“ Ins Gas musste er nicht mehr, weil er 1938 starb. 

13. Februar 2018

Der Rosenmontag liegt hinter, der Aschermittwoch vor mir. Meine beiden dünnen Bändchen von Wilhelm Heinrich Wackenroder stehen wieder im Regal, meine Zeit reicht nicht für sie. Für F.C. Delius, Friedrich Carl, der am 13. Februar 1943 in Rom geboren wurde, fanden sich aber einige Minuten. Und in seinen biografischen Skizzen, Titel „Als die Bücher noch geholfen haben“, die Geschichte von seinen frühen Visiten in Ostberlin: bei Marianne und Günter Kunert: erst in der Defreggerstraße, später in Berlin-Buch. Auch Delius hat seine Stasi-Akte gelesen, man besuchte damals nicht unbeobachtet negative DDR-Bürger, wie sie im Jargon der Schnüffelnasen hießen. Einige der negativen DDR-Bürger haben selbst für die Stasi geschnüffelt und Delius schöpfte nie Verdacht. Er zitiert aus den Erinnerungen Kunerts, „Erwachsenenspiel“, einen Passus über sich selbst. Ich weiß jetzt, dass Marianne eine große rundliche Frau war neben dem dünnen Kunert.

12. Februar 2018

Wer Professor ist, gar im Felde eines Orchideenfaches, sollte mit dem Wort „bekanntlich“ sorgsam umgehen. Was ihm bekannt dünkt, kennen nicht nur in jedem Normalfall sehr wenige, es darf gar begründet angenommen werden, der Ordinarius wolle nur die Exklusivität seines Spezialwissens dokumentieren. Lese ich zum Beispiel Sätze über das Erbfolgerecht des französischen Königtums, standesgemäß im sprachlichen Original zitiert, dann schaue ich augenblicklich im Apparat nach, ob der Zitierende wenigstens in der Fußnote für Leser wie mich, die des Französischen kaum mächtig sind, eine Übersetzung anbietet, idealerweise seine eigene, die so gleich noch seine Lesart kenntlich machen würde. Wenn aber „bekanntlich“ da steht, weiß ich: dieser Professor ist ein arroganter Kerl, dem Selbsterhöhung durch Herabsetzung anderer Handwerkszeug ist. Das alles drängt sich mir auf, während ich eigenem Triebe, nicht der Not folgend, im „Maria-Stuart-Meer“ segle, Land in Sicht.

11. Februar 2018

Ruhe war nicht die Haupteigenschaft des Frühstücks, dafür aber Breite des Angebots. Man sitzt mit Menschen aus Braunschweig, Frankfurt am Main und Ansbach an einem Tisch, die Menschen erzählen von ihrem Studium in Jena, von ihrer Tochter in Australien und ihrem Sohn in China. Im Theater war niemand von ihnen. Wir warfen einen Blick in die Frauenkirche, einen erweiterten Blick in den Kulturpalast und vom Hotelfenster einen knappen in den Innenhof. Wir sahen eine waschechte AfD-Kundgebung, es waren fast mehr Polizisten da als Demonstranten, eine ziemlich kleine Rednerin sprach in einer Art Pommes-Bude in ein Mikrophon. Die Polizisten hatten weiße Nummern auf dem Rücken, die Polizistinnen auch, ob weitere uniformierte Geschlechter anwesend waren, erschloss sich unseren Laien-Blicken nicht. Fast auf den Strich genau an der Landesgrenze gab es Wetterwechsel in beiden Richtungen, heimwärts die schlechtere Variante in Thüringen.

10. Februar 2018

Ein großer Schiller-Freund war Brecht nicht. Am 10. Februar 1948 feierte er seinen fünfzigsten Geburtstag, nicht ahnend, dass es einen sechzigsten für ihn nicht geben würde. Nicht ahnend wohl auch, dass ihn im Haus am Zürichsee, wo ihn die Geburtstagstelegramme erreichten, die dortige Bundesanwaltschaft überwachen ließ, dass die Post sogar Telefonabhörung installierte. Vom Tod seines frühen Idols Karl Valentin am Vortag nahm er offenbar keinerlei Notiz, ich fand jedenfalls keinen Hinweis darauf. Das Arbeitsjournal hupft vom 18. Januar gleich zum 1. März. Von allen in langer Reihe bei mir gehorteten Brecht-Büchern griff ich mir für den heutigen Sonnabend eines der schmalsten heraus: das von Willy Haas. Es gibt schlechtere Brecht-Bücher. Und Haas interessiert mich schon deshalb, weil er zur großen Prager deutschsprachigen Literatur gehörte. Ich sehe heute in Dresden „Maria Stuart“, von wegen Schiller. Frühstücke morgen in Ruhe im Hotel am Postplatz.

9. Februar 2018

Es gilt das Lob der Notlüge zu singen. Am 9. Februar 1888 setzte Theodor Storm den letzten Punkt unter sein letztes Werk: „Der Schimmelreiter“. Nachdem ihn eine Krebsdiagnose völlig verzweifelt gemacht hatte, spielte man ihm eine neue Diagnose vor, die die erste als Irrtum darstellte. Da kam Kraft zurück, die schon weg war. Die noch eben ausreichende Kraft. Sechzig Jahre später starb am 9. Februar Karl Valentin, dessen Zeit lange vorbei war, auch wenn er noch nicht 66 Jahre alt war. Man starb früher eher, wenn man nicht ein Erwählter war. Bei Storm denke ich immer zuerst an „Immensee“, weiß nicht einmal mehr, ob der „Schimmelreiter“ Pflichtlektüre in der Schule war. Zuletzt las ich seinen Briefwechsel mit Gottfried Keller. Zwei Monate vor dem 9. Februar, am 9. Dezember, schrieb Storm nach Zürich: „Der Geburtstag war ganz schön, wäre es nur nicht der siebenzigste gewesen …“. Eine Antwort aus der Schweiz kam nicht mehr. Keller schwieg einfach.

8. Februar 2018

Wer wie ich nicht in Faschingsterminen denkt, verpasst schöne Gelegenheiten, Freude zu spenden. Heute hätte ich eine meiner alten, schon lange nicht mehr getragenen Krawatten, vielleicht die aus Leder, die seit Jugendweihe-Zeiten irgendwo baumelt, schnippschnapp loswerden können in meiner Lieblingsbäckerei, wo die beiden freundlichen Damen hinter der Theke mich fröhlich begrüßten, und nach Schnippelschnappel-Möglichkeiten an Männerhälsen Ausschau hielten. Es ist, logisch, Weiberfastnacht. Ich erinnere Presserunden im Dienstraum des Oberbürgermeisters, wo passend zum Termin die Vorzimmerfurien hereinrauschten mit der großen Schere und die erwartungsvollen Fotografen ihre Geräte hochrissen. In meinem Lieblingszeitungsladen verabschiedete sich von mir auch jemand: Sie höre auf, sie wechsle an eine Stelle mit Urlaub, mit freien Sonnabenden. Wo sie nicht mehr täglich fahren müsse. Ich wünschte alles Gute, wie man das so macht, und etwas traurig.

7. Februar 2018

Die schlechten alten Zeiten, als ein Krypto-Sexist wie Kurt Tucholsky SPD ein wenig böswillig mit „Hier können Frauen Kaffee kochen“ übersetzte, sind vorbei. Jetzt heißt es: „Hier können Männer Außenminister werden“. Weil die Frauen dann nicht mehr Kaffee kochen, sondern den Vorsitz übernehmen, also nicht alle, sondern eine. Das aber reicht. Koalitionsverhandlungen sind kollektive Absprachen, wer wie viel Geld mehr ausgeben darf, als vorhanden ist. Alle an diesen Gießkannen-Runden nicht Beteiligten bemängeln hinterher die Abwesenheit von Visionen oder großen Würfen. Ich las derweil Uwe Kolbes „Brecht“ zu Ende, in dem seit dem 10. August 2016 das Lesezeichen auf Seite 108 steckte. Das „Rollenmodell eines Dichters“ ist für alle interessant, die sich wie der 1957 geborene Kolbe als „von Brecht Betroffene“ fühlen. Einen traf ich kürzlich in einem Theater, einen Professor, wo er mir sagte, er könne Brecht nicht mehr lesen. Einst promovierte er über ihn.


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