Tagebuch

5. November 2023

Vor 50 Jahren verdoppelte die DDR den Mindestumtauschsatz für Besucher aus nichtsozialistischen Ländern, wie das damals hieß, während meine Bibliothekskolleginnen die Ladehemmung hatten, die Montage nach anstrengenden Tagen davor somit sich bringen. Wir waren in Berlin, wohnten im Hospiz am Bahnhof Friedrichstraße, ich kaufte mir Günter Kunerts „Die geheime Bibliothek“, ich hätte „die Kipper“ sehen können, sah sie aber nicht. Am Freitag Besuch des ML-Lesesaales in der „Kommode“, später eine Führung mit Einführung in der Berliner Stadtbibliothek, in der ich drei Jahre später Biermann sah, ohne ihn zu sehen. Nach der Staatsoper das Albrechtseck als Schauplatz meines ersten Berliner Gruppenausgangs im April 1972. Am Abend hier Großauftrieb mit Blaulicht in der Keplerstraße: zweimal Feuerwehr, einmal Rettungswagen, einmal Polizei, vom Fenster aus nicht zu erkennen, wo genau. Kleine Recherche zum Rumänen Eugen Barbu nebst etwas Umfeld.

4. November 2023

Klassentreffen in Unterpörlitz beim Griechen. Der Ansturm hält sich in Grenzen. Die ersten von uns sind 71 Jahre alt, der Rest trabt mit 70 hinterher. Wir haben Probleme mit Hüften, Knien, Ohren, wir warten auf eine Operation oder wir haben eine hinter uns. Manche haben sich entschuldigt. Sie sind in London, in Berlin oder augenblicklich unbekannten Aufenthaltes. Einige haben abgesagt, andere sich gar nicht erst gemeldet, von einigen stimmen womöglich die e-mail-Adressen nicht mehr. Was uns, die da sind, nicht davon abhält, erst einmal einen Ouzo zu trinken. Alsdann trinken wir Bier, welches aus Griechenland kommt und schmeckt. Wir hätten auch deutsches Bier haben können, falls wir das hätten haben wollen. Wir essen aber aus Gewohnheit und guter Erziehung nicht Fisch im Steak-House. Ich entscheide mich für eine Vorsuppe mit weißen Bohnen und danach gebackene Champignons. Dazu gibt es keine großen Zwiebelringe. Nächstes Jahr kommen wir wieder hierher.

3. November 2023

Vor 20 Jahren las ich zwischen dem 18. August und dem 17. November 21 Bühnenwerke von Georg Kaiser, am 3. November den Einakter „Der Zar lässt sich fotografieren“ als Nummer 14. Mein Blick galt dabei dem 125. Geburtstag am 25. November. Fünf Jahre früher orakelte einer meiner Mitarbeiter darüber, in die Branche der Pharmavertreter zu wechseln, ihm wiederhole sich alles zu sehr und er brauche Abwechslung. Das überlegte er sich dann so sehr anders, dass er heute immer noch eine Restleserschaft mit seinen Stilblüten beglückt und seinen schrägen Sprachspielereien. In der Post fand ich eine am 1. November doppelt unterzeichnete Ehrenurkunde für 30-jährige treue Mitgliedschaft im Deutschen-Journalisten-Verband, Landesverband Thüringen e.V., was mich freute und überraschte. Im Landesverband trug ich lange den Bericht der Mandatsprüfungskommission vor, bis ich die leichte Übung dem engagierten Nachwuchs weiterreichte, der sie tapfer übernahm.

2. November 2023

Die Welt dreht sich auch nach dem Ausscheiden der Bayern aus dem Pokal gegen Saarbrücken um ihre gute alte Achse. Es stürmt heftig und schneit nicht, wir reisen zur Fußpflege. Der Versuch, nach Monaten erstmals die Heizung in Betrieb zu setzen, scheitert. Wir hoffen, dass die neue Spartechnik der Genossenschaft, die in unseren Kellern installiert wurde, uns nicht gänzlich von der Fernwärme, die wir bezahlen, ausschließt. Ein Heizkörper, der nur oben links für kurze Zeit warm wird, um dann wieder zur alten Kälte zurückzukehren, nützt uns wenig, auch wenn wir nun unfreiwillig dem Rat unserer Energiewende-Regierung folgen und mit Strickjacken in unseren Wohnzimmern sitzen. Ihren 95. Geburtstag hat Jutta Müller nicht mehr erreicht, die nun als erfolgreichste Trainerin im Eiskunstlauf in die Geschichte umgesiedelt ist. Was haben wir früher über die Pflicht geflucht, die ihren Schützlingen anfangs die Titel verdarb. Bis endlich die Kür dem Sport den Namen zurückgab.

1. November 2023

Nachtrag: Die Nachfeier meines 70. Geburtstages ist endgültig vorbei, das dickste Geschenk aller Zeiten genossen. Nach dem Frühstück in Langebrück vermutliche Abschiedsblicke auf die gute alte Wasserschildkröte im Aquarium, die seit Jahren versucht, die dicke Glasscheibe zu ignorieren und nie begreift, dass es da tatsächlich nicht weiter geht. Zwischen Dresden und Ilmenau gibt es keine stationären Kontrollen. Die vielen Grenzer und Bundespolizisten, die Pkw und Lkw alle auf eine einzige Spur über einen Parkplatz zwingen, obwohl wahrscheinlich Menschenschmuggel im Pkw wegen geringer Profitrate für Schlepper so unwahrscheinlich ist, dass man für diese Logistik schon böse Absicht unterstellen muss, starrten nur mäßig neugierig durch die Scheiben auf heimkehrende Rentner im Tesla. Zu Hause ist wenig verändert. Mehr rote Äpfel sind vom Baum gefallen, es ist kälter. Ich stelle meine Bierbeute auf: 18 aus Polen, 2 aus Indien, und versende ein Foto davon.

31. Oktober 2023

Nachtrag: Große Schwierigkeiten gestern, in unsere Ferienwohnung zu gelangen, denn es fehlt der Strom im Treppenhaus und im Vorflur oben in der zweiten Etage. Die Wohnung sehr schön und sehr modern. Heute sehen wir, warum: es wird neben uns und gegenüber noch ausgebaut. Wir haben einen kleinen Balkon an der Hausecke, der Blicke in alle vier Richtungen erlaubt. Wieder sehr gutes Essen am Abend, die Ente ist hier tatsächlich unschlagbar gut. Heute nur noch eine kleine Runde in der Stadt, dann die kurze Strecke zum Sender Gleiwitz, von dem wir nur den Turm aus Holz sehen können, das Museum hat geschlossen. Der Turm ist der höchste aus Holz in der Welt, ringsum liegt eine sehr gepflegte Anlage mit der wahrscheinlich höchsten Sitzbank-Dichte der Welt. Wir erinnern uns natürlich an die Verfilmung der Geschichte mit Hanjo Hasse als Naujocks, Hilmar Thate spielte den angeblichen KZ-Häftling, der tatsächlich gar keiner war. Endlosstau wegen Grenzkontrollen.

30. Oktober 2023

Nachtrag: Heute heißt das Ziel Auschwitz. Es ist zweigeteilt. Zunächst das Museum, dann das Stammlager in einem längeren Rundgang. Wir sind Teilnehmer einer deutschsprachigen Führung, sehen, was wir schon oft gesehen haben, nun mit eigenen Augen. Das schützt ein wenig, nicht ganz. Den Weg nach Birkenau zum Vernichtungslager fahren wir selbst, es hätte auch einen Shuttle-Service gegeben. Rampe, Krematorium 2, Baracke im Frauenlager, die Dimensionen riesig, überall nur noch Schornsteine und Grundrisse. Mit wenig Ausnahmen. Unsere Führerin bittet um Respekt, den Rasen nicht zu betreten, unter dem Asche liegt, größere Gruppen sehr junger Leute tun es dort dennoch. Es hat alles den Anschein von Massentourismus, der sich in Birkenau nur verteilt über die riesige Fläche. Männer in gelben Westen versuchen Ankommende auf private Parkplätze zu lotsen. Wir fahren mit schweren Beinen nach Gleiwitz, letzte Station unserer Kurzreise, es ist nicht weit.

29. Oktober 2023

Nachtrag: Man kann nicht in Krakau gewesen sein, ohne den Wawel besucht zu haben. Das System der Eintritte ist auf den ersten Blick kompliziert. Da man ohnehin nicht alles sehen kann, ist eine Entscheidung für die eine und gegen die andere Ausstellung unumgänglich. Wir nahmen die „State Rooms“ und die Kathedrale, sahen die große Glocke dennoch, nachdem wir den Turm erstiegen hatten. In den Katakomben standen wir vor Särgen mit Königen, die uns nur selten dem Namen nach bekannt waren, ich wusste dafür mit den Herren Cyprian Norwid, Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki etwas anzufangen, auch Jan Karski war mir bekannt, dem an einer der beiden Synagogen, die wir betraten, eine Plastik gewidmet ist: Karski auf einer Bank. Wir standen unvermeidlich auch vor dem Sarkophag von Lech Kaczynski nebst Gattin. Am Ende des Tages zum zweiten Male mehr als 14.000 Schritte auf der Uhr. E-Autos dürfen in Polen kostenlos parken, was uns sehr, sehr half.

28. Oktober 2023

Nachtrag: Es gibt rote Busse in Krakau, die man mit einem 24-Stunden-Ticket etwa sechs Stunden nach eigenem Belieben benutzen kann. Ein 48-Stunden-Ticket verlängert den Vorgang für den Tag danach um weitere sechs Stunden. 36 Stunden lang verkehrt der Bus schlicht und einfach nicht, was nur dann ein Problem ist, wenn man es vorher nicht weiß. Wir wussten es am zweiten Tag. Nach einer Rundfahrt durch ganz Krakau gönnten wir uns eine 30-Minuten-Fahrt auf der Weichsel, die im Ticket enthalten ist und suchten dann die Fabrik von Oskar Schindler auf. Genauer die Ausstellung zur Geschichte Schindlers. Man kann überall fotografieren, was angenehm ist, man muss überall Englisch beherrschen, wenn man des Polnischen nicht mächtig ist. Unsere gute alte Täter-Sprache kommt nicht vor. In Polen sind Geschäfte offen, wenn unsere längst geschlossen sind, Restaurants haben ausreichend Personal und erstaunlich junges. Das Essen, es überrascht uns nicht, ist sehr gut.

27. Oktober 2023

Nachtrag: Die Addition ungünstiger Umstände mit widrigem Wetter erzeugt selten Ausgangslagen, die fröhlich stimmen. Und doch sind wir in Krakau heute angekommen, es gelang uns, ohne große Schwierigkeiten mittels der entsprechenden Codes in die große Ferienwohnung zu gelangen, deren beide Bäder sich als separate Toilette und Bad erwiesen. Unterwegs lernten wir Tesla-Supercharger kennen, Ladestationen, an denen man in kurzer Zeit die Batterie vollbekommt, ehe man die Fahrt zum nächsten fortsetzt. Diese Stationen sind nicht allzu dicht gesät, aber man erreicht die nächste, wenn man den Forderungen der Technik nach vorgeschriebener Höchstgeschwindigkeit folgt, ohne auch nur kurz schneller zu fahren. Staus unterwegs sowie Umleitungen können tödlich sein, für die E-Autos ist der Gang mit einem kleinen Kanister zur nächsten Tankstelle nicht vorgesehen, man kann sie auch nicht schieben. In Polen haben diese Fahrzeuge lindgrüne Kennzeichen, kein End-E.

26. Oktober 2023

Früher war nicht nur mehr Lametta, es war auch mehr Kondition. Am 26. Oktober 1973 fuhr ich morgens nach Berlin, musste von Arnstadt bis Erfurt ein Taxi nehmen, weil ich verschnarcht hatte, dass dieser Zug in Arnstadt endet. In Berlin war ich pünktlich in der Universitätsstraße 3b, niemand außer mir wartete ganz oben auf ein Eignungsgespräch. Es dauerte anderthalb Stunden, drei Leute und ich. Meine Schwäche war das Theatererlebnis, natürlich. Woher sollte ich wissen, warum Roman Silberstein in Halle in dieser bestimmten Szene einer bestimmten Inszenierung in die Knie geht und nicht stehen bleibt? Es fiel keine Entscheidung an diesem Freitag, später fiel sie gegen mich. Ich kam auf halbwegs umsteigerischen Wegen wieder nach Hause, traf in den Zügen immer auf Leute, mit denen ich schwatzen konnte. Heute treffe ich in Dresden auf Freunde, die mir zum 70. Geburtstag eine Reise nach Krakau schenkten, weshalb hier eine mehrtätige Sendepause folgt.

25. Oktober 2023

Im Briefkasten heute gleich zwei dicke Reise-Kataloge. Ende Oktober, so meine Prognose, sind sie da und schon haben wir unser Wunschprogramm für 2024 zusammengestellt, die genauen Termine natürlich noch nicht. Wir sind Langfrist-Planer, was unsere Sponti-Freunde, von denen wir zum Glück nur wenige haben, eigentlich keine, mit Grinsen quittieren. Der Frühbucher-Rabatt bringt bei vier Anmeldungen das Geld für zwei noble Kisten Wein. Wir müssen nur noch austarieren, wann welche Ferien, wann welche Familientreffen anfallen, welche Buchung in Quedlinburg schon fest ist, weil wir 300 Jahre Klopstock vor Ort erleben wollen und so weiter. Vor 50 Jahren rief ich mir den genau ein halbes Jahr zurückliegenden Abgang aus der NVA vor Augen. Im Zug erst kurz vor Leipzig ergatterten wir unsere Personalausweise, das hatte ich natürlich vergessen. Mein Wehrpass ist Dauerleihgabe an die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Berlin.


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