Tagebuch
11. Dezember 2023
Nachtrag: Lese ich heute, was ich vor zwanzig Jahren über das Gespräch mit meinem Personalchef notierte, keine Aktennotiz, sondern eben ein Tagebucheintrag, dann sehe ich, was ein Gedächtnis so verliert und was es behält. Ob vernichtende Sätze über unseren Chefredakteur, über unsere beiden Geschäftsführer als eine Art riskanter vertrauensbildender Maßnahme mir gegenüber gedacht waren oder einfach nur menschlich aus Frustration, weil er letztlich alles auszubaden hatte, auch vor Gericht, wenn es darauf ankam, erfuhr ich nie. Später war er abweisend, als ich noch einmal einen Wunsch hatte. Immerhin erfuhr ich erstmals, um welche Abfindung es für mich ging, erfuhr auch von Rechenbeispielen für eine bezahlte Weiterbeschäftigung. In der Redaktion zeigte mir meine Sekretärin, die noch meine Sekretärin war, das Weihnachtsgeschenk der Volksbank, das Südtiroler Weine enthielt, die ich mochte. Dafür schenkte ich den Kollegen das ganze Präsent der Sparkasse.
10. Dezember 2023
Nachtrag: Hätte die Süddeutsche Zeitung, zu deren Portfolio einst mein Suhler Laden gehörte und deren Anwälte mich später im Stich ließen, als es galt, zwei Mitarbeiter dingfest zu machen, die von ihren Firmencomputern aus gegen mich Stalking-Straftaten begingen, nicht eine Bibliothek von 50 Bänden herausgegeben, die 50 große Romane des 20. Jahrhunderts versammeln sollte, wäre noch heute Jorge Semprún auf meinen Regalen nicht vertreten. So aber steht „Was für ein schöner Tag!“ als Band 17 bei mir zwischen Camilo José Cela und Juan Goytisolo und wartet darauf, gelesen zu werden. Das Fernsehen hat ein Porträt, weil heute Sempruns 100. Geburtstag ist. Er wirkt eher wie der umtriebige und allpräsente Weltmann des Literatur-Jetset, was nicht ganz verwunderlich ist, weil er ja auch ein Kulturminister Spaniens war. In Weimar heißt der alte Sophienplatz, später Rathenauplatz, später Karl-Marx-Platz, später Weimarplatz, seit 2018 eben Jorge-Semprún-Platz.
9. Dezember 2023
Nachtrag: Wolfgang Harich, der heute vor 100 Jahren in Königsberg geboren wurde, ist mir immer fremd geblieben, es bedurfte keiner Enthüllungen später Jahre. Ich erinnere mich an seine Arbeit „Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß“, 1973 in Sinn und Form gedruckt. Aber nicht Harich galt damals mein Interesse, sondern Heiner Müller, den ich dann nach der Biermann-Ausbürgerung in der Humboldt-Universität erlebte. Wie die Mütter an der Seiten- oder Rückwand eines Dorfsaals, wenn die Töchter zum ersten Mal tanzen dürfen, saßen hochrangige Germanistinnen im Senatssaal, um im Fall der Fälle eine aus dem Ruder laufende Debatte mit Müller an sich zu reißen. Es kam nicht dazu. Am 9. Dezember 2003 überraschte mich ein Anruf meines Personalchefs in Suhl, der mich zu einem Gespräch „von Mann zu Mann“ treffen wollte. Wir verabredeten uns zu diesem Zwecke in der „Tanne“ für den 11. Dezember, unser Gespräch dauerte volle anderthalb Stunden.
8. Dezember 2023
Nachtrag: Dass Guy Stern gestern im Alter von sagenhaften 101 Jahren gestorben ist, erfahre ich erst heute, was normal ist. Woher ich seinen Namen kenne, ist unspektakulär: eines Tages kaufte ich antiquarisch ein Buch mit dem Titel „Zum Verständnis des Geistigen“, Verfasser: Efraim Frisch. Über den habe ich inzwischen mehrfach geschrieben, zuletzt zum Termin 1. März in diesem Jahr. Herausgeber des Bandes von Frisch war Guy Stern, er schrieb auch die natürlich von mir benutzte Einleitung. Frischs „Zenobi“ liegt immer noch in Griffweite auf meinem Arbeitstisch. Vor 100 Jahren, am 8. Dezember 1923, präsentierte das Alte Theater Leipzig die Uraufführung von Brechts „Baal“. Alwin Kronacher war damals Schauspieldirektor, es gab einen soliden Theaterskandal, der noch nie einem Autor wirklich geschadet hat, wie wir nicht erst seither wissen. Nach Berlin kam das Stück erst 1926. Max Mell, den ich nun wieder systematisch lese, sah keinen Brecht als Kritiker.
7. Dezember 2023
Nachtrag: Die Theaterkritiken von Josef Hofmiller, die ich gestern und vorgestern las, sollten mir ein Thema für einen kleinen Text sein. Auch weil ich sowohl seinen 150. Geburtstag im vorigen Jahr als eben seinen 90. Todestag im Oktober verstreichen ließ. Nein, ein Theaterkritiker war er nicht. Was nur bedingt gegen ihn spricht. Viele waren es nicht und blieben es trotzdem. Ich kann mich seit heute wieder telefonisch krankschreiben lassen, was mir wenig hilft, denn niemand hat Interesse an meinem Krankenschein. Außerdem gehen Ärzte und Ärztinnen so selten ans Telefon ihrer Praxis, dass es am besten wäre, die Bundesregierung würde im nächsten Schritt erlauben, dass sich Menschen ohne Lese-/Rechtschreibschwäche selbst bei Bedarf krankschreiben. Zu überlegen ist, ob eine eventuell auftretende Häufung von Fällen mit einer Aussetzung der Lohnfortzahlung zu verbinden wäre. Fehlerfreie Selbstkrankschreibungen sollten als Sprachkompetenznachweis gelten.
6. Dezember 2023
Nachtrag: Zu Hause nun endlich die „Selbstbetrachtungen“ begonnen, die natürlich keinen anderen Wassermann bringen. „Jeder Versuch, sich selbst zu sehen, scheitert an der Unabänderlichkeit des Ichseins, und jeder Versuch, sich selbst zu erkennen, an der Ungewissheit des Selbstseins.“ Auf der Basis solcher Überzeugungen Romane und sogar durchaus nette Einakter zu schreiben, scheint mir abenteuerlich: abenteuerlich inkonsequent. Konsequent sind dagegen Lokführer. Ab morgen wollen sie uns wieder alle in Geiselhaft nehmen für ihre hehren Ziele. Vorbei sind die guten alten Zeiten, als Gewerkschafter und Sozialdemokraten den Acht-Stunden-Tag als Sieg feierten und zwar den in einer Sechs-Tage-Woche. Heute müssen es 35 Stunden in einer Fünf-Tage-Woche sein, voller Lohn natürlich inklusive. Als unser oller Karl aus Trier an sinkende Wochenarbeitszeiten dachte, gab es die Fachkraft Lokführer im Dutzend billiger, jetzt müssen sie aus Adams Rippe geschnitzt werden.
5. Dezember 2023
Nachtrag: 10.000 Schritte gelangen mir an keinem dieser kalten Tage in Franzensbad, die kurzen Wege im 40-Zimmer-Hotel waren auch nicht angetan, viel zu helfen, das war vor einem Jahr in Bad Rodach anders. Schwer vorzustellen, dass seit meiner großen Operation in Halle nun schon wieder ein komplettes Jahr vergangen ist. Mein linkes Bein will immer noch nicht wirklich seine Dienste tun, immer wieder zuckt da ein Schmerz, dort ein Schmerz, nie lange, aber es reicht. Schlimmer ist, was sich oberhalb und unterhalb der Kniekehle abspielt, es könnte ein Meniskus-Schaden sein vom zweiten Sturz im August her. Bis zum Orthopädie-Termin ist aber noch eine Weile Zeit. Heimwärts fuhren wir nicht die Umgehungsstrecke der Anreise und kamen auch alles in allem sehr gut durch. Die Wohnung in dieser einen Woche extrem ausgekühlt. Wir beschlossen, die Heizung auch über Nacht erst einmal anzulassen. Mein „Hundert Kerzen für Tendrjakow“ heute vordatiert im Netz.
4. Dezember 2023
Nachtrag: Schon ist der letzte Behandlungstag erreicht, mir bleiben Fangopackung, klassische Teilkörpermassage und Whirlbad. Der feierlichen Einweihung des Weihnachtsbaumes gestern sind wir ferngeblieben. Wir schauten ihn uns heute an. Von den Rudolstädtern haben wir uns mit Foto zur Erinnerung verabschiedet, sie wollen uns besuchen, wenn sie in Ilmenau sind. Zum letzten Abendessen haben wir eine neue Tischgenossin aus Aschaffenburg, der wir von unseren schlechten Erfahrungen mit Aschaffenburger Inkasso-Unternehmen erzählen müssen. Nachdem ich gestern tatsächlich mit „Mein Weg als Deutscher und Jude“ zu Ende kam, fing ich heute die nächsten Seiten im Sammelband an, bis zu den „Selbstbetrachtungen“ schaffte ich es aber nicht mehr. Wir befreiten das Auto so weit als möglich vom Eis und drehten unsere vorerst letzte Spazierrunde. Natürlich nahmen wir zum Essen noch einmal den Welschriesling des ersten Abends, den wir auch kauften.
3. Dezember 2023
Nachtrag: Pünktlich um 13 Uhr werden wir vor dem Hotel von einem kleinen Bus abgeholt, der mit uns, den Rudolstädtern und einigen anderen aus anderen Hotels die Egerland-Rundfahrt antritt. Ein recht gut deutschsprechender junger Mann erklärt uns vieles, was wir zum Teil kaum sehen, denn es ist schlechte Sicht unterwegs. Er erklärt uns weniger als in Marienbad die Reiseleiterin im Frühjahr, die uns vor allem Einblicke in die jüngere Geschichte verschaffte von der fehlenden Landwirtschaft bis zu den Vertreibungsfolgen. Auch jetzt sehen wir kahle Gegenden, wo früher ganze Dörfer lagen. In Eger gibt es eine kleine Stadtführung inklusive Glühwein, danach haben wir bis zur Rückfahrt freie Zeit. Wir stehen vor dem Haus, in dem Walleinstein ermordet wurde. Der Weihnachtsmarkt ist hübsch, es ist aber zu nasskalt, um zu verweilen. So besuchen wir geöffnete Geschäfte, um uns zu wärmen und kaufen am Ende sogar bei Asiaten zwei Einlegesohlen mit Fell gegen eiskalte Füße.
2. Dezember 2023
Nachtrag: Heute und morgen sind für uns anwendungsfreie Tage, wir sehen aber, dass das nur für uns gilt. Andere wandern in ihren weißen Bademänteln umher, sitzen brav in den Wartebereichen. Unsere Tischnachbarn überlegen, eher nach Hause zu fahren. Sie haben ein schlechtes Gewissen ihrer beiden Katzen wegen, die für diese paar Tage ihre vertraute Umgebung verlassen mussten. So reden wir über Katzen und Hunde und Dörfer und Reviere und Gewohnheiten. Auch heute nur sehr wenig Wassermann, dafür aber gleich solche Sätze: „Wahre Verantwortung ist wie ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag. Er bindet über alle Einwände der Vernunft hinaus, und Freiwilligkeit und Urteil vermögen nichts gegen ihn.“ Wie ist denn ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag, wer stoppt die finale Blutung, wenn die Unterschriften stehen? Nein, dergleichen geht gar nicht für mich. Heute finden wir eine Tafel für den Walzerkönig Johann Strauß, der mehrmals Kurgast war.
1. Dezember 2023
Nachtrag: Mich erwartet heute noch vor dem Frühstück eine Elektrotherapie im Schwesternzimmer. Dann Perlbad in der Hydrotherapie, am Nachmittag die zugebuchten Massagen: Fußreflex und eine indische Kopfmassage. In Kenntnis einheimischer Physiotherapie-Preise für vergleichbare Leistung sind wir mehr als nur angetan und schon entschlossen, in einer günstigeren Jahreszeit erneut eine Woche zu kommen. Für 2024 ist erst einmal Marienbad zum zweiten Male vorgesehen. Nur zwölf Seiten Wassermann heute, dafür fotografieren wir jenen Franz, nach dem das Bad genannt ist, jenen Dr. Bernhard Adler mit Schneehaube auf dem Marmorkopf, dem die Stadt das Kurwesen verdankt. Die ausgedehnten Parkanlagen müssen wunderschön sein, wenn alles grün ist und nicht gefroren. Das Kurviertel ist Kulturerbe und rasch rundum erkundet. Eine spezielle Abhandlung zu Goethe und Franzensbad kennt man in der Tourist Information nicht, wir sollen aber in Eger nachfragen.
30. November 2023
Nachtrag: Drei Anwendungen in dichter Folge am Morgen bringen den Vorteil eines langen freien Tages. Ich schaffe 48 Seiten schwer genießbaren Wassermann, dessen Buch alles ist, was ich nie als Autobiographie bezeichnen würde, es ist faktenarm, selten anschaulich, kaum einmal so auf den Punkt formuliert, dass ich mir den Satz notieren würde. Gestern standen wir am Goethe-Denkmal und sahen, dass wir den Kammerbühl auf keinen Fall sehen werden in dieser Woche. Heute sahen wir das Wilhelm-Müller-Denkmal, der nur 1826 Kurgast in Franzensbad war. Der Sauvignon am Abend war der dritte trockene tschechische Weißwein, den wir kosteten, er war der schwächste, der Welschriesling der beste, auch wenn uns die Chefin des Hauses ihren Weißburgunder nahelegen wollte, der freilich auch sehr respektabel war. Mit an unserem Tisch sitzt seit dem ersten Abend ein Paar unseres Alters aus Rudolstadt, mit dem wir uns sofort gut verstanden und viel schwätzen.