Tagebuch

18. September 2023

Vor 50 Jahren sind die DDR und die BRD in die UNO aufgenommen worden. In meinem Tagebuch von damals ist das nicht verzeichnet. Aber irgendwo in einem Taschenkalender hielt ich fest, wenn wieder ein Land die DDR diplomatisch anerkannt hatte. 1973 wartete ich auf eine Entscheidung wegen des mir weggenommenen Studienplatzes für Journalistik in Leipzig. Dreißig Jahre später, am 18. September 2003, es war mein zweiter Arbeitstag nach einem schönen langen Urlaub in Tramin in Südtirol und in Scuol im schweizerischen Graubünden, las ich an der Pinnwand die Aufforderung meines damaligen Chefredakteurs an alle Mitarbeiter, bei Interesse doch zu seiner Buchvorstellung im Buchhaus Suhl zu kommen. Die beiden Informanten aus meiner Lokalredaktion, die ihren Chef bespitzelten, sorgten für das Bekanntwerden meiner despektierlichen Bemerkungen zum Thema: rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse fertig geworden. Ich heuchelte kein Interesse an dem Buch.

17. September 2023

Immer, wenn mein Blick länger als eine Sekunde auf der SPIEGEL-Bestsellerliste verweilt, sehe ich, dass mich von 40 genannten Titeln selten mehr als keiner interessieren würde. Womit bewiesen ist, dass ich schon nicht mehr ganz in diese Welt gehöre. Diese Liste, die Verlagen das Recht leiht, kleine rote Aufkleber auf die Cover ihrer Seller zu pappen, gibt vielen Buchhandlungen den Halt, den sie brauchen. In öffentlichen Verkehrsmitteln und an Stränden wird kaum noch in Zeitungen geschaut, geschweige in Bücher, wenn aber zwei Damenhände einen Wälzer aufgeschlagen halten, dann seltener mit dem roten Aufkleber. Von den vierzig Titeln der gestrigen Ausgabe könnte ich mir nur einen vorstellen, der als preisgesenktes Mängelexemplar zu meinen Beständen passen würde: „Mann vom Meer“ von Volker Weidermann, von Platz 9 jäh auf Platz 14 gerutscht. Weidermann schreibt in Dicht-Folge, Feuilleton-Chef bei der ZEIT ist offenbar ein Job, der endlos Zeit lässt.

16. September 2023

Tagesfahrt nach Dresden ins Militärhistorische Museum. Unterwegs im Bus erzähle ich knapp 40 Minuten vom Buch „Kulturschock NVA“, seiner Entstehung, seiner Präsentation 2013 just in Dresden, von der Fernsehaufzeichnung, von der Lesung Ostbergs im Rudolstädter Theater, von der Präsenz in der Berliner Kulturbrauerei, der MDR-Reise nach Rostock. Ob wir durch Langebrück fahren mussten oder fälschlich gefahren sind, weiß ich nicht, auf jeden Fall war es unsere Strecke. Am Schauspielhaus Werbung für „Macbeth“, auch unterwegs Werbung für Shakespeare. Spaghetti Bolognese im Museum, später noch ein Stadtrundgang mit einer Sorbin. Der Zwinger-Innenhof ist Grabungsstätte, nahe der Frauenkirche ein Herbstfest, das an seinem Stammplatz sonst mehr Raum greifen darf. Nach 19 Uhr sind wir wieder zu Hause: viel müder, als zu erwarten. Unsere Dresdener Freunde derweil auf dem Weg nach Indien. Wohin wir nie kommen werden, weil wir nicht wollen.

15. September 2023

Hätte ich, als ich aus wöchentlichen Kolumnen die Bücher „Aus Ecken und Kanten ein Kreis“ und „Ein Kreis mit Ecken und Kanten“ zusammenstellte, geahnt, dass den ersten zehn Jahren Ilm-Kreis dereinst ein Kreis mit ukrainischen Sozialbetrügern folgen würde, hätte ich mich im Nebenberuf als Hellseher bewerben müssen. Ich ahnte gar nichts, ärgerte mich milde über Spätaussiedler, die als Deutsche per Gesetz nie integriert werden mussten, die heute in der dritten Generation noch immer russisch miteinander reden, als wären sie Hotelbesitzer am Bahnhof Charlottenburg. Nein, Ukrainer waren auf einmal da, in manchen Ilmenauer Nebenstraßen mit gleich zwei SUV, was die bittere alte Geschichtserkenntnis bestätigt, dass sich Flucht vorm Krieg oft nur die Reicheren leisten können. Die, die zu Hause das heimische Wehrkreiskommando bestechen, wenn es nötig wird. Vor allem betrügt sich Deutschland selbst. Der Ilm-Kreis produziert dazu unfreiwillig passende Schlagzeilen.

14. September 2023

Den 14. September 2022 finde ich auf einer ganzen Fotoserie festgehalten: es ist der Tag, da wir als Senioren für zwei Euro weniger, Österreich ist ein seniorenfreundliches Land, das Weinviertler Museumsdorf Niedersulz besichtigen. Von unserem Hohenfelden einmal abgesehen, das wir erst in diesem Jahr wieder sahen, sind wir seit langem gern bereit, derartige Institutionen zu besuchen: als eine erste vor mittlerweile 23 Jahren das Volkskundemuseum Dietenheim nahe Bruneck in Südtirol. Später das phantastische Freilichtmuseum Ballenberg in der Schweiz nahe Brienz, ein halbes Jahr nach meiner Flugeinlage auf der Heimfahrt von Halle nach Ilmenau. 2012 durchwanderten wir das Dorfmuseum Mönchhof im Burgenland und das Freilichtmuseum Stübing bei Graz. „Reisebriefe vom Kriegsschauplatz Böhmen 1866“, in Bad Rodach begonnen, der vierte Fontane in Folge, fand heute ins Lese-Register. Allerhand Aufwand danach, die Fontane-Literatur mag alles andere lieber.

13. September 2023

Mit geschickt gedeichseltem Zeitmanagement reichten unsere 24-Stunden-Karten, die uns gestern über Potsdam zum Grab von Manfred Krug und Ottilie brachte, ehe wir fanden, was wir eigentlich suchten, bis heute zum Hauptbahnhof. Dort war der Zug pünktlich, unsere Plätze reserviert und frei. Ein Bürger, dem vor einigen Wochen der Kamm ins Klo gefallen sein musste, zappelte zunächst parkinsonartig mit der rechten Hand, gähnte dabei so herzzerreißend lange und laut, als habe er seit Mai nicht mehr geschlafen. Danach dirigierte er nach Noten, die in ein kleines Büchlein geklebt waren. Ausdenken kann man sich solche Figuren nicht. In der Post zu Hause die Absage unserer Reise nach Norditalien, die eine Genuss-Reise sein sollte und nun zum zweiten Mal in Wasser fällt. 2022 musste ich sie als Invalide absagen. Alternativen gibt es kurzfristig keine, die uns zusagen. Was uns gefallen würde, ist ausgebucht. Der Absager-Katalog wanderte umgehend ins Altpapier.

12. September 2023

Nachtrag Berlin: Unser Zimmer hat Nummer 208, wir fühlen uns fast wie früher am Stuttgarter Platz. Natürlich ist die U-Bahn Konstanzer Straße uns näher, was wir aber erst merken, als wir es testen. Die Öffentlichen Verkehrsmittel verschlingen in nicht einmal 48 Stunden 51,40 Euro für zwei Personen. Im Museum sehen wir nach Kurz-Blick in die Dauerausstellung die Fotoreportagen „Niemandsland und Musterdorf“, gestellte Situationen, die durch Bildtexte ein gewisses Interesse gewinnen. Wir treffen unseren Freund und Verleger Christoph, trinken ein wenig Cremant de Loire. Heute übertreffe ich zum zweiten Male nach dem 16. September 2019 die Traum-Marke von 20.000 Schritten: 20.123 zeigt die Uhr zu später Stunde. Das Buch „Lexikon Berliner Grabstätten“ führt uns leider mit seinen Angaben zum Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf völlig in die Irre: wir fanden Arthur Eloessers Grab zwar, aber nach einer Wald-Odyssee durch den Südwest Kirchhof.

11. September 2023

Das Museum in der Kulturbrauerei wird 10 Jahre alt und will mit mir zusammen feiern. So sagt es die freundliche Einladung, der ich natürlich gern folge. Denn ich bin selbst Gegenstand innerhalb der Dauerausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nach der feierlichen Eröffnung war ich erst einmal wieder dort und wurde beinahe von einer Schweizerin in ihr teures Land zu einer Lesung geladen, der begleitende Gatte der Eidgenossin riet ihr aber ab. Die Lese-Reise hätte mich wegen der Schweizer Franken sehr gereizt, aber das ist alles vergangen und vergessen. Heute müssen wir in einer Berliner Pension einchecken, weil unser Stammhotel bei den Preisen so aufgeschlagen hat, dass wir nahe an die Schnappatmung kamen. Für morgen haben wir ein Reiseprogramm an Berlins Ränder geplant, wovon ein Nachtrag berichten wird. Dann gibt es am Wochenende nur noch einen Tagesausflug, dem eine längere Phase der Sesshaftigkeit folgt. 

10. September 2023

Die Gäste des gestrigen Hochzeitsfestes waren zum Teil schon auf den Beinen, als wir unser letztes Frühstück nahmen. Eine alte Weisheit demonstrierte ihre Wahrheit: Man soll lesen, was auf den Plakaten steht, wenn man ein Kurkonzert erleben will. Zwischen der Reka-Klinik und dem Kurhotel hatte zwar jemand die gestapelten weißen Plastik-Stühle malerisch aufgestellt, nur das Konzert gab es an diesem Sonntag im Kurpark, wo der zweite Tag des Rodacher Kurpark & Fischer-Festes tobte. Aber der freundliche Schall trug die blasmusikalischen Leckerbissen weithin. Man hörte auch dann, wenn man gar nicht hören wollte. Das Erlebnis war ein Mercedes-Fahrer, der mit einer Tochter und zwei offenbar sehr teuren Fahrrädern in unserem Nebenzimmer Quartier fand. Er schloss beide Räder zusammen auf dem Balkon (zweite Etage) an, damit sie niemand von dort stehlen konnte. Er hielt vielleicht sogar uns für potentielle Fahrraddiebe. Wir aber fahren morgen lieber nach Berlin.

9. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Heute mehr als sieben Stunden in den Saunen, Plätze im Schatten draußen zeitig gesichert. Inzwischen kennt man seine Nachbarn, weiß, wenn der unfassbare dicke ehemalige Berufsschullehrer im Pool sitzt, läuft nicht nur viel Wasser über den Rand, da gibt es Weltpolitik und die Erklärung sämtliche Phänomene vom Klimawandel bis zur Merkel-Diktatur. Ein Mann, der wirkt, als hätte er wegen unauffälliger, winziger Leistungsdefizite den Hauptschulabschluss knapp verpasst, kooperiert als Denker und Wissender. Überall regieren Idioten, sagt er, nennt als Beispiele Spanien und Italien. Das sollte unsere staatstragenden Medien freuen: das so genannte Volk nimmt nicht die Spur eines Blattes vor den Mund. Von wegen: man kann nichts mehr sagen. Man kann und man darf. Nach Ragout vom Rind, gebratener Hähnchenbrust und rosa Kalbstafelspitz gibt es heute im eigenen Saft geschmortes Nackensteak. Kein Veganer klebte vor der Küchentür: Frankenland.

8. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Zwei Rentner-Paare schlürfen zum Frühstück Sekt, als wäre das die normale Lebensform für sie. Ich sah das zuletzt in Lloret de Mar vor fast 30 Jahren. Besuche also offenbar in der Regel die sektfreien Hotels. Die Herrschaften klagten über die Gegenwart, einer nahm sogar den Satz in den Mund, früher sei alles besser gewesen. Ja, liebe Uralt-Bundesbürger, es gibt diesen Typ. Der fuhr einst Jahr für Jahr in die FDGB-Urlauberheime, wo die Badewannen halb mit Krimskoje gefüllt waren, man saß stundenlang im Frühstücksraum, wo alles immer so lange nachgefüllt wurde, bis der letzte Gast seine Tagesverpflegung in sozialistische Servietten verpackt hatte. Auch da war ich immer in den falschen Unterkünften, musste 7.25 Uhr am Platz sein und keine Sekunde später, sonst waren die leidlich gefüllten Teller auf den Tischen leer, 7.45 Uhr kam die nächste Schicht, wer nicht fertig wurde, musste draußen weiter kauen. Für Old Ossi und Ossine ist Rodach Naherholung.

7. September 2023

Nachtrag Bad Rodach. Was wir gebucht haben, heißt „Fränkische Wellness“. Wie zuletzt immer sind wir gestern Eisfeld Nord abgefahren. Als wir ankamen, war sogar direkt vorm Hoteleingang ein Parkplatz frei, den wir hätten behalten können. Von Zimmer 202 aus haben wir Ausblick auf die Reha-Klinik, die mich vom 19. Dezember 2022 – 9. Januar 2023 beherbergte inklusive Blick in den Innenhof. Gemischte Gefühle, passend dazu kauften wir Gemischten Satz aus dem Burgenland als Balkonwein, zum Drei-Gang-Menü natürlich Frankenwein. Zur Wellness gehören ein Obstteller mit Pralinen und ein Genusskorb aus der Region voller leckerer Dinge. Wir dürfen täglich die Therme besuchen, so lange wir wollen, auch eine Unterbrechung ist erlaubt, es gibt dafür eine zweite kleine Karte. Uns reicht die große. Aufgüsse mit 20 und weniger Teilnehmern haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Während meiner Reha durfte ich nicht in die Therme, es herrschte noch Corona.


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