Tagebuch
17. November 2019
Die ersten Sätze meiner Kritik habe ich geschrieben, was freilich für den Sonntag nicht viel bedeutet nach dem reichlichen Hotel-Frühstück. Der ICE kommt zehn Minuten später und trotzdem pünktlich in Erfurt an. Einen Hinweis auf ein leer gefressenes Bordrestaurant wie am Freitag gibt es nicht, wir hätten es ohnehin nicht frequentiert. Ein Mathematiker-Pärchen wie am Freitag gibt es auch nicht, es sprach am Stück eine Stunde über n gleich n-Fälle und Lösungswege, die der eine Dozent anerkennt, der andere mit einem Punktabzug bestraft. Die Mathematikerin besucht zwar die Lehrveranstaltungen, weiß aber nicht, wie der Mann vorne aussieht oder gar heißt. Herrlich ist doch die Mathematik. Am Abend gibt es 30 Jahre Lena Odenthal mit Ben Becker. Ulrike Folkerts kann tatsächlich auch spielen, wenn man sie lässt. Ich versuche, meine Hermannsschlacht-Datei noch etwas zu modernisieren, ehe ich die begonnene Besprechung fortsetze. Ein reizendes Reiz-Thema.
16. November 2019
Wer für die kurze ICE-Strecke von Erfurt nach Leipzig keine Platzkarte reserviert, muss unter Umständen stehen. Ich stand. Ich habe in den letzten sieben Wochen so viel gestanden, kombiniert mit Hebe- und Tragearbeiten, dass mir die kurze Zeit wenig ausmachte. Hätte ich geahnt, was mich heute für eine seltsame „Hermannsschlacht“ im Schauspiel Leipzig erwartet, wäre ich wohl weniger enthusiastisch losgelaufen. Immerhin: das bleibende Erlebnis des Tages war der Zoo Leipzig. Wir sahen im Koala-Haus zwei ruhig Eukalyptus mampfende Koalas, was unter Glück zu verbuchen ist, denn die schlafen 18 bis 20 Stunden am Tag. Wir sahen mit ihrer Zunge weiches Futter züngelnde Schuppentiere, die man, so die Wärterin, in dieser Beschäftigung auch nur selten sieht. Ein eben noch in der Hand präsentiertes Kugel-Gürteltier machte seinem Namen alle Ehre und kugelte in eine Mulde, wo es liegen blieb. Was ist dagegen ein Kleist aus dem Text- und Rollen-Häcksler?!
15. November 2019
Die gute Nachricht kurz vor der Abreise nach Leipzig: der Sperrmüll-Rest von Dienstag ist entsorgt. Alles ging, von Auftrag bis Erledigung des Auftrages, in weniger als zwei Stunden über die Bühne. Dagegen der kommunalisierte Abfallwirtschaftsbetrieb des Ilm-Kreises: Antrag auf Entsorgung wochenlang vorher, Termin der Entsorgung wochenlang später, die Hälfte bleibt dennoch stehen. Statt alles mitzunehmen und die Mehrmenge in Rechnung zu stellen zu Gunsten der kreislichen Einnahmeseite, überlässt der beauftragte Ilmenauer Umweltdienst privaten Anbietern gute und fix generierte Einnahmen. Man kann dies Wirtschaftsförderung auf Umwegen nennen oder aber auch als postsozialistische Ignoranz gegenüber wirtschaftlicher Betriebsführung betrachten. Immerhin verschaffte mir der Ärger mit dem AIK das Vergnügen, einer bürgerfernen Argumentation einer Beraterin zuhören zu dürfen, die mich zudem auch noch anmaßend nannte. Weiter so, Ilm-Kreis!
14. November 2019
Früher war Grünheide berühmt für Robert Havemann und die ihn rund um die Uhr bewachenden Brigaden der Sozialistischen Spitzelarbeit. Jetzt will Elon Musk hin und Elektroautos bauen, dazu Arbeitsplätze schaffen noch und nöcher. Da sollten sich die Herrschaften, die sich derzeit um die Doppelspitze der ältesten deutschen Sinkflugpartei bemühen, mal einige Scheiblein abschneiden. Stattdessen kommt Olaf Scholz auf die grandiose Idee, Kaninchenvereinen, die sich nicht der Aufnahme von Füchsen und Schlangen öffnen, die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Die erste Welle des Aufschreiens ist durch, wie ich gestern spät sehen konnte. Noch ist es nicht lange her, als Harald Martenstein darauf hinwies, dass ein Knabenchor, der Mädchen aufnimmt, kein Knabenchor mehr ist, sondern ein gemischter Chor und in den konnten schon immer Mädchen aufgenommen werden. Volker Braun, der 80 wurde im Mai, nannte dergleichen die „Eskalation des Blödsinns“.
13. November 2019
Um 12.12 Uhr verließen wir letztmalig die nunmehr leere Wohnung meiner Mutter, ich hängte die drei Schlüsselpaare an den Türdrücker der Vermieterin, riet später zum Verkleben des Briefkastens, um unnütze Entsorgungen zu vermeiden. Vom Sperrmüll, der gestern abgeholt werden sollte, ist nur ein Teil verladen worden, der Rest stapelt sich noch immer auf dem Bürgersteig. Genau 47 Tage hat es gedauert bis heute, unser Auto hat als Nachlasstransporter sechs Wochen hart zu tragen gehabt. Zu Hause dann ein seltsames Gefühl: Nie mehr nach Gehren. Nur noch zum Friedhof gelegentlich. Oder wenn ein Klassentreffen ansteht. Zu Hause Fotoalben durchblättert. Meine Mutter hat meine dringliche Bitte, alles zu beschriften, akribisch befolgt, ich besitze nun einen Schatz an Bildern aus der Familiengeschichte bis Anfang des vorigen Jahrhunderts zurück. Nur nebenbei Gedanken an Werner Weber, dessen 100. Geburtstag heute ein lange und doch vergebens geplanter Termin war.
12. November 2019
Meine Mutter hat, wie es Mütter eben so tun, meine Artikel gesammelt und in flachen Schachteln verstaut. So sehe ich beim Sortieren vor der vorletzten Ausfahrt nach Gehren, morgen geben wir die Schlüssel endgültig ab, in geballter Ladung auch all die Sachen, auf denen ich selbst zu sehen bin, denn in der ersten Arnstädter Zeit hatten meine Suhler Bosse wenig Lust, in der neuen Dependance zu repräsentieren: ich übergab die wohltätigen Schecks, ich schaute in die Kamera oder auch nicht. Die Lust nahm später weiter ab. Auch meine Kolumnen finde ich alle und weil nun eben wieder die so genannte fünfte Jahreszeit begonnen hat, stelle ich eine olle Kamelle von 2000 in meiner Rubrik ALTE SACHEN neu ins Netz. Ich denke, ich war wohl einer der wenigen Journalisten im Lokalen, vielleicht der einzige gar, der so lange so regelmäßig eine Kolumne bediente. Das müsste nun nur noch jemandem auffallen, das meiste liest sich, sage ich in aller bescheidenen Eitelkeit, recht gut.
11. November 2019
Hans Magnus Enzensberger, der das Lausbübische im Gesicht auch noch an seinem heutigen 90. Geburtstag nicht verloren hat, gehört zu den Opfern meines nun in der siebenten und finalen Woche sich befindenden Haushaltsauflösungs-Marathons. Ich hätte gern über ihn geschrieben, zumal er für diverse Themen immer gute Vorlagen liefert. So aber: der letzte und brachialste Angriff auf den Nachlass meiner Mutter: mit kräftigen jungen Männern gelangt alles, was niemand will und verwerten kann, auf einen Sperrmüllberg. Das große Bücherregal wird demontiert und bei einem meiner ältesten Schulfreunde neu aufgestellt. Alles, was Holz ist, landet zerlegt und zerschlagen auf einem Haufen, der Brennholz werden möchte. Auslegware wird gerollt, Teppiche ebenso, die ersten Hintergründler umschleichen den Haufen an der Straße schon, ehe wir ihn zu Ende gestapelt haben. Eine alte Stehleiter und ein uralter Riesenkoffer mit Gardinen drin geraten direkt in farbige Hände.
10. November 2019
Fünfzehn Jahre nach dem Tod meines Vaters finde ich in einer Mappe mit sämtlichen Urkunden und Auszeichnungen, neben einer Schachtel mit den zugehörigen Medaillen und Orden, darunter rein gar nichts von Bedeutung oder gar „Höhe“, er blieb ewig Oberlehrer, während junge Spunde längst zum Studienrat befördert wurden, vier runde bunte Scheiben, Durchmesser zehn Zentimeter. Es sind Zielscheiben, auf die mein Vater am 28. September und am 10. November 1943 als Unteroffizier schoss. Er war im Gegensatz zu mir ein guter Schütze. Und ich finde eine vorgedruckte Karte der SED-Kreisleitung Ilmenau mit einem „Glückwunsch zum neuen Jahr“, auf deren Vorderseite der sowjetische Außenminister Molotow zitiert wird anlässlich des fünften Jahrestages der DDR 1954: „Deutschland wird wiedervereinigt werden“. Da hatte er ausnahmsweise einmal Recht, nur kam er eben 35 Jahre zu früh. Das Leben bestrafte ihn trotzdem, es denkt bei Molotow nur an Cocktails.
9. November 2019
Natürlich weiß ich, wo ich war, als Schabowski und so weiter: vor dem Fernseher. Der lokale Rasiersender MDR Jump sendet heute den Sound der Wende, überall plärrt einem das Wort Freiheit entgehen, Marius Müller-Westernhagen verhöhnt mit seiner Edel-Phrase „Freiheit ist das einzige, was zählt“ schätzungsweise zwei Drittel der Menschheit, die auf Freiheit scheißen würden, wenn sie stattdessen etwas zu essen, sauberes Wasser oder auch nur eine benutzbare Toilette hätten und nicht ins Maisfeld kacken müssten, um dort dann von notgeilen Hindu-Männern vergewaltigt zu werden. Wir haben nicht von hiesigen Hartz-IV-Menschen geredet, die mit ihrer fetten Knete die tolle Reisefreiheit oder die tollen SUV-Sonderangebote sämtlicher Autofirmen nicht nutzen können, weil die fette Leberwurst auf dem überlagerten Toast aus der Tafel Kreativität bremst in Haupt und Gliedern. Ich kann Mauerfallbilder von der bunten Seite der Mauer her einfach nicht mehr sehen.
8. November 2019
Nichts von Beruhigung, nach dem Ende des exzessiven Kaufrausches ging es weiter mit dem ganz alltäglichen Kaufrausch. Summiere ich, was an einzelne Versandhäuser (alle natürlich im Westen) gezahlt wurde seitens meiner Eltern, später nur noch seitens meiner Mutter, dann ahne ich, was man mit all dem Geld hätte Schönes und Gutes anfangen können, vor allem die beiden selbst natürlich. Es lohnt die Überlegung, ob dies ein Generationsverhalten war: Not durch extreme Überfülle zu kompensieren. Ich weiß von einer Frau, die Berge von Fleisch in ihren Gefriertruhen bewahrt für fiktive, von ihr vermutlich gar nicht wirklich befürchtete Notzeiten. Abends die zweite katholische Weinverkostung, ein Tropfen besser als der andere. Die erste Hälfte „Das Magazin“ liegt nunmehr in meinem Keller, wo vorher die alten SPIEGEL lagerten, die nun dem Altpapier anheimgefallen sind. Morgen verschwinden in Gehren Schrank, kleines Sofa und Sessel aus dem kleinen Zimmer.
7. November 2019
Ich schreddere Rentenbescheide und gewinne den Eindruck, dass die Deutsche Rentenversicherung wesentlichen Anteil an der Abholzung der Wälder und somit am Klimawandel haben muss. Denn Jahr für Jahr versenden sie pfundweise Papier an Millionen Rentner mit Bescheiden, geänderten Bescheiden, Neuberechnungen, Nachzahlungen, Begründungen der nicht sofortigen Auszahlung von Nachzahlungen, Dokumentation der Zinsen, die aufliefen. Man bekam bei der DRV Zinsen, die heute jedes Sparerherz nahe an die Hyperventilation bringen würden. Anfang 2005 gab es allein 1200 Euro an Zinsen für eine Nachzahlung an meinen Ende 2004 verstorbenen Vater. Immer noch und immer wieder Überraschungen im Nachlass: Totenschein für meine Schwester, Freigabe zur Bestattung ab 20. November 1950, Versandhausrechnungen aus den Jahren eines fast exzessiven Kaufrausches 1991 bis 1993, danach Beruhigung, Ärger über manches Blendwerk der Kataloge.
6. November 2019
200 Kilometer sind es bis zum Buchdorf Mühlbeck. Wir luden am Morgen alle 44 Kisten auf den Transporter, via A 71 und A 38 waren wir gegen 12 Uhr vor Ort. Der Bürgermeister hatte eigens einen zusätzlichen Raum zur Verfügung gestellt für unseren Bücherberg. Angenehmes Gespräch mit der Chefin des Hauses Dorfplatz 15, wir sahen Büchermengen, die sortiert sind, die sortiert werden müssen, leere Bananenkisten für alle Fälle. Heimzu die falsche Richtung auf der A 38, also Umweg. Kaum Zeit, an den 6. November 1994 zu denken, meine allererste Reise nach Brüssel mit der Europäischen Akademie Arnstadt und dem Collegium Jenense, Beginn einer langen, durchaus freundschaftlich zu nennenden Beziehung zu Professor Timmermann, der mich auch später sehr regelmäßig zu seinen Reisen einlud. Am 6. November erstmals im Leben in Aachen. Im Hotel „Gerfaut“ wohnte ich nur dieses eine Mal, Zimmer 304, später war es immer das Hotel „Van Belle“.