Arthur Miller: Alle meine Söhne; Staatsschauspiel Dresden

Muss man mutig sein, um heute „Alle meine Söhne“ von Arthur Miller zu inszenieren? Vor fast siebzig Jahren war das ein Stück, das seinem später hochberühmten Autor ersten Ruhm, erste Preise einbrachte. Der Text hatte von Beginn an eine Eigenschaft, die ihm half und zugleich hinderlich war: Er bekannte sich zum Realismus. Der Autor Arthur Miller war eine gewisse Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei, wenngleich ihn in den Ländern, in denen eine Kommunistische Partei absolute Macht ausübte, kaum jemand gern zum Genossen hätte haben dürfen. „Alle meine Söhne“ ist mit seiner kompletten Wirkungsgeschichte in den Verlauf des kalten Krieges eingegangen. Ein Gastspiel der amerikanischen Inszenierung vor amerikanischen Soldaten auf deutschem Boden wurde abgesagt, weil katholische Veteranen gegen das Stück protestierten. Das Nationaltheater Weimar brachte die deutschsprachige Erstaufführung am 19. Januar 1949, ihr folgten auf dem Boden der DDR allein bis Mitte der sechziger Jahre nicht weniger als 43 Premieren.

Schaut man sich die diversen Sammelbände der namhaften deutschen Theaterkritiker an, die bis in die sechziger Jahre reichen, dann findet sich der Name Arthur Miller dort gar nicht oder nur selten, „Alle meine Söhne“ ist komplett ignoriert, obwohl es auch in der alten Bundesrepublik eine fast gleich große Zahl von Premieren zeitversetzt gab, nachdem der „Tod des Handlungsreisenden“ die Bahn für den Mann brach, der nur zu bald in den Fokus des Boulevard geriet, als Marilyn Monroe seine zweite Frau nach Mary Grace Slattery wurde. „Alle meine Söhne“ in der Übertragung von Berthold Viertel ist die Spielvorlage für Regisseurin Sandra Strunz im Kleines Haus 1 im Staatsschauspiel Dresden, die Überarbeitung von Bernhard Schmidt blieb meinem Ohr und Verständnis ihre Notwendigkeit schuldig. Es sei, man findet es wichtig, dass sich Traubensaft in Grapefruitsaft verwandelt und dem Kompanieführer Chris Keller nicht alle, sondern nur fast alle Soldaten fallen. Sandra Strunz lässt ihre Inszenierung damit beginnen, dass Jan Maak als Nachbar Frank Lubey mit Arthur Millers Worten das Bühnenbild beschreibt, das der Zuschauer nicht sieht.

Denn den fast naturalistisch detailliert beschriebenen Hof mit Pappeln, Veranda, Autoeinfahrt, umgestürztem Apfelbaum und Rasen, den setzt natürlich heute kein Bühnenbildner mehr in Szene, es verstieße gegen seine Berufsehre, dergleichen Wünsche toter und lebender Autoren nur einfach umzusetzen. Schon Mordecai Gorelik, der Bühnenbildner der Uraufführung von Elia Kazan, erfand einen Grabhügel in der Rasenfläche, die er allerdings eine sein ließ. Simeon Meier in Dresden kommt mit einer größeren Zahl puppenartiger Figuren aus, einem abgenutzten Ledersessel. Von den Puppen sehen einige aus wie die agierenden Personen, eine hat, wenn ich richtig sah, gewollte Ähnlichkeit mit Angela Merkel, worauf Rosa Enskat mit der für die Kanzlerin charakteristischen Handhaltung helfend überdeutlich aufmerksam machte. Rosa Enskat ist in Dresden die überragende Hauptperson, sie spielt die Mutter Kate Keller ein wenig mit dem Versprechen, eines nahen Tages eine Käthe Reichel sein zu können.

Von Arthur Miller selbst wissen wir, dass seinem Dreiakter ein wirkliches Geschehen zugrunde liegt, im Bundesstaat Ohio zeigte eine Tochter ihren Vater beim FBI an, weil der den Staat mit schadhaften Flugzeugteilen beliefert hatte. Miller machte daraus, als er die Story von seiner damaligen Schwiegermutter erzählt bekam, in seiner Vorstellung einen Sohn und hatte späterem Bekunden zufolge sofort den Höhepunkt des zweiten Aktes vor Augen. Zwei Jahre dauerte es dennoch, bis alles Bühnenreife erlangt hatte. Miller wollte ein für jedermann leicht verständliches Stück haben, es sollte eine klare Botschaft sichtbar machen und grenzte sich noch zehn Jahre später in seinem Vorwort zu den Collected Plays von namentlich nicht genannten Kollegen ab, die sich eifrig vom Realismus distanzierten und versuchten, alle Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart von der Bühne fern zu halten. Die Dresdner Inszenierung von Sandra Strunz hat ihre Schwierigkeit damit, den Realismus der Vorlage auch Realismus sein zu lassen. Sie verfällt auf V-Effekte, die längst mindestens so diskutabel sind wie alles, was sie zu verfremden antreten.

Wer eingangs geneigt ist, wenn er den Text von Miller kennt, in den gestapelt liegenden Puppen einen frühen Verweis auf die 21 Piloten zu erkennen, die die Opfer der defekten Teile wurden, weil ihre Flugzeuge P 40 wegen dieser Teile abstürzten, sieht sich rasch getäuscht. Wobei das Spiel mit den Puppen zu sehr schönen Momenten der Inszenierung führt, etwa im Liebesdialog zwischen Chris Keller (Benjamin Pauquet) und Ann Deever (Karina Plachetka). Dass vier Personen ganz gestrichen sind, Jakob und Susie Bayliss, Lydia Lubey und Bert, weil eine Spielfassung von gut hundert Minuten eben ohne solche Schnitte nicht auskommt, fällt nicht gravierend ins Gewicht, Jan Maaks Frank Lubey muss eben etwas übernehmen vom Text, der keine Träger mehr hat. Dass Kate Keller durch das umwerfende Spiel der Rosa Enskat deutlich stärker ins Zentrum gerät als das Miller noch 1947 wollte, liegt dennoch nahe bei der Autoren-Intention. Denn die frühe Fassung, die noch „Im Zeichen des Schützen“ heißen sollte, hatte genau diese Richtung. Und Miller tolerierte wohlwollend europäische Inszenierungen, die sinngemäß dem folgten ohne andere Textbasis.

Die Figur der Mutter, die nicht an den Tod ihres Sohnes Larry glauben will, obwohl es nach der Vermisstenmeldung mehr als drei Jahre keinerlei Anzeichen und Ansätze für Hoffnungen gab, die von der Schuld ihres Mannes Joe Keller (Ben Daniel Jöhnk) weiß und sich das nicht einmal selbst eingestehen will, diese Figur ist voller Abgründe. Mal scheint sie nahe am Irrwitz, mal hart und kalt und einzig mit Überblick ausgestattet, sie ist Mutter und Gattin voller Liebe, sie glaubt wider besseren Wissens und sie weiß gegen alle sich sträubenden Instinkte. Rosa Enskat, zum Dritten, macht das grandios. Ich neige zur Privatmeinung, sie noch nicht stärker gesehen zu haben. Auch Karina Plachetka, die am Ende noch den Brief aus der Hinterhand zaubert, der den unwiderleglichen Beweis dafür enthält, dass Larry Keller, aus dem Übersetzer Viertel vollkommen unsinnig einen Peter gemacht hat, wie aus Kate eine Käte, sich das Leben nahm, weil er die Schande der Schuld seines Vaters nicht ertragen konnte, auch Karina Plachetka hat einen ganz starken Abend. Es bleibt den Männern in der Inszenierung nur der Kampf um Platz 3, wenn dieser Vergleich für den Moment gestattet ist.

Doch natürlich hat die Regisseurin kein Rennen inszeniert mit Pole-Position und Punkte-Rängen oder undankbaren vierten Plätzen. „Alle meine Söhne“ ist immer noch ein Stück mit Moral, ein Stück mit staubfreiem Anklagepotential. Man muss gar nicht an heutige Waffenlieferanten für heutige Heere denken, deren Gewehre nicht treffen, deren Hubschrauber nicht fliegen. Man kann ganz platt sagen, dass es wohl keine Kriege gäbe, wenn es keine an Rüstung verdienenden Unternehmen gäbe, egal wo sie beheimatet sind. Wer aber unter den ersten drei weltgrößten Waffenexporteuren der Welt rangiert, sollte in seinem Land den Moralball knapp über der Grasnarbe halten. Im Theater, wenigstens ähnlich wie sonntags in der Kirche, falls einer denn dorthin geht, sollte der Zuschauer nicht davor bewahrt werden, betroffen zu sein. Arthur Miller wusste, als er seine Autobiographie „Zeitkurven“ schrieb, dies sehr genau: „Das Theater, das wir haben, ist in hohem Maße das Theater, das die Kritiker uns zu haben erlauben...“. Man ersetze probehalber Kritiker durch Zeitgeist und denke sich dabei den fortwirkenden von 68.

Altgedienten Staatsbürgerkundelehrern der DDR sollte eigentlich so wenig wie möglich Gelegenheit gegeben werden, sich in ihren Überzeugungen bestätigt zu sehen. Kopfscheu vor Realismus welcher Färbung auch immer, Kopfscheu vor dem Kausalnexus, wie das Brecht gern nannte, damit es nicht gleich jeder versteht, spielen dem Theater der Belanglosigkeit in die Hände, das sehr viele Facetten aufweisen kann. Und wer fortgesetzt meint, gegen etwas sein zu müssen, nur weil man in der DDR dafür war, also beispielsweise „Alle meine Söhne“ ansah als beispielhaft kapitalismuskritisch, könnte einer irrtümlichen Konsequenz aufsitzen. Es gibt zu viele seltsame Symmetrien zwischen Antiamerikanismus im Westen und Antisowjetismus im Osten, als dass man daran vornehme Ignoranz betreiben dürfte. Wenn Arthur Millers verbrecherischer Vater Joe Keller sich rechtfertigt: „Wenn ich ins Zuchthaus gehöre, dann gehört das ganze Land ins Loch!“, dann ist damit ja eben nicht das Land freigesprochen. Die Rede vom Geld, das die Welt regiert, ist ja nur die Schutzformel, die die Regierenden aus dem Blickfeld hält.

Arthur Millers „Alle meine Söhne“ enthält auch ein wunderbar einfaches Plädoyer für das in unserer Rechtsstaatlichkeit fest verankerte Prinzip der Mündlichkeit vor Gericht. Auch in Dresden wirkt diese Passage, auf mich jedenfalls, mit aufwühlender Macht. Wenn der Junganwalt George Deever (Matthias Luckey) nach dem Besuch bei seinem Vater im Gefängnis von Columbus eine vollkommen andere Sicht auf das Geschehen hat als vorher, dann begründet er das so schlicht, dass es wahrscheinlich dem gehobenen Premierenhirn schon wieder zu schlicht ist: „Aber heute habe ich es aus seinem Munde gehört. Das ist etwas ganz anderes als aus Gerichtsakten.“ Zutiefst sage ich ja aus meiner Kenntnis von an die dreihundert Strafverfahren, über die ich zu berichten hatte. Muss sich ein Theater schämen, das nicht anspruchsvoller hinbekommen zu haben, auch wenn es der Autor genau so schrieb? Wer gern gegen Erwartungshaltungen Kunst macht, sollte sich bewusst halten, dass auch die höchsten Erwartungshaltungen nur solche sind. Wer aber eine Rosa Enskat tonlos den Namen Joe formen sieht mit ihren Mund, als der Schuss gefallen ist, der darf sich trösten in der Gewissheit, Theater ist fast so einfach wie Fußball: das Runde muss ins Eckige. Nachsatz fürs Phrasenschwein: Das Einfache, das schwer zu machen ist.
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