Kleist: Der zerbrochne Krug; Bad Hersfelder Festspiele

Geht „Der zerbrochne Krug“ in der Stiftsruine? Ganz müßig ist die Frage nicht, denn letztlich handelt es sich ja doch um eine Art von Kammerspiel. Die Antwort rasch: er geht und zwar keinesfalls zum Brunnen, bis er bricht, denn zerbrochen ist er bekanntlich bereits vorher und Brunnen spielen bei Kleist gar keine Rolle. Regisseur Holk Freytag ist als vormaliger Intendant der Bad Hersfelder Festspiele mit Möglichkeiten und Grenzen der Kulisse bestens vertraut und niemand muss ihm raten, auf ein mehr als gerüttelt Maß an Opulenz zu setzen, Einpersonenstücke wären eher nicht die Idee der Saison. Freytag nimmt die unverwüstliche Komödie des nachmaligen Selbstmörders vom Wannsee zweifelsfrei auch in der Spekulation, dem Publikum etwas bieten zu können, was nach Goethe niemand mehr zum Scheitern brachte, einen Klassiker mit Lotuseffekt. An ihm perlt alles ab, er steht und geht und läuft und trotz unzähliger Aufführungen in unzähligen Theatern scheint ihm auch immer wieder eine Nuance abzugewinnen, die es so noch nicht gab. Die Nuance ist nicht ein weiterer grandioser Dorfrichter, diese Rolle ist wie ein Elfmeter im Fußball, bei dem der Torwart nicht im Gehäuse stehen darf, nur der Schütze kann sich selber schlagen.

Obwohl, vorab, Stephan Schad seinen Ball durchaus mit Schwung ins Netz knallen ließ. Er war der alte Adam, der mit den zwei Wunden am Kopf, am Bein hatte es ihn nicht so hart getroffen wie manch anderen Adam, den ich in den zurückliegenden Jahren sah, zuletzt Klaus Maria Brandauer in Berlin. Die Nuance in Bad Hersfeld heißt Nikolaus Kinsky als Schreiber Licht. Der tigert als eine Mischung aus Nosferatu und Mephisto im Stile von Gustav Gründgens über die Bühne, dass es eine helle Freude ist. Man möchte keinen Sekundenbruchteil seines Tuns verpassen. Er belauert seinen Richter, er weiß wie alle Schreiber Licht natürlich fast von Beginn an, was die Uhr geschlagen hat, er stellt seine tückischen Fragen, er kontert die hanebüchenen Erklärungen des Chefs und erschauert auch nicht wirklich, als der ihm erpresserisch auf die Pelle rückt. Am Ende ist Licht ein Sieger der Geschichte, der dramatischen Geschichte über zweieinviertel Stunden ohne Pause. Er richtet sich den künftigen Richterstuhl, er ordnet die Dinge auf dem Tisch neu. Ein Apfel fliegt in die Ecke, ein beziehungsvoller Apfel, denn dem Adam hat Kleist, wir wissen es alle, eine Eve zugeordnet.

Diese Eve (Andrea Cleven) hat wie alle Eves ihr größtes Problem darin, dass sie erst am Ende zu ihrem großen Auftritt kommt, wenn längst alles klar ist, die Spannung abgefallen. Holk Freytag hat den berühmten „Variant“ nicht gestrichen, er gibt seiner Eve die Gelegenheit, nach all den Kabinettstücken der anderen auch noch eines zu zeigen. Andrea Cleven macht das, in dem sie ihre Version des Tathergangs szenisch spricht, die Rolle des Richters übernehmend und ihre eigene, auch sie auf dem Podest mit dem Richtersitz, den der Schreiber zuletzt okkupiert. Eve enthüllt das böse Spiel, das der Richter mit ihr treiben wollte, hier kommt auch die kritische Substanz ihrer Rede zum Tragen, die immer noch keiner Aufhübschung bedarf, denn wo es um Interesse an und im Krieg geht, um das Verdienen daran und dabei, das hat die Regie souverän gesehen (anderes wäre freilich mehr als verwunderlich), ist „Aktualität“ inbegriffen. Dass Ruprecht Tümpel (Sebastien Jacobi), eben noch „Metze“ gebrüllt habend, nun seine Eve um Verzeihung bittend fast erdrückt, ist eine hübsche Pointe.

Stargast des Kleist-Abends im Festspielkalkül ist Nina Petri, die den Gerichtsrat Walter spielt. Sie leistet sich deutlich weniger Vertraulichkeiten mit dem Dorfrichter als etliche andere Gerichtsräte vor ihr. Sie stellt ihre Fragen mit lauter, durchdringender Stimme, hält auch räumlich Distanz zu ihm, verzichtet auf komische Momente. Dagegen dreht Marie Therese Futterknecht als Frau Marthe Rull, Eves Mutter, auf, als gelte es die Schauspielkunst neu zu erfinden. Alles an ihr ist Aktion, während sie redet, die Schultern beben, die Füße wippen, sie spricht mit den Händen, der Oberkörper pendelt, diese Einlassungen vor Gericht vergisst man nicht so schnell. Jede einzeln eingewickelte Scherbe des Krugs trägt Geschichte, Familiengeschichte wie Weltgeschichte. Vermutlich gibt es in der gesamten dramatischen Weltliteratur keine Erfindung wie diese, die dem Begriff ideeller Wert brachialere Anschaulichkeit verleiht. Diese Unbedingtheit der mütterlichen Rechtsauffassung zeigt natürlich auf Kleists Michael Kohlhaas und empfängt umgekehrt von ihm Tiefensubstanz.

Wenn die großen Monologe der diskontinuierlichen Gerichtsverhandlung gesprochen werden, hat Holk Freytag seine Darsteller ganz nach vorn an die Rampe beordert. In anderen Szenen stehen Dialogpartner an den Außenwänden der Ruine. Das gibt beispielsweise der Bedrohung, mit der der Dorfrichter Eve einschüchtern will, eine eigene Note. Von der Wand kommt freilich auch Eves energischer Protest. Steten Wirbel erzeugen während des gesamten Spiels die beiden Mägde Liese und Grete, gespielt von Laura und Lisa Quarg, die als Besengeschwader schon die ersten Lacher des Abends provozieren, als noch kein Wort gefallen ist. Sie sind dem Dorfrichter zu Diensten, sie besorgen den Imbiss für den Gerichtsrat und wo bei Kleist vor allem der Limburger Käse und der Niersteiner Wein benamst sind, rattern die beiden Mägde ein halbes Weinlexikon herunter und ein halbes Käse-Lexikon dazu. Der Käse vor allem aus Holland, die Weine bis nach Spanien zum Rioja reichend. Wer diesen „Zerbrochnen Krug“ sieht, weiß, was verloren ist, wenn die kleinen und die ganz kleinen Rollen gestrichen werden. Das betrifft auch Wilhelm Sandmann, der den Büttel und den Bedienten spielt, mal bekommt er eine Tür gegen die Nase, mal schaut er nur von außen kopfschüttelnd durchs Fenster, hinter dem es tatsächlich eine Weile schneit.

Krug-Kenner wissen, dass es noch eine Rolle gibt, in die sich alles legen lässt, was die eigene Kunst hergibt: die Frau Brigitte. Sie hat gelauscht, sie hat beobachtet, sie hat mit dem listigen Schreiber Spurensicherung und Spurensuche betrieben. Viola von der Burg ganz in Blau und mit Blindenbrille ist eine Perle von Brigitte. Zwischen allen, die glänzen wollen und dürfen, ist der Stephan Schad ein seltsam verharrender, ein bisweilen fast in sich gekehrter Dorfrichter. Er vertraut seinem Text (es gab eine für eine Premiere selten große Zahl von Versprechern bei fast allen Beteiligten), der, die Reaktion des Publikums zeigte es, alle Wirkungsmacht behalten hat in den reichlich zweihundert Jahren seit der Uraufführung in Weimar. Das bedeutete aber auch gezielten Verzicht auf zu viel Mimik, zu viel Gestik. Als habe die Inszenierungsidee darin bestanden, dem Dorfrichter so viel als eben möglich zu nehmen, um allen anderen zu geben. Selbst Bauer Veit Tümpel (Hans-Christian Seeger), der Vater des Ruprecht, kommt zum Zuge, der vielerorts oft nur einfach da ist, weil ihm die Regie den Ton abschneidet.

Als der sofort mit Bravo-Rufen durchsetzte Schlussbeifall einsetzte, verbeugten sich selten gewordene Massen von Kleindarstellern mit den Hauptmimen des Abends, das Programmheft nennt, wenn ich richtig gezählt habe, 19 Namen allein als „Volk“. Wohl jeder Bühne, die sich das bisweilen leistet, wenn sie es sich leisten kann. Fast zu bescheiden stand Holk Freytag am Rande. Für das Pferd im Hintergrund würde ich vielleicht kein ganzes Königreich hingeben wollen, der 65. Jahrgang der Bad Hersfelder Festspiele aber darf auf sommerlichen Zuspruch hoffen, denn auch die „Sommernachts-Träumereien“ heimsten hörbar begeisterten Beifall ein, als die drei Zugänge zum großen Innenraum noch nicht freigegeben waren.
www.bad-hersfelder-festspiele.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround