Kleist: Der zerbrochne Krug, Staatsschauspiel Dresden
Das kennt man: unten das Bein zerschürft, oben die Wunden am Kopf, zwei gleich und von Beginn an zu sehen. Dann dieser Schreiber Licht mit seinen Fragen. Der Kerl scheint alles sofort zu wissen und er hakt nach. Und der Wundenmann windet sich, er dreht sich und dem Gegenüber die Sätze im Munde herum, ein Wort führt zur Findung des nächsten, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ hat der Autor selbst einen Aufsatz genannt und alle Leser des Aufsatzes haben begierig nach ihm gegriffen, um ihre Deutung beliebiger Kleist-Werke auf eine autorisierte Basis zu stellen.
„Der zerbrochne Krug“ ist grandioses Theater, bis auf Goethe, möchte man spitzfindeln, haben das alle gemerkt. Aber ganz so einfach ist das doch nicht und war es noch weniger. Immerhin: Diese Komödie zu zerbrechen und in einen Scherbenhaufen zu verwandeln, wäre auf alle Fälle die größere Kunstleistung als sie leidlich auf eine Bühne zu stellen. Das Dresdner Staatsschauspiel, Regie Roger Vontobel (Jahrgang 1977), hat sich für die einfache Leistung entschieden, sie hat eine großartige Textvorgabe großartig in Theater verwandelt. Was an Ideen zu erkennen war, die nicht von Kleist stammten, ging auf und funktionierte. Die Besetzung der Rolle des Gerichtsrats Walter zum Beispiel mit einer Frau, mit Sonja Beißwenger. Bei Kleist müssen andere Hintern herhalten, vom Dorfrichter und seinem Schreiber beäugt zu werden. Hier ist es die Gerichtsrätin, die sicherheitshalber noch eine Visitenkarte vorzeigt.
Am Anfang gibt es Musik und Gesang, der Gesang in jener flämischen Mundart, die anzeigt, dass hier Huisum und Utrecht wörtlich gemeint werden. Es ist nicht die verfremdete „Abbildung“ preußischer Landrechtspraxis durch einen vermeintlichen preußischen Reformer, es ist heutig gesagt, Bühnenkino mit holländischer Location. Und das Kino hat noch mehr geliefert. Die gesamte Sippschaft, die da aufläuft, um vor dem Dorfrichter Adam den Rechtsfall „Der zerbrochne Krug“ zu inszenieren und juristisch behandeln zu lassen, sieht aus wie die Familie Flodder. Heute heißt dergleichen immer eilfertig Kultfilm, Kultserie. Mutter Flodder, bei Kleist hört sie auf den Namen Marthe Rull, hat die Überreste des Krugs in einer Plastiktüte, alle haben, wenn nicht Dreck am Stecken, dann wenigstens am Stiefel. Alle rauchen, sobald sich die Gelegenheit ergibt, alle machen sich, wenn es brenzlig wird, am liebsten sofort aus dem Staub.
Am Ende der Musik sieht man im Videoeinspiel den Krug stürzen und in Scherben zerfliegen, dann kommt der Dorfrichter Adam auf die Bühne. Er ist in langer Unterhose zweifelhaften Sauberkeitsstatus und sitzt reglos, während Schreiber Licht erscheint mit seiner Aktentasche, seinen Apfel und seine Thermoskanne auspackt und aufstellt. Am Kachelofen vorn links auf der Bühne (Magda Willi) sieht man die Ziege, geschnitzt oder Bronze, die angeblich die Kopfwunde verursachte, als der Richter stürzte des Morgens. Es geht alles zügig, die Geschichte mit der Katze, die in die Perücke jungte, ist gestrichen, auch am Ende gibt es Striche, die dem Theaterabend dienlich sind. Vor allem aber gibt es, trotz Burghart Klaußner in überragender Verfassung, eine beeindruckende Ensembleleistung. Die immer am deutlichsten wird, wenn man die Rollen betrachtet, die fast keine sind: Lars Jung als Bauer Veit Tümpel hat wenig Text, sein Part ist das, was der feingeistige Fußballkommentator das Spielen ohne Ball nennt. Annedore Bauer ist Frau Brigitte, die keine Zeit hat, eine Figur zu entwickeln, sie muss sofort da sein oder scheitert. Annedore Bauer ist sofort da.
Sebastian Wendelin macht einen Ruprecht zunächst wie den sechsten der sieben Zwerge und plötzlich geht er los wie Schmidts Katze, er hat alle Töne der Rolle und er sieht dennoch aus wie einer, den man normalerweise als Eve nicht nimmt. Im wirklichen Leben hat aber so eine Eve nicht die Wahl, ihr stehen nur die Ruprechte zur Verfügung und dann geht es immer alles ganz schnell. Sonja Beißwenger als Gerichtsrätin Walter war so schön verwundert, als sie realisierte, dass so eine Eve nicht lesen kann, also auf die allerdümmste, allerprimitivste Weise auszutricksen ist von so einem Dorfrichter Adam, der sein Mütchen kühlen wollte. Nach Frau Brigittes Kaltstart bleibt für Karina Plachetka als Eve der immer ins Undankbare tendierende Part, wo die Komödie ins Tragische changiert. Die Lacherstatistik weist es unbarmherzig nach, hier hat das Stück, hier hat fast jede Inszenierung das Pulver weitgehend verschossen, es schwingt nur noch aus.
Burghart Klaußner ist ein brillanter Dorfrichter. Ob er sich hinter dem Drehsessel die Strickjacke verknöpft und die Hose über die Unterhose zerrt, ob er dem Schreiber Licht den Apfel wegfrisst oder ob er Limburger Käse schnitzelt für den Imbiss mit der Gerichtsrätin, die cool wie James Bond den Niersteiner hinter sich schüttet, weil sie nüchtern bleiben will, während sie von Adam hofft, dass er dann doch die erahnte Katze aus dem Sack lässt, er ist genau der Dorfrichter, dem man zu verzeihen geneigt ist. Nur Ahmad Mesgarha hätte, will ich meinen, noch mehr auf die Tube drücken dürfen, es sei denn, ihm sollten von Dramaturgie und Regie die aktuellen Bezüge ins volle sächsische Heldenleben 2011/12 aufgebürdet werden, von dem das Programmheft leicht zeigefingrig fabuliert. Mir persönlich reicht „Der zerbrochne Krug“ als „Der zerbrochne Krug“. Mein Bedarf nach sächsischer Handy-Affaire wird hinreichend durch die verehrten Enthüllungskollegen mit Pressefreiheitshütchen auf dem Kopf gedeckt. Roger Vontobel freilich, der sollte in gewissen, nicht übertrieben großen Abständen, immer mal wieder nach Dresden gelockt werden. Es gibt schlechtere Pflaster für ihn.