Ödön von Horvath: Revolte auf der Côte 3018

Bergbahnen sind heutzutage in Gegenden, wo die Berge hoch, die herannahenden Menschen zahlreich, an Kondition jedoch mäßig sind, verbreitet wie Essigfliegen auf Ernteobst zu bestimmten Zeiten. Manchmal gibt es schön spektakuläre Unfälle, wenn ein Flugzeug die Drahtseile zersenst. Manchmal gibt es noch schönere Rettungsaktionen, wenn der Strom ausfiel und die Hubschrauber kommen, die längst keine Strickleitern mehr haben. Prima Interviews mit Pudelmützenträgern fallen an, die schildern, wie es kalt war und dunkel, ehe das Helikopterbrummen hörbar wurde und die orangefarbenen Helfer mit Thermoskannen winkten. Als die Bergbahnen gebaut wurden, die ältesten, gab es noch keine Horch- und Guckmedien, man war auf Zeitungen angewiesen, die dafür aber noch in Morgen-, Mittags- und Abendzeitungen zerfielen, während heute ein und dasselbe Blatt unter bis zu vierzehn  Namen erscheint, was man Synergieeffekt nennt.

Damals also, als beispielsweise die Zugspitzbahn gebaut wurde, war auch das Errichten von Bergbahnen noch kein Vorgang von der Stange. Es quälten sich Arbeiter, es gab miese Unfälle, die Ausbeutung war so, dass auch Blinde sie als solche erkennen konnten. Und es gab Ödön von Horvath, dem Todesfälle an der Zugspitzbahn den Stoff lieferten für sein erstes Bühnenstück. Er war beeindruckt, berichten seine Biographen, so beeindruckt, dass er gar in seinem Roman „Der ewige Spießer“ noch einmal darauf zurückkam. Was für Zeiten, als ein solches Zurückkommen noch ein Zeichen für Beeindrucktsein darstellte, heute wäre es bestenfalls Dokument medialer Steißtrommelei. Horvath nannte sein erstes Stück schon Volksstück wie etliche der späteren auch. Es ließ die Rollen allesamt Dialekt sprechen mit Ausnahme des Friseurs Max Schulz, der aus Stettin kommt, weil er gehört hat, es gebe Arbeit an der Bergbahn. Man ahnt, wie sehr es pressiert, wenn einer, der Friseur ist, von der Küste bis in die Berge geht, um ungelernte Arbeit zu übernehmen.

Man lebte in Baracken als Bergbahnarbeiter damals, Frauen Mangelware, soweit sie nicht kochten. Bei Horvath kocht Veronika und sie ist eben dabei, allerlei Schnitzel vorzubereiten, als der Friseur aufkreuzt. Dem läuft buchstäblich und im übertragenen Sinne das Wasser im Munde zusammen, wähnt er doch, das Bergbahnerbauerleben sei eines, bei dem man immer Fleisch essen könne. Veronika zieht ihm den Zahn, es hat sich ein hohes Tier angekündigt, das beköstigt werden muss. Doch auch Veronika läuft im übertragenden Sinn Wasser im Mund zusammen. Denn wie sie hört, der Fremde sei von da, wo Meer ist und kenne sogar Berlin, da fühlt sie sich, als sei sie ein neugeborenes Kalb. Ihr ist, als gäbe es zwischen den Friseuren und den Doktoren gar keinen nennenswerten Unterschied. Der Friseur muss nur wenig säuseln, ahnt man und schon ist sie hin.

Freilich haben in den Bergen, wo Frauen allein mit ihrem Seltenheitswert Schönheit ausstrahlen wie sonst nur die Madonnen der Täler, Alphamännchen den ersten Zugriff auf das vorhandene Weiberfleisch. Veronikas Arsch hat der Satan gebaut, wie der Arbeiter Karl freiweg formuliert, weshalb der Moser dem Schulz ordentlich auf die Zwölf haut, bis Blut fließt, denn er sieht diesen Arsch als sein spezielles Eigentum. Der Schulz hinwiederum neigt durchaus dazu, die gefährliche Gegend zu verlassen, zumal ihm bedeutet wird, mit Arbeit sei da nicht viel, aber er schafft den Abstieg nicht. So kreuzt er wieder auf, der Ingenieur stellt ihn tatsächlich an. Die Leser Horvaths erfahren, dass Friseure aus Stettin, die Berlin kennen, keinesfalls Anschwärzer sind. Schulz beschuldigt Moser nicht, was dem dann irgendwie, irgendwie ans Gewissen greift. Wie das der Moser formuliert, macht aus dem moralischen Abstraktbegriff Fassliches: „Daß i im Recht bin und daß es mir trotzdem is, als hätt i unrecht gtan – verstehst du des? Kann des a Mensch verstehn?“ Das nennt man Kunst, denn man muss es können.

Wie im ersten Weltkrieg die frisch zur Front gekarrten Rekruten mit ihrer Schnellausbildung, so ist Friseur Schulz aus Stettin am Berg bevorzugter Todeskandidat. Er stürzt schon ab, ehe er richtig zufassen konnte. Sein Tod ist der springende Punkt. Denn nun sind die Männer plötzlich in ihrer Substanz berührt. Sie zeigen diese Substanz bis zur Selbstgefährdung. Es ist für sie vollkommen selbstverständlich, den Abgestürzten zu bergen, ehe sie weiter arbeiten. Es ist für sie vollkommen selbstverständlich, den dann Toten zu den Baracken zu bringen und ihn nicht einfach liegen zu lassen für den Profit der Bauherren. Was sie nicht wissen: Auch der Ingenieur steht unter Maximaldruck. Ihm hat der Schnitzelesser mit Kündigung gedroht, wenn er nicht rücksichtslos gegen seine Leute die Termine hält. Der Ingenieur ist sogar sein Patent los, nach dem gebaut wird. So eskaliert die Situation. Es gibt Tote, mehr Tote. Der Aufsichtsrat sagt zum Ingenieur: „Der A. G. ist es völlig piepe, ob sie an Konserven, Spielwaren oder Bergbahnen verdient.“ Wir wissen, dass heute mit dieser Mentalität auch Zeitungen geführt werden.

Horvath hat seine Gestalten mit einer berührenden Poesie ausgestattet, die sich nur schwer zu passenden Bildern und Vergleichen findet, das bringt eine unaufgesetzte Authentizität mit sich. Da wankt dem Friseur das Panorama, als wären Himmel und Hölle besoffen, da klingt dem Arbeiter Maurer der Wind wie eine Opernsängerin. In diesen Kreisen wird auf geradezu naive Weise die Einheit von Wort und Tat verlangt als Kriterium von Glaubhaftigkeit und Überzeugungskraft. Der Agitator, der zwei Stunden von Proletariat und Klassenkampf redet, fällt durch, weil er anschließend vier Stunden mit dem Gendarmen kegelt. Der Gendarm ist Staatsmacht, ist „oben“, mit dem macht man sich nicht gemein. Man glaubt im Berg nicht an Gerechtigkeit, man hat arg rührende Vorstellungen von Aufsichtsräten mit Specknacken, die in Schaukelstühlen sitzen und Zigarren schmauchen. Aber man hat letztlich recht. Das ist das eigentlich Frappierende: man hat letztlich recht. Ob und wieviel Einfluss auf diesen Erstling die Herren Gerhart Hauptmann, Karl Schönherr und Max Halbe ausübten, mag ich nicht ergründen, auch der Prozentsatz an Rest-Expressionismus reizt mich nicht zur Erörterung. Horvath hat bald aus den vier Akten drei gemacht und alles „Die Bergbahn“ genannt. Das ist in der Berliner Volksbühne am Bülowplatz dann gut gelaufen, brachte dem Autor einen Vertrag mit Ullstein und ein Auskommen. Den Friseur spielte übrigens Wolfgang Staudte. Als Filmregisseur war er glaubhaften Zeugnissen zufolge deutlich besser.
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