Jack London: Der Mexikaner Felipe Rivera
Wer am Todestag Jack Londons über Jack London schreiben will, kommt um die Art seines Todes nicht herum. Wer sich nach Belegen dafür umschaut, dass das Internet der Tummelplatz für allerlei Geschreibsel ist, das die Unersetzbarkeit seriöser Quellen und Informationen in Selbstentlarvung untermauert, der lese den „Essay“ über die Ungenauigkeit von Biographen von Reinhard Wissorf mit dem Titel „Kein Selbstmord. Protokoll einer Diskussion“. Da entdeckt einer in Glen Ellen die Sterbeurkunde von Jack London und nennt sie ein seltsames Dokument. Da verwechselt einer Klappentexte und Kürzestauskünfte in unspezifischen Lexika mit Biographien und holt sich seine sonstigen Sachkenntnisse aus Internetforen der Art: „Hey, weiß einer, wie man Perserkatzenscheiße vom Perserteppich bekommt, ohne den Gestank zu verfälschen?“ Das Ergebnis lautet schließlich im Mail-Auszug eines Herrn Dingemann, der in Sachen Jack London nie vorher aufgefallen ist: „Ob es sich dabei um einen Selbstmord durch Vergiftung handelte oder nicht, ist bis heute umstritten.“ Der Autor des Netz-Elaborats ging vor seinem USA-Besuch davon aus, Jack London habe sich „die Kugel“ gegeben. Das hat nun freilich niemals jemand irgendwo behauptet. Zur Thematik Nierenversagen freilich informiert bereits die Biographie von Irving Stone hinreichend. Auch über das nur für vollkommen Ahnungslose seltsame Verhältnis von Phiolen und Spritzen.
In „Der Mexikaner Felipe Rivera“ geht es glücklicherweise um einen Boxer. Das hat den Vorteil, dass alle, die vom Boxen weniger halten als von Stierkampf und von diesem ohnehin schon nichts, sich wichtigeren Themen zuwenden können. Die kleine DDR, in der ich erlebte, was man Sozialisierung nennt, ohne dass es bei denen umstritten ist, die gern geblähtes Vokabular für einfache Tatbestände benutzen, hatte eine unverkennbare Vorliebe für diesen boxenden Achtzehnjährigen. Erst gab es ihn als Band 163 der ruhmreichen Insel-Bücherei, der insgesamt fünf Auflagen mit 62.000 Exemplaren erlebte in knapp zehn Jahren, gekoppelt mit der Stierkampf-Geschichte „Der Schrei des Pferdes“. Dann gab es ihn als Band 212 der kaum weniger ruhmreichen Reclams Universalbibliothek RUB in einer mir unbekannten Auflagenhöhe, gekoppelt mit der Geschichte „Wer schlug zuerst?“, in der auch ein Boxer vorkommt und dennoch keine Boxer-Geschichte ist. Der Verlag Tribüne Berlin publizierte in den fünfziger Jahren mehrere Bände Jack London, einer hieß „Der Ruhm des Kämpfers“, Untertitel „Von Boxern, Stierkämpfern und aufrichtigen Männern“, und enthielt ebenfalls den Mexikaner, dazu die beiden bereits genannten Geschichten und noch einige mehr. Man kam also nur schwer herum um Felipe Rivera.
Die Vermutung ist nahe liegend, dass diese und andere Geschichten im ersten Jahrzehnt des kalten Krieges als der antiamerikanischen Propaganda dienlich erschienen. Die sozialistische Eigenproduktion an spannenden und abenteuerlichen Geschichten stolperte noch in Kinderschuhen übers glatte Parkett, die noch offene Grenze ließ Reißer der billigsten Art einsickern, die wahlweise Groschenhefte hießen und tatsächlich solche waren. Während Jack London in dem erstaunlichen Ruf stand, ein proletarischer Dichter zu sein, der wie Gorki seine Universitäten im Leben gehabt hatte und dem Sozialismus die gesellschaftliche Zukunft zuordnete. Die Mär widerlegte schon Heinrich Rentmeister ziemlich gründlich in seinem Büchlein „Jack London. Ein Einzelgänger wider Willen“ (Halle 1962) und er hielt sich über die Details des Todes bedeckt, zitierte freilich Irving Stone, der als erster Biograph den London-Nachlass heranziehen durfte. Felipe Rivera gewinnt wider alle Wahrscheinlichkeit den Kampf gegen Danny Ward. Gegen ihn steht nicht nur der erfahrene und erfolgreiche weiße Boxer, gegen ihn stehen Ring- und Punktrichter, gegen ihn steht die Wettmafia, das Management und das Publikum sowieso. Felipa Rivera denkt an die Revolution, die ohne Geld für Waffen nicht möglich ist, und gewinnt den Kampf.
Geschrieben ist das nicht von einem, der sonst vom Eiskunstlaufen berichtet. Sondern von einem, der vom Boxen selbst viel versteht, das widerliche amerikanische Profi-Boxgeschäft seiner Zeit kennt und seiner Aufgabe auch sprachlich gewachsen ist. Man darf an die Boxsportleidenschaft eines Brecht erinnern und daran, dass unter ästhetischen Teetrinkern die Nasen gerümpft wurden, gar die Rede von einer Boxer-Zivilisation umging und kulturkritisch gemeint war. Manche Feinheiten des legalen Betrugs im Boxsport der London-Zeit verblüffen heute wie etwa die Dehnbarkeit des Auszählens. Für amerikanische Olympiasiege siebzig Jahre nach Jack Londons Tod sorgten immer noch oder gerade wieder vollkommen inkompetente Punktrichter am Ring, denen nach ihren Fehlurteilen, nicht etwa vorher, die Lizenz entzogen wurde. Nur die Hoffnung auf eine siegreiche Revolution ist von vorvorgestern in dieser Geschichte, sie war damals schon geschichtsblind. Denn selbst das, was tatsächlich geschah und bis heute gern Revolution genannt wird, war ja nur dann eine, wenn man wirklich alles ausblendet, was die Qualität Revolution eigentlich beinhaltet. Ein Theoretiker aber war Jack London nun wirklich nicht und selbst wohlwollende Marxisten konzedierten ihm nach seiner Lektüre des „Kommunistischen Manifests“ kaum mehr, als die Schluss-Losung verstanden zu haben. Liest man die Anwürfe, die London seinem Helden in „Wer schlug zuerst?“ gegen das amerikanische Rechtswesen in den Mund legt, dann ist man sprachlos über soviel rein moralisierende Plattheit.
Felipe Rivera meldet sich im Revolutionsbüro der „Junta“ - dies Wort war also nicht immer so rein negativ besetzt wie heute – und will der Revolution dienen. Man misstraut ihm und man lässt ihn die niedrigsten Dreckarbeiten ausführen. Die erledigt er widerspruchslos und sorgt bald dadurch für allgemeines Staunen, dass er offenbar in der Lage ist, Geld zu beschaffen, das die Revolutionäre so dringend brauchen, am Ende vor allem für Gewehre, denn sie wollen nun endlich die Revolution auslösen. Die kostete damals, man staune, nur fünftausend Dollar. Es fehlt beispielsweise Geld für Briefmarken, wenn das Revolutionsbüro Briefe verschicken will. Felipe Rivera regelt es. „Der Gedanke macht mich wahnsinnig, dass die Freiheit Mexikos mit ein paar tausend elenden Dollars stehen und fallen soll!“, sagt der Revolutionär Paulino Vera im Text. Solche Gedanken machen Linke bis heute wahnsinnig, weswegen revolutionäre Zellen gern erst einmal mit Banküberfällen beginnen, um das nötige elende Geld vorrätig zu haben, wenn es gebraucht wird. Felipe Rivera glaubt an seine Siegchance, auch ein Befürworter aus freilich eigenen Interessen und Jack London erzählt es so, das man ziemlich sicher ist, wer gewinnt. Denn er erzählt es als Geschichte der Motivation. Das war DDR-Lesern der fünfziger Jahre sehr vertraut, so war ihnen die Geschichte des Sieges der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg erzählt worden.
Der Mexikaner setzt früh im Kampf ein Zeichen, indem er den Favoriten zu Boden schickt. Eigentlich hasst er den Gringo-Sport Boxen. Aber er erkennt dessen Möglichkeiten: „Und er war nicht der erste unter den Menschensöhnen, der entdeckte, dass er in einer verächtlichen Beschäftigung Erfolg hatte.“ Danny Ward immerhin gesteht sich ein, dass sein Gegner boxen kann. Er ahnt von der großen Motivation natürlich nichts, auch nicht von dem Urhass, der Felipe bewegt, der einst seine beiden Eltern tot aus einem Leichenhaufen ziehen musste. Jack London war schlau genug, seine Geschichte offen enden zu lassen. Man ist sehr optimistisch, wenn man davon ausgeht, dass der Sieger wie ausgemacht die komplette Kampfbörse erhält und mit diesen Dollars die Lieferung Gewehre bezahlt werden. Die letzten Worte der Geschichte spielen Optimismus: „Dann aber entsann er sich, dass sie Gewehre bedeuteten. Die Gewehre waren sein. Die Revolution konnte beginnen.“ Von den Revolutionären im Junta-Büro hieß es anfangs: „Sie kannten ihr Mexiko. Einmal in Gang gebracht, nahm die Revolution von selber ihren Lauf.“ Es wäre die erste selbstlaufende Revolution geworden. Doch Autor Jack London, das verraten seine Biografen, sah den finalen Sieg des Sozialismus tatsächlich als einen historischen Selbstläufer in größerer Ferne, was ihm von Partei-Revolutionären übel genommen wurde.