Konstantin Simonow: Die Trennung

Kann man einem Autoren schonungslosen Realismus bescheinigen und selbst in fast jeder Zeile dabei weit weg von jeglichem Realismus sein? Man kann. Warum das ausgerechnet ein Mann tut, der sehr berühmt, aber völlig fachfremd ist, geht über mein Verständnis. Professor Dr. Moritz Mebel, Urologe, Gründer des ersten Nierentransplantationszentrums der DDR, Chefarzt, Hochschullehrer, hat sich 2009 im hohen Alter von 86 Jahren von wem auch immer dazu überreden lassen, des 30. Todestages von Konstantin Simonow zu gedenken, das ist mittlerweile auch schon wieder reichlich sechs Jahre her und ein Dokument der Peinlichkeit geworden, dank Internet leicht aufzufinden. Es hilft dabei wenig, ähnlich peinliche Dokumente von der anderen Seite des nicht mehr vorhandenen eisernen Vorhangs heranzuziehen, die ZEIT beispielsweise nahm 1979 den Tod Simonows zum Anlass, den Anschein zu erwecken, als hätte allenfalls ein frühes Gesicht des Anfängers einige literarische Bedeutung. Der SPIEGEL befragte 1974 Simonow zum Gerücht, Michail Scholochow habe „Der stille Don“ ganz oder teilweise abgeschrieben und zeigte, dass die Redaktion seit 1947 noch immer nicht mehr von Simonow kannte als „Tage und Nächte“. Wer seinerzeit Alfred Anderschs offenen Brief an Simonow las, dessen Antwort freilich eine eigene Erörterung wert wäre, weiß, wie ärmlich der westdeutsche Umgang mit dem bekennenden Kommunisten Simonow und aller nicht-dissidentischen Sowjetliteratur war und blieb.

Wer wirklich ein Bild des Krieges haben möchte, den die Russen den Großen Vaterländischen nennen, in dem sie das Drei- bis Vierfache an Menschenopfern brachten im Vergleich zu Deutschland, der hat in und bei Konstantin Simonow reichlich Quellen. Auch Romane können als Quellen gesehen und gelesen werden, dazu kommen bei ihm auch Tagebücher und diverse Formen mehr oder minder operativer Prosa. Er hat Texte für dokumentarische Filme verfasst, Interviews gegeben und es sich nie leicht gemacht. Er hat nie über oder neben seiner Zeit gestanden, deshalb finden sich bei ihm alle Fragwürdigkeiten, alle Widersprüchlichkeiten seiner Lebenswelt. Nur haben in unserem Land, da Ausstellungen über Wehrmachtsverbrechen in der Sowjetunion noch Jahrzehnte nach Kriegsende in übler und beschämender Weise attackiert wurden, Erörterungen vom hohen moralischen Ross wenig Berechtigung. Nach 1945 erzielte hier jene Literatur die größten Erfolge, die den deutschen Soldaten mehr als Opfer zeigte, das er natürlich auch war, der exemplarische Fall war Wolfgang Borchert. Und niemand fragte sich, wie es möglich war, dass dieser Borchert offenbar gar kein Problem damit hatte, vor seinem frühen Tod 1947 mit einem belasteten Regisseur der noch dampfenden Nazizeit zu kooperieren. Wir haben allen Grund, nicht den kleinsten Kiesel aus unserem Glashaus zu schleudern.

Zum 100. Geburtstag Simonows soll hier ein Blick in eine Novelle geworfen werden, die eine Facette in seinem Werk darstellt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist der 7. November 1941, der 32 Jahre alte Oberst Polynin wird aus dem Lazarett abgeholt, wo er nach einer Notlandung behandelt werden musste. Er war nur einige Tage dort, lernte in dieser Zeit eine ebenfalls 32 Jahre alte Schauspielerin kennen, die sich in ihn verliebt und das in einem Brief an ihn auch gesteht. Sie besuchte ihn im Lazarett, wann immer es ging und kam nur nicht, wenn sie mit ihrem Fronttheater andernorts im Einsatz war. Das Geschwader ist in Murmansk stationiert, bekämpft dort die Deutschen gemeinsam mit Engländern. Das ist ein durchaus unliterarischer, aber hoch interessanter Aspekt der Geschichte. Basis war das im Text genannte Gesetz Lend Lease Act, vom US-Kongress am 18. Februar 1941 verabschiedet, am 11. März in Kraft getreten. Es erlaubte die Lieferung von kriegswichtigem Material an Staaten, die für die Verteidigung der USA wichtig waren, also damals auch an die Sowjetunion. In Murmansk kämpften Briten offenbar sogar selbst mit und bildeten gleichzeitig die einheimischen Flieger an neuen Maschinen aus. Erläuterungen zu diesem historischen Hintergrund hätten der Ausgabe der Novelle in der einst viel gelesenen Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt gut getan.

Oberst Polynin hat sich seine Verletzung bei einer Notlandung auf Eis zugezogen, nur eine Sehnenzerrung im Bein. Dennoch wird ihm vorsorglich ein Platz vorn im Wagen zugewiesen, weil es da nicht so rüttelt. Man sieht, wie selbstverständlich solches Vorgehen war, die Novelle macht keinerlei Aufhebens davon. Der Gedanke an die sieben zum Teil Schwerstverwundeten in der Erzählung „Malyschka“ aber (siehe mein Text zu „Die Unterwasserbrücke“) setzt alles in ein anderes Licht. Überhaupt zeigt schon der Einstieg der Novelle eine Vielzahl von Bezügen zu den frühen Geschichten. Der Oberst bekommt eine Zeitung vom 4. November in die Hände, es ist wohl kaum zufällig jene „Krasnaja Swesda“, für die Simonow selbst arbeitete im Krieg, und liest dort von seiner Heldentat. Der Rammstoß gegen einen Deutschen, Notlösung aus Munitionsmangel aus Sicht der Fliegers, verwandelt sich in der Zeitung beinahe in die Findung eines Wundermittels gegen feindliche Flugzeuge. Man darf hier durchaus eine Portion journalistische Selbstkritik des Kriegskorrespondenten Simonow erkennen. Andererseits ist Polynin sich seiner Leistungen durchaus bewusst und empfindet seine Auszeichnung als „Held der Sowjetunion“ als fast schon überfällig. Was genau die ersten beiden Anläufe, ihm diesen Titel zu verleihen, verhinderte, spart die Novelle weitestgehend aus. Polynin war auch ein kritischer Offizier und wenn die Strafe nur der Entzug einer verdienten Auszeichnung war, dann war das schon fast keine Strafe mehr unter den bekannten Umständen eines rigiden Repressalien-Systems im Land Stalins.

Die Liebesgeschichte der Novelle ist auf sowjetische Weise fern von Erotik oder gar Sexualität und erinnert an jene kuriosen Plastiken gar nicht nur der Stalinzeit, da die Akte Turnhosen trugen. Bei einem gestandenen Offizier so hohen Dienstgrades in so jungen Jahren und einer Schauspielerin in gleichem Alter ist es fast rührend zu lesen, dass hier noch beinahe vor dem ersten Kuss von Hochzeit die Rede ist, da hatte sich die frühe Sowjetliteratur des ersten Jahrzehnts nach 1917 (Tretjakow etwa) wohl doch gar zu weit vorgewagt. Hier steht Simonow tief in russischer Tradition, wo es bei Gorki beispielsweise deftiger zugeht, ist es, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, fast immer in zweifelhaftem bürgerlichen Milieu oder in der untersten Unterschicht. Da baumelten schon mal Brüste, bei Simonow gibt es sie gar nicht erst. Doch ging es ihm auch gar nicht darum. Diese Liebesgeschichte, die fast keine ist, dafür eine wie die von Königskindern, die nicht zueinander kommen können, nur halt ohne Königskinder, scheitert an verinnerlichter Moral. Vor allem die Schauspielerin ist es, die sich selbst so hohe Hürden setzt, die sich selbst so strengen Maßstäben unterstellt, dass die Trennung die Konsequenz ist, eine Trennung vor jeder Vereinigung. Das berührt bei aller Unterkühltheit der Erzählung schließlich sogar. Liebe in Zeiten des Krieges im Sinne eines Musterverlaufes hat der Autor wohl nicht gestalten wollen.

Rührend ist, welch beinahe kindliche Reaktion der hochdekorierte Flieger zeigt mit Blick auf das Bühnengeschehen: „Während er den Vorgängen auf der Bühne folgte, brannte er darauf, dass sie dem Schweinehund, dem Etappenhengst, der da oben um sie herumschwarwenzelte, eine Abfuhr erteile.“ Wir lernen: Auch die Verachtung für Etappenhengste (immerhin Hengste und nicht Wallache) ist eine systemübergreifende Armeementalität. Auch anderes ist alles andere als sowjetisch oder gar kommunistisch: „Seine alte Mutter würde zwar nichts von der Heirat mit einer Schauspielerin wissen wollen, aber mit gut dreißig Jahren trägt man dem nicht mehr sonderlich Rechnung.“ Vorurteile gegen das „fahrende Volk“ sitzen in jeder Hinsicht tief: „Ist ihr Mann einer der Schauspieler, die mit ihr umherreisen und auf so freundschaftlichem Fuß miteinander verkehren, dass man nicht herausfindet, wer zu wem in welchen Beziehungen steht?“ Galina Petrowna war tatsächlich bereits zweimal verheiratet, erfährt der Leser, und nach der zweiten Ehe folgte das, was man bisweilen eheähnliche Beziehung nennen hört, immerhin hat sie keine Kinder. Aus dem Milieu dieser Beziehung gewinnt Simonow besondere soziale Porträts. Der Leser erfährt: Auch in der Sowjetunion halfen besondere Beziehungen, einem Sohn den Armeedienst ersparen.

Simonow erlaubt sich überraschende Perspektivenwechsel im Verlauf der Novelle, nicht nur der Partner Vitja als eine Art Paradebeispiel von Feigheit und damit Kontrastfigur zu Polynin rückt in den Vordergrund, auch sein Vater, der offenbar in einem frappierenden Wohlstand lebt, wozu vor allem eine große Wohnung gehört, in der Sowjetunion bis zu ihrem Ende ein fast nicht zu überschätzendes Privileg. Man hat eine Datsche in einer Zone, wo die Deutschen schon fast stehen und man klatscht über die anderen Datschenbewohner so urspießbürgerlich, dass man als Leser gar nicht merkt, hier ist von der angeblich ganz anderen Gesellschaft die Rede, der Zukunft der Menschheit gar. Hier gibt es üble Nachrede und Verdächtigung, es gibt Rückversicherungen für den Fall, dass die Deutschen eventuell doch siegen, Moskau einnehmen könnten. Eine spezielle Dokumentenmappe ist zur Vernichtung vorbereitet, darin ein Brief von Volkskommissar Lunatscharski als im Fall der Fälle besonders belastend. Der Vater rechnet andererseits auch wie selbstverständlich damit, dann von den Deutschen mit einer leitenden Aufgabe betreut zu werden. Man muss solchen Realismus nicht schonungslos nennen, weil ein schonender Realismus schon keiner mehr wäre, wenn man den Begriff nicht völlig entleeren möchte.

Polynin wird nach Moskau versetzt, für ihn insofern überraschend, als entsprechende Gesuche zunächst erfolglos waren. Seinen Freund und Stellvertreter aber muss er zurückzulassen, er wird sein Nachfolger als Kommandeur. Auch Galina geht nach Moskau, denn Vitja hat ihr einen Platz in einem neuen Theaterensemble angeboten. Und ausgerechnet die so zufällig sich parallelisierenden Lebenslinien laufen plötzlich auseinander. Galina Petrowna übernachtet bei Vitja, Polynin gibt den Brief für Vitja selbst ab, woraus Galina unbegründet die falschen Folgerungen über seinen Wissensstand zieht. Sie sieht sich nun bloßgestellt, sie findet sich selbst nicht würdig, die Frau dieses Helden der Sowjetunion zu werden. Der aber gar keinen Verdacht hat, der auch ziemlich sicher seine Heiratsabsichten nicht zurückgenommen hätte und nichts versteht. Bedenkt man, wie wenig da zwischen den zwei erwachsenen Menschen in diesem November 1941 stand und wie schicksalsschwer das Wenige zur Trennung führt, könnte man mit dem Kopf schütteln. Simonow wollte das durchaus tragische Geschehen in der Perspektive Galinas als zukunftsträchtig für sie ausweisen. Das anzunehmen, ist mir schwer gefallen. Galina darf sich auf eine Hauptrolle freuen, auch wenn sie zunächst nur als zweite Besetzung probt. Polynin nimmt direkt an der Verteidigung Moskaus teil. Ihr Weiterleben nach der Trennung bleibt außerhalb der Novelle.

Zu ihren bedauerlichen Auslassungen gehört ebenfalls etwas, was nur einmal ganz kurz gestreift wird: „Er glaubte nicht alles, was geschrieben stand, aber – ohne Feuer kein Rauch. Wenn er an das Jahr achtzehn in der Ukraine zurückdachte, zweifelte er kaum daran, dass die Deutschen, die jetzt im besetzten Gebiet alle Juden durch die Bank umbrachten, mit den übrigen auch nicht viel Federlesens machten“. Ist das Gleichgültigkeit, die einfach nur registriert wird, setzt der Erzähler darauf, dass jeder Leser sofort weiß, was da in der Ukraine 1918 mit wem geschah und von wem getan wurde? Jüngst gezeigte Dokumentarfilmaufnahmen sowjetischer Kameramänner aus dem Krieg haben belegt, dass das Wissen um die jüdischen Opfer der jüdischen Dimension beraubt wurde. So liest sich eine Novelle plötzlich in anderen Zusammenhängen. Sie bleibt trotzdem so etwas wie eine Tragödie der moralischen Selbstüberforderung. Galina verachtet sich selbst und will auf keinen Fall, dass alles wie früher weitergeht. Der Leser erfährt nicht einmal, was in der Kiste war, die Polynin ihr in die Wohnung trug. „Er war nur zwanzig Schritt von ihr entfernt, aber sie rief nicht, hielt ihn nicht auf.“ Der Preis für dies Reifen der Galina Petrowna, wenn es denn eines ist, ist ein sehr hoher Preis. Was die Novelle nicht ist: geeignet zur Stärkung der Truppenmoral, wie es das Romanwerk Simonows nach Auffassung von Peter Linke aus dem Jahr 2001 ist.

Er schrieb allen Ernstes im „Freitag“: „Simonows Wahrhaftigkeit erhebt sein Werk zu einem Erbe, auf das Russlands Streitkräfte heute bei ihrer Suche nach neuen Ufern weniger als je zuvor verzichten können.“ Linke zitiert einen Armeegeneral Machmut Garejew, der den toten Simonow zur Vorbereitung der Jugend auf den Dienst in den Streitkräften benutzen möchte. Zum 75. Geburtstag Simonows am 28. November 1990 schrieb Nyota Thun: „Ein Lebensbild Konstantin Simonows zu zeichnen ist noch verfrüht. Zu eng war sein Wirken als Schriftsteller und Kommunist mit der tragischen Geschichte des Sowjetlandes verknüpft.“ Das Interesse daran ist danach leider weitestgehend verloren gegangen. Und sieht man, wer sich in den Dienst des Andenkens an Simonow stellt, versteht man wenigstens kurzzeitig die West-Abstinenz. Und doch sollte man den nachfolgenden Satz unterschreiben können, auch wenn ihn Eberhard Aurich formulierte, der letzte oberste Blauhemd-Träger der DDR: „Es stünde uns Deutschen wahrlich gut zu Gesicht, wenn wir wieder einmal - auch aus Respekt vor den deutschen und sowjetischen Gefallenen - zu Simonows Büchern greifen, damit dieser Tiefpunkt der deutsch-russischen Geschichte niemals in Vergessenheit gerät.“ Gespräche über Sinzow und Serpilin aus der großen Trilogie „Die Lebenden und die Toten“ im elterlichen Wohnzimmer der sechziger Jahre gehören zu meinem Leben.


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