Wolfgang Hildesheimer: Begegnung im Balkan-Express

Man muss sich nur einen Augenblick in die Situation hineinversetzen: Ein Mann setzt sich zu einer Frau im Speisewagen eines Zuges und fragt: „Entschuldigen Sie, Sie sind doch sicherlich eine Spionin?“ Eine Anmache ist das nicht, wenn es eine wäre, dann eine frappierend originelle. Der Zug, von dem die Rede ist, ist der Orient-Express. „Murder on the Orient-Express“ hieß der 14. Kriminalroman von Agatha Christie, als er Anfang 1934 in England auf den Markt kam. Für die amerikanische Ausgabe musste der Titel in „Murder in the Calais Coach“ geändert werden, denn ein Roman von Graham Greene kam in den USA unter dem Titel „The Orient Express“ heraus, der im Vereinigten Königreich den Titel „Stambul Train“ trug. Auf diesem Umweg erkläre ich mir, warum das Hörspiel von Wolfgang Hildesheimer, das am 12. Februar 1953 im Nordwestdeutschen Rundfunk seine Ursendung hatte, „Begegnung im Balkan-Express“ heißt, obwohl im Text nie diese Bezeichnung benutzt wird. Dort ist es der Orient-Express, in dem der Mann mit dem sprechenden Namen Robert Guiscard die junge Dame kennen lernt, die sich von ihm lieber Liane nennen lassen möchte als einfach PN für PN 222/17, was offensichtlich ihre 007- Chiffre darstellt.

Man kennt den leidlich berühmten Witz, wo jemand in Tel Aviv an einer Wohnungstür klingelt, seinen Erkennungstext spricht und die Antwort erhält: „Ach, Sie wollen zu dem Spion, der wohnt eine Treppe tiefer.“ Liane kalkuliert wahrscheinlich richtig, als sie meint, dass ihr niemand glaubt, wenn sie sich selbst eine Spionin nennt und dann auch noch gleich verrät, für welchen Staat sie arbeitet. Es ist das fiktive Königreich Procegovina auf dem Balkan, Hildesheimer spielt hier mit den vertrauten Klischees von Operettenstaaten dieser Gegend, wobei er im Verlauf des Spiels Namen einführt, die allzu eindeutige Assoziationen verwischen sollen. Der Gag des Spiels aber kommt viel früher: Der erzählende Robert Guiscard stellt sich als Fälscher vor, als Kunstfälscher, als der gar, von dem die „Mona Lisa“ im Louvre stammt. Passend zum Balkan-Klischee, mit dem der Autor ohne Hemmung spielt, hält der Express auf freier Strecke plötzlich an, die Zugmannschaft teilt mit, dass es einen Lokomotiven-Schaden gegeben habe, von dem man nicht wisse, wie lange die Reparatur in Anspruch nehmen würde. Man schildert die riesige Entfernung zu den nächsten Haltestellen und macht klar, dass Bargeld die Zugmaschine wunderbar rasch wieder in Gang bringt.

Auch Robert Guiscard fackelt nicht lange, enttarnt sich vor dieser Liane, in deren Abteil er erst die Nacht verbrachte und dann im Pyjama erneut landete, als sein Waggon abgehängt war, mit dem er nach Paris, aber eben keinesfalls auf den Balkan wollte, wo er nun wider Willen und nur unvollständig bekleidet und ausgestattet landet. Zunächst einmal gehen beide ihrer Wege, sie geht spionieren, er betätigt sich als Straßenpflastermaler. „Ja, ich habe mehrere Male in meinem Leben bescheiden angefangen, ich, der ich die Mona Lisa im Pariser Louvre gefälscht habe.“ Er hat seinen eigenen Stolz und keine falschen Anwandlungen von Gewissen: „Ich muss Ihnen sogar sagen, dass ich diese Dekadenerscheinungen, die nach wenigen Jahren nur noch Namen in einem alten Katalog sind, herzlich verachte.“ Sein Fälscher-Ehrgeiz und -erfolg ist groß, er widmet sich den ganz großen Namen und erst an einem Holbein scheitert er beinahe, aber das kommt später. Zunächst trifft er Liane wieder, nachdem er schon eine alte Dame beeindruckte, weil er dem Klischee des Malers auf dem Pflaster nicht entsprach. Liane hatte ihm schon frühzeitig im Zug verraten: „Wissen Sie, der Wunschtraum einer Spionin ist, im Krieg für zwei einander verfeindete Großmächte zu arbeiten.“

Robert Guiscard, der sich allen Ernstes als Nachfahr jenes berühmten Normannen ausgibt, den auch ein gewisser Heinrich von Kleist zum Gegenstand eines ehrgeizigen (und gescheiterten) Dramen-Projektes machte, ist ein Mann mit Geschäftsideen. Denn künstlerischen Ehrgeiz im herkömmlichen Sinn ist ihm aus dem einfach Grunde versagt, weil Erfolg bei ihm nicht mit seinem Namen, sondern mit seiner Anonymität unmittelbar verbunden ist. Andere, berühmte Namen, die freilich, die können ihn zum Ziel führen. Und so wird die wilde Idee geboren, dem Königreich Procegovina einen Nationalmaler zu schaffen, den es nie gab, dessen bis dato vollkommen unbekanntes Gesamtwerk frisch gefälscht werden muss. Dass ihm auch eine Biografie zugedichtet werden muss, versteht sich und das übernimmt der Kultusminister des chronisch klammen Kleinstaates gleich selbst. „Ajax Mazyrka sollte er heißen. Ich hatte ursprünglich einen deutschen Kunsthistoriker haben wollen, denn sie sind nicht nur die sachverständigsten, sondern auch die gründlichsten.“ Das Geschäft funktioniert, Amerikaner kaufen zuerst die neu entdeckten Bilder des falschen Nationalmalers, Europäer folgen gläubig, die Nachkriegsüblichkeiten des Westens hat Hildesheimer eingearbeitet.

Die Staatskasse füllt sich, der falsche Maler landet sogar in den einschlägigen Kunstgeschichten, es ist ihm eine folgenschwere Begegnung mit El Greco zugeschrieben worden. „Der Hörer hat inzwischen wohl erraten, dass ich vielleicht nicht gerade unter diese Persönlichkeiten zu rechnen bin, die, vom ethischen Standpunkt aus gesehen, auf einsamer Höhe oder auch nur auf einem Hügel stehen. Wir sind alle menschlich.“ Sagt der Erzähler später von sich. Als er versucht, seinen staatlichen Auftraggebern mehr Geld zu entlocken, die ihn bis dahin schon gut alimentieren, nimmt er sein Scheitern zwar ohne Protest hin, wendet sich nun aber einer Nebenbeschäftigung zu, die nur ihm allein Einnahmen bringen soll. Er fälscht Holbein-Zeichnungen, „da Holbein-Zeichnungen kaum zu zählen sind, kommt es ja glücklicherweise auf ein paar mehr nicht an.“ Er kennt sich aus. Und schafft sich einen ganzen Hof von Heinrich dem Achten neu. Da taucht plötzlich ein Mister Lionel Roderick Pratt in Procegovina auf, der ein angebliches Holbein-Porträt einer gewissen Lady Viola Pratt als Fälschung erkannt haben will, weil er selbst ein Holbein-Porträt dieser Dame besitzt, die seine Vorfahrin war und darauf sieht die Dame ganz anders aus. Der Mann ist ein Erpresser.

Er will Guiscard nicht etwa das Handwerk legen oder ihn gar ins Gefängnis bringen, er will profitieren, er will der Kunsthändler werden, der die Fälschungen seines Erpressungsopfers verkauft. In herkömmlichen Krimis würde nun ein hervorragendes Mordmotiv vorliegen. Der Mörder will aber gar keiner werden, er hat eine viel bessere Idee. Ihm hängen die Mazyrka-Werke längst zum Halse heraus, er nutzt die Gunst der Stunde, um, natürlich gemeinsam mit Lebensgefährtin Liane, Procegovina zu verlassen. Das aber geht am besten mit genau jenem Zug und jener Zugbesatzung, die den Lokomotiventrick vollführten. Guiscard setzt auf deren Bestechlichkeit und es klappt bestens, diesmal knausert er auch nicht mit einer Zulage und schon ist der zum Toilettengang aufgebrochene Pratt mit seinem Waggon abgehängt, denn das willfährige Personal hatte auf Sonderwunsch des Erpressten beide Wagentoiletten verschlossen. Pratt landet im anderen Wagen bei einer deutschen Fußballmannschaft und hat wenige Alternativen. Denn, wie der Schaffner sagt: die mohammedanischen Hirten der Gegend mögen Fremde überhaupt nicht. Die abenteuerlichste Episode im Fälscherleben ist damit geschildert, sagt der Erzähler den Radiohörern.

Man kann, das soll hier nicht verheimlicht werden, auch einen ganzen Roman mit diesem Stoff, diesen Personen und dieser wilden Fabel lesen von Wolfgang Hildesheimer, der Titel: „Paradies der falschen Vögel“. Einstweilen aber soll das Hörspiel genügen. „Spionin ist kein schlechter Beruf. Bedenken Sie: welche Berufe stehen denn heute einer Frau offen?“ sagt Liane. Der Erpresser Pratt: „Ich habe noch nie einen Beruf gehabt. Aber Sie wissen ja, wie es heute um uns alte englische Familien steht.“ Der Erzähler, der offensichtlich eine eigene Staatstheorie vertritt, wie das Wörtchen schon zweifelsfrei verrät: „Nationalgerichte, Nationalhelden. Ja, das ist schon ein richtiger Staat.“ Wolfgang Hildesheimers nächstes 1953 gesendetes Hörspiel heißt „Das Ende einer Welt“. Am 4. Dezember meines Geburtsjahres konnte man es erstmals hören. Eine Fälschung spielt auch dort eine Rolle und die Hildesheimer-Kenner wissen natürlich, dass das Spiel auf einer Geschichte aus den „Lieblosen Legenden“ von 1952 fußt. Das aber wäre schon wieder eine neue Geschichte. Vielleicht wird sie zum 100. Geburtstag von Hildesheimer am 9. Dezember 2016 erzählt, vielleicht auch nicht. „...ich habe seitdem noch viel gefälscht. Ich werde nicht verraten, was es ist, denn ich möchte nicht das Wesen der Kunstbetrachtung untergraben.“ Das hat Guiscard offenbar zutiefst verstanden.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround