Jack London: An der weißen Grenze
Noch immer fehlt mir das Verständnis, warum „A Daughter of the Snows“ ausgerechnet den deutschen Titel „An der weißen Grenze“ erhielt, immerhin gibt es von London fast komplementär den Titel „A Son of the Sun“ und der heißt entweder „Der Sohn der Sonne“ oder „Ein Sohn der Sonne“. Mir fehlt ebenso das Verständnis, warum die komplette London-Biografik gerade diesen, seinen ersten Roman so weitgehend ignoriert, ihn nicht selten kaum nennt und nie den Eindruck erweckt, sie hätte sich auch nur ansatzweise gründlich mit ihm befasst. Selbst dort, wo die raren Bemerkungen zum Buch Ansätze von Substanz zeigen, macht keine der Stimmen den Schluss unabweislich, dass die Aussagen auf eigener Lektüre beruhen. Oder wäre sonst einfach unerwähnt geblieben, dass London in diesem Roman um die zwanzigjährige Frona Welse eine Inszenierung von Henrik Ibsens „Nora“ recht ausführlich beschreibt, wie sie wohl damals, der Roman erschien Ende Oktober 1902, im höchsten Norden Alaskas mehr als selten gewesen sein dürfte. Die deutsche Erstaufführung mit Ibsens Original-Schluss gab es am 3. März 1880 am Münchner Residenztheater. Erste Aufführungen in den USA sind für den 2. Juni 1882 in Milwaukee, Wisconsin, und für den 7. Dezember 1883 in Louisville, Kentucky belegt, Hochburgen der Welt-Theaterentwicklung waren beide Spielorte wohl nie. Bei London aber ist „Nora“ schon Laienspieler-Repertoire.
Überall liest man, dass der Verleger McClure mit dem Manuskript so unzufrieden war, dass er den Druck ablehnte und dann sogar die Vorauszahlungen einstellte. Fast überall liest man, dass Jack London selbst mit dem Manuskript unzufrieden war, er merkte es beim Lesen der Korrekturbögen, manchmal merkte er es eher. McClure hat in der Biografik keinen Vornamen und auch sonst kein Leben. Es handelt sich um Samuel Sidney McClure, der auch das Magazin „McClures“ herausgab und immerhin von 1857 bis 1949 lebte, seinen Autoren also um 33 Jahre überlebte, obwohl er 19 Jahre älter als London war. McClure hatte sich nach dem Erfolg von „Der Sohn des Wolfes“ direkt an London gewandt, um Geschichten für sein Magazin zu generieren, der Markt für Short Stories war damals nahezu unersättlich in den Staaten, auch Romane hatten als Fortsetzungsromane Erfolg und allenfalls später in gebundener Form, Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Das Manuskript landete immerhin in keinem Papierkorb, durch die Vorauszahlungen hatte es McClure de facto gekauft, musste also sehen, dass er wenigstens nicht auf seinen Kosten sitzen blieb. Und er fand den Verleger Lippincott in Philadelphia, der den Roman herausbrachte, für seinen Verfasser blieben nach Verrechnung und übereinstimmenden Angaben 165 Dollar. Nur Jack Londons zweite Frau Charmian bezeugt eine spätere, freundlichere Sicht ihres Mannes auf den Debüt-Roman.
Diese Passage aber scheint die London-Biografik überlesen zu haben oder sie passte ihr nicht ins Bild. Nach Charmian London sah Jack London die Sache so: „AN DER WEISSEN GRENZE wurde sehr verschieden beurteilt, aber kein Kritiker hielt davon so wenig wie der Autor selber. In späteren Jahren meinte Jack, als er diesen seinen ersten langen Roman durchsah: Er ist im Grunde gar nicht schlecht. Ich glaube wirklich, für einen Anfänger ist er ziemlich gut. Großer Gott, ich habe einen Stoff darin vergeudet, der für ein Dutzend Romane ausgereicht hätte.“ In späteren Jahren kaufte London sogar Ideen, zum Beispiel bei Sinclair Lewis (7. Februar 1885 – 10. Januar 1951), 1930 erster Literatur-Nobelpreisträger der USA. Zu dem Zeitpunkt hätte er vermutlich tatsächlich ein Dutzend Romane aus dem Stoff gesaugt, 1902 aber ging es primär um den Längentest. Und um das weitere Nutzbarmachen der Klondike-Erfahrungen, die bisher nicht weniger als drei Erzählbande gefüllt hatten und irgendwann drohten, sich zu erschöpfen. Er ist, London sagt das vollkommen richtig, nicht schlecht. Und er ist für einen Anfänger, auch das sagt London vollkommen richtig, sogar recht gut. Hätte die Biografik das Buch gelesen, wäre ihr zum Beispiel aufgefallen, dass es hinten mitten in diesem scheinbar reinen Abenteuer-Reißer eine Konfliktlage gibt, die, das ist kein Witz, an Heinrich von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ gemahnt.
Da im Text auch Anatole France ein kleine Rolle spielt, kann für den Roman eine immerhin verblüffende intertextuelle Schicht konstatiert werden, die gegen jedes einfache Verwerfen spricht, auch mit dem platten Argument der Stimme des Verfassers selbst. Kam je jemand auf die Idee, Goethes „Werther“ nur deshalb allgemeiner Geringschätzung auszuliefern, weil schon der noch junge Goethe von seinem Jugendwerk nicht mehr viel wissen wollte? Dass Jack London kein Goethe war, besagt dabei nichts. Er führt in seinem Roman einen mörderischen Moral-Kodex des Hohen Nordens vor, dem er in nicht geringen Teilen sogar selbst verfallen war, aber er führte ihn so vor, dass man ihn problemlos auch verachten kann. Dieser Kodex ist ein Männer-Kodex in einer Männerwelt, in der Frauen entweder gar nicht vorkommen oder als Vertreterinnen der Halbwelt. Auch Frona Welse wird verdächtigt, ein Mädchen des Tingeltangel zu sein, andere kämen nicht nach Dawson oder Dyea. Dann aber sagt Gregory dies: „Ich habe mich so gefürchtet, dass ich das Ganze für einen grässlichen Traum hielt. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich dachte, meine Haare werden weiß. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich nicht einmal heulen konnte vor Furcht. Ich bin beinahe gestorben vor Furcht. Was fällt euch denn ein? Was wollt ihr von mir? Könnt ihr von einem Menschen verlangen, dass er ein Held ist? Ich bin kein Held. Und das ist mein ganzes Verbrechen.“
Tatsächlich will ein der Lynchjustiz sehr nahes Gericht Gregory St. Vincent ohne schlüssigen Beweis, nur wegen einiger auch anders zu deutender Zeugenaussagen und gegen die ausdrücklichen Beteuerungen des Angeklagten dem Galgen überantworten. Heute rät sogar die Polizei vor jeder Zivilcourage ab, die das Leben des Couragierten akut gefährdet. Damals aber, unter den Männern des Nordens in ihren frauenlosen Welt, wo Autorität mehr galt als Recht, wo Autorität Recht war, der Vater von Frona Welse verkörperte selbst als reichster Mann weit und breit mit größter Selbstverständlichkeit, mit amerikanischer Selbstverständlichkeit, möchte man heute sagen, genau diese Autorität und damit dieses Recht des Stärkeren. Gregory hatte, wie er fast zu spät verrät, just jene fürchterliche Todesangst, wie sie bei Kleist der Prinz angesichts der ausgehobenen Grube empfand, dabei jeden Standeskodex vergessend, sich fast bis zum heulenden Elend vergehend und um Leben bettelnd. Dagegen ist der feige Gregory sogar bereit, sich unschuldig hängen zu lassen, um eben gerade vor Frona nicht als feige dazustehen. Vom Gericht schreibt London immerhin: „zudem war ihnen klar, dass auf ein Versagen der Nerven, selbst auf die erbärmlichste Feigheit, nach keinem menschlichen Gesetz der Tod steht.“ Das kann auch gelesen werden als: Das Gesetz des Nordens ist kein menschliches Gesetz. Was London sicher zu weit gegangen wäre.
Der sich durch die Biografik, soweit der Roman nicht komplett ignoriert wird, durchziehende Vorwurf ist der, dass Frona Welse, das 20 Jahre alte Mädchen, das nach drei Jahren Studium in den Staaten zurück in ihre Heimat, zurück zu ihrem Vater im Norden kommt, kein Wesen von Fleisch und Blut sei, eine Kunstfigur, von London erschaffen nach seinem speziellen und speziell fragwürdigen eigenen Frauenbild. Auch Schiller hat man vorgeworfen, er könne keine Frauen gestalten, was dem Nachleben seiner Dramen nie wirklich schadete. Im Gegenteil, jede Darstellerin der Amalie in „Die Räuber“ versucht mit all ihrem Talent, all ihrer Kunst der Kunstfigur Leben einzuhauchen. Frona Welse ist vor allem erst einmal eine ungewöhnlich starke junge Frau, sie beeindruckt mit ihren wie selbstverständlich nur Männern zugetrauten Fähigkeiten alle und jeden. Sie trotzt Gefahren, die Männer verzweifeln oder scheitern lassen, sie bewältigt Situationen, die Männer ratlos lassen oder verzagt. Das also hielt Jack London mindestens für wünschenswert, sehr wahrscheinlich auch für denkbar. Er selbst, das ist vielfach bezeugt, wünschte sich eine Frau, die neben allem anderen vor allem auch Kameradin sein sollte, Mittäterin seines Tuns, Mitgenießerin seiner Genüsse. Der Kritiker Julian Hawthorne nannte Frona 1903 „ein Monstrum, ein Ding wider die Natur, wie jenes vom Philosophen Frankenstein konstruierte Phänomen.“
Und Biograf Andrew Sinclair assistiert so: „Sie sollte Jacks vollendete biologische und intellektuelle Gefährtin darstellen, imstande, Spencer zu zitieren und bei einer Temperatur von 56 Grad unter Null 30 Kilometer weit den Eskimohunden zu folgen; ihre Motive jedoch waren so unwahrscheinlich wie ihre Fähigkeiten.“ Nun gibt es gerade in den USA geradezu massenhaft Kunsthelden und -heldinnen mit vollkommen unwahrscheinlichen Fähigkeiten und dennoch werden Bücher, Comics und Verfilmungen zu dem, was man Blockbuster nennt, nach Wahrscheinlichkeit fragt niemand. Warum sollte das also ausgerechnet bei einem tatsächlich wenig typischen Mädchen der US-amerikanischen Jahrhundertwende um 1900 zum Kernkriterium ihres literarischen Wertes werden? Gewichtigere Einwände gegen das Buch wären die formulierte Zivilisationsfeindlichkeit, das unangenehm bis penetrante Hantieren mit dem Rasse-Begriff. Da Jack London, als er von seiner Europa-Reise 1902 zurück nach New York kam, seinen Roman gedruckt vorfand, sein Manuskript „Menschen der Tiefe“ aber noch nicht, das binnen sieben Wochen in London entstanden war, darf man folgern, dass die Vorwürfe gegen die Zivilisation als solche der Londoner Erfahrungen nicht bedurft hätten. Frona stellt nach den drei Jahren Abwesenheit über ihre Heimat und ihre Menschen fest: „Wie ein scheußlicher Brand war die Zivilisation über dieses Volk hinweggegangen.“
Jack London legt seiner Frona Welse Maximen für Männer und Männlichkeit in den Mund, die bisweilen ans Unmenschliche grenzen, weil sie Hürden für männliches Selbstbewusstsein bauen, die männliches Selbstbewusstsein wohl instinktiv abwehren will. Vielleicht hat die pauschale Ablehnung des Debüts ja mehr mit verletzter Männlichkeit der Kritiker als mit unwahrscheinlicher Unweiblichkeit der Heldin zu tun. Ist es undenkbar, dass sich eine in sehr bestimmter Weise sozialisierte Frau tatsächlich körperlich ekelt vor einem Mann, den sie nicht einem fremden, sondern ihrem eigenen verinnerlichten Männerbild nach für einen widerlichen Feigling hält? Gregory äußert fast am Ende des Romans die stille Hoffnung aller Schöngeister, die wenigstens teilweise Minderwertigkeit empfinden angesichts von Muskelpaketen auf zwei Beinen, von Waschbrettbäuchen mit Sonnenstudiobräune: „Vielleicht wirst du einmal lesen und lernen, dass du einen Menschen von dir gestoßen hast, der mehr wert ist als all deine Eisenfresser.“ Jack London hielt sich selbst sehr wahrscheinlich für die ideale Kombination beider Extreme, sein Problem war eher die wohl nie ganz frei vor sich selbst eingestandene Neigung zu beiden Geschlechtern. Frona Welse plädiert sehr energisch dafür, dass es Freundschaft zwischen Männern und Frauen geben könne. Hier hört man natürlich Londons Debatten mit Anna Strunsky mit- und nachklingen.
Kritik am Bau des Romans ist berechtigt. Dass er keine literarisch ganz starke Leistung ist, merkt man bald, er zerflattert ein wenig, es tauchen zu viele Figuren für die relativ wenigen Seiten auf und die weibliche Heldin gerät phasenweise zu stark aus dem Blickfeld. Die Arbeitsweise des Verfassers erlaubte, das ist nie wirklich besser geworden, so gut wie nie reines, konzentriertes Schreiben. Je kürzer der anvisierte Text, um so leichter die Übersicht über die Fäden des Geschehens, über die Balance des Ensembles. Überraschende und unmotivierte Perspektivwechsel gibt es auch in anderen Werken Londons und sie waren mit Sicherheit nicht Ausfluss eines sich selbst unsicher werdenden Schreibens wie in der europäischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, sie waren tatsächlich Anfängerschwächen. Schon zu Beginn ist Frona Welse eingeordnet: „Sie war zu den komplizierten Lebensbedingungen der großen Welt, zu ihrem Schmutz und zu ihrer verderblichen Hitze gewandert und war einfach, rein und gesund wiedergekehrt.“ Noch hat sie kaum etwas getan, aber ihr Tun ist bereits gedeutet. Sie bewundert die Männer, die über den Pass wollen: „Der ewige Wille zum Sieg dieser Menschen durchbebte sie.“ Und ihr Vater bewundert sie: „Jacob Welses Augen leuchteten auf: das war seine Tochter! Auf allen Schulen und Hochschulen drüben in der Zivilisation war sie eine Welse geblieben, die Lust an der Gefahr hatte und mit den Eisschollen kämpfte.“
Der zweite Mann, der für Frona Welse sehr wichtig wird, den Vater ausgeklammert, ist Vance Corliss. Und den lässt Jack London sagen: „Ich kann verstehen, dass alle siegreichen Rassen aus dem Norden gekommen sind, um zu herrschen. Stark im Wagen, stark im Dulden mit unendlichem Glauben und unendlichem Mut ausgerüstet, mussten sie sich die Welt unterwerfen.“ Und er sieht in Frona die Vertreterin dieser Rasse: „Wie ein Genius der nordischen Rasse erschien sie ihm; bei ihrem Anblick standen längst vergangene Generationen in seiner Seele auf.“ Das ist starker Toback und zeigt zugleich, wie dünn für alle das Eis ist, die Jack London gern zu einem Dichter der Arbeiterklasse machen wollen, gar zu einem, der ständig mit einem zerlesenen Exemplar des „Kommunistischen Manifests“ in der Jackentasche unterwegs war. Jack London verklärt geradezu die Kunst des Goldsuchens in diesem Roman, es lässt den alten Welse sich wünschen, Frona wäre ein Sohn geworden, wie er selbst sich wünschte, Tochter Joan wäre ein Sohn geworden. „Ich will kein Heldenweib sein. Ich will nie wieder versuchen, etwas anderes zu sein als eine Frau, wie alle Frauen sind.“ Das ist einer der letzten Sätze im Buch, die Frona Welse sagen darf. Und doch hat Thomas Ayck unrecht, wenn er behauptet: „Der Roman misslang dem Autor, denn die Hauptfigur ist lediglich Sprachrohr für soziologische und politische Fakten...“. Frona Welse ist deutlich mehr.
Robert Barltrop behauptete, „An der weißen Grenze“ sei „lediglich für Studenten interessant, die das Thema Jack London bearbeiten. Diese Bücher und noch einige andere wurden nur für den Publikumsgeschmack geschrieben, leben allein vom Namen des Autors und beanspruchen nicht, von bleibendem Wert zu sein.“ Irving Stone wollte die Perspektive betonen: „Im übrigen aber waren die Kritiken nachsichtig, sprachen begeistert von seinem kräftigen, klar umreißenden Stil und prophezeiten, dass sein zweiter Roman besser sein werde.“ Die DDR-Biographen Heinrich Rentmeister und Rolf Recknagel haben sich um das Roman-Debüt gedrückt, es nur erwähnt ohne die geringste Erklärung dazu. Vom alten Welse in seinen jungen Jahren schreibt Jack London: „Hier fand er den richtigen Abstand zu den Dingen und erkannte, dass die Phänomene der Gesellschaft dieselben sind wie die der Natur.“ Auf dieser Ebene bewegen sich der Erkenntnisse des Autodidakten London, sobald er sich überhaupt um solche bemüht und man kann in „Martin Eden“ nachlesen, wie schon eine Volksbibliothek als körperliche Erscheinungsweise von Weltwissen den Zwanzigjährigen zu maßlosem Staunen brachte. „Sie war die Genossin und Gefährtin, die Jack auf dem Weg zum Klondike nicht getroffen hatte.“ Resümiert Andrew Sinclair. Jack London, der auch von sich selbst zu viel forderte, soll gerade von Frauen zu wenig gefordert haben? Warum denn?