Eugéne Ionesco: Die Unterrichtsstunde
Man stelle sich vor: ein Theaterkritiker, später einer der bekanntesten und wohl auch einflussreichsten der alten Bundesrepublik, hat fünf Jahre lang gewartet auf einen richtig schönen Theaterskandal. Als der dann endlich kommt, ist der Kritiker gerade auf Reisen, er verpasst ihn. Und es war nicht irgendein Skandal, der sich da ereignete, es war der größte seit mehr als zwanzig Jahren. Noch sein Fotograf, offenbar ebenso skandalspitz wie der Vertreter der schreibenden Zunft, verließ in der Pause den Theaterabend mit dem Ergebnis, dass es nicht ein einziges Foto gibt vom herrlichen Geschehen zwischen Bühne und Parkett. Das führt zu dem außergewöhnlichen Umstand, dass der Kritiker, als er später die erste Sammlung seiner Kritiken zu einem Buch zusammenfasste, im speziellen Skandalfalle auf den Text eines Kollegen zurückgreifen musste, der nicht auf Reisen gewesen war und nun im Buch gewissermaßen einen Gastauftritt absolvieren darf. Wer die Titel über Texten zu lesen gewohnt ist, weiß schon, wovon nur die Rede sein kann: von Eugéne Ionesco. Sein Stück „Die Unterrichtsstunde“ lief vor der Pause, sein Stück „Opfer der Pflicht“ nach der Pause. Der Kritiker hieß Georg Hensel, der Fotograf Pit Ludwig und der Ersatzmann im Parkett?
Der hieß Ulrich Seelmann-Eggebert (5. Juni 1919 – 21. Dezember 1991). Georg Hensel (13. Juli 1923 – 17. Mai 1996) brachte es beim „Darmstädter Echo“ bis zum Feuilleton-Chef und wechselte 1975 zur „F.A.Z.“. Er ist Autor unzähliger Theaterkritiken, auch anderer feuilletonistischer Texte und nicht zuletzt des voluminösen Nachschlage-Standardwerkes „Spielplan“. Dass er seine Skandalgier im Vorwort seiner Sammlung „Kritiken. Ein Jahrzehnt Sellner-Theater in Darmstadt“ so unumwunden einräumte, muss man ihm nicht einmal besonders hoch anrechnen: immerhin wird der einzige authentische Bericht vom Skandal der Uraufführung der Schillerschen „Räuber“ noch mehr als zweihundert Jahre später gern zitiert. Der Ärger über den verpassten Moment war wohl sogar so groß, dass Hensel das falsche Datum gar nicht bemerkte, den er für den Skandal im Vorwort angab: 5. Mai 1955. Das Buch selbst korrigiert den Fehler still: die Kritik bezieht sich auf den 5. Mai 1957, genau zwei Jahre später, und dieses Datum wird auch von den anderen Kritikern bestätigt, die zu Zeugen wurden und andere Blätter mit ihren Berichten belieferten: Heinz Beckmann etwa oder Albert Schulze Vellinghausen. Zunächst aber zu Ulrich Seelmann-Eggebert.
„Das Landestheater Darmstadt kann sich rühmen, den lautstärksten Theaterskandal seit 1933 erlebt zu haben.“ Das darf man getrost einen zweifelhaften Ruhm nennen. Aber immerhin, es verrät uns heute, am 70. Jahrestag der französischen Uraufführung von „Die Unterrichtsstunde“ etwas über Zeit und Umstände und das nicht halbwegs so chiffriert, wie der Einakter selbst seine vermeintliche Botschaft unter die Leute bringen wollte. Weiter der Kritiker: „Nachdem die „Unterrichtsstunde“ schon in Mainz und in Freiburg in schwachen, nicht stilgerechten Aufführungen gegeben worden war, bedeutete Sellners Inszenierung auch für dies Werk eigentlich erst die deutsche Erstaufführung. Die Menschen, die Ionesco auf die Bühne stellt, sind in ein Etwas gestoßen, dem jeglicher Sinn fehlt. Sie können darum nur grotesk erscheinen, und ihr Leiden ist nichts als tragische Ironie, zu makabren Vexierbildern verschlüsselt. „Wie könnte ich“, so schrieb Ionesco einmal, „da die Welt mir unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen?“ Man soll hinter diesem Einakter trotzdem keine verborgene Philosophie sehen. Ionesco hatte nur eine dramatische Bewegung ohne die Hilfe eines Geschehens zeigen wollen, auch wenn sie eine absurde Handlung herumrankt.“
Eines lässt sich sofort verraten: Niemand hielt sich an den Rat des Rezensenten: im Gegenteil, man fand verborgene Philosophien, wo man sie suchen wollte. Wer die fünfziger Jahre und ihren Zeitgeist, ihre Modephilosophien einigermaßen kennt, entdeckt sofort in den dunkel raunenden oder heller munkelnden Sätzen der Deuter und Denker die Existenzphilosophie, in Frankreich eines ihrer Mutterländer habend: allein das Geworfensein ist Indikator-Wort (freilich von Heidegger, aber der stand ja auch jenseits des Rheins hinter allem). Halbe Bibliotheken wurden gefüllt mit tiefsten Überlegungen zu Sinn und Sinnverlust, Sinnlosigkeit, Sinnkrise. In solchen Philosophien, denen der Begriff Sinn wenig oder nichts bedeutete, wären all die Fragestellungen, die sich angeblich daraus für DEN Menschen ergaben, nie denkbar geworden. „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ hieß einst ein noch heute nicht vergessener Titel von Theodor Lessing. Es gab Denker, die banden den Begriff Fortschritt an den Begriff Sinn. Doch, leider: dass jemand ein sinnerfülltes Leben leben kann und die Welt dennoch keinen Sinn hat, ist ein Gedanke, den man zulassen muss, sonst verfällt man jener philosophiebasierten Verzweiflung, die viel zu oft zum Geschäftsmodell wird, ja verfällt.
Wenn einer vierzig Jahre lang seine Verzweiflung zum Markte trägt, dann war er nicht verzweifelt, sondern simulierte es geschäftstüchtig und hatte seine Gemeinde, die ihm das immer wieder gern abkaufte, weil es so schön traurig war. In der sogenannten Moderne, die immer nur Kunst meint, kommt das so häufig vor, dass es eigentlich kein origineller Markenkern mehr sein kann und es funktioniert dennoch immer wieder. Markt heißt eben auch: erfolgreiche Modelle werden ohne alle Hemmung kopiert, solange die Kopien so funktionieren wie das Original. Es gibt kein Urheberrecht für Verzweiflung am Nicht-Sinn der Welt. Es wird Zeit, nach dem zu fragen, worum es in „Die Unterrichtsstunde“ eigentlich geht. Sie wurde in Österreich übrigens auch unter dem Titel „Die Nachhilfestunde“ inszeniert, was mir beinahe der bessere Titel scheint, das Original hieß „Le Lecon“. Am Ende ist das, was der Zuschauer auf der Bühne erlebt, die französische Uraufführung gab es auf einer sehr winzigen Bühne, weder wirklicher Unterricht noch wirkliche Nachhilfe. Wer einem Leser oder Besucher verweigern würde, ganz naiv nach dem zu schauen, was er liest oder vorgeführt bekommt, betriebe bereits von Beginn Budenzauber um des Kaisers neue Kleider.
Also das Geschehen: ein 18 Jahre altes Mädchen kommt zu einem zwischen 50 und 60 Jahre alten Professor, der allein mit seinem Dienstmädchen zu leben scheint, das längst kein Mädchen mehr ist, der Autor nennt als Alter das zwischen 45 und 50 Jahren. Das ankommende Mädchen hat sowohl die Mittlere Reife als auch das Abitur. Der Professor ist einfach nur Professor, man erfährt nicht, welches Fach er vertritt, oder ob er vielleicht nur ein titeltragender Lehrer ist. Früher war es üblich, dass Gymnasiallehrer Professoren hießen, wie noch heute in bestimmten Ländern. Das Mädchen will studieren. Warum sie die Stunde nimmt, wie sie an ausgerechnet diesen Professor geraten ist, erfährt man nicht. Was in der Stunde im Arbeitszimmer des Professors abläuft, ist eine Art von Wissenstest, wie man ihn als Basis für weitere Stunden echter Nachhilfe für denkbar halten kann. Warum aber um alles in der Welt ein Professor eine Abiturientin prüft, ob sie die Grundrechenarten auf dem Niveau eines Schulanfängers beherrscht, bleibt sein Geheimnis wie auch das Geheimnis des Einakters. Und tatsächlich: das 18 Jahre alte Mädchen scheitert schon an allereinfachsten Subtraktionen, sie hätte niemals aus einer ersten in eine zweite Klasse versetzt werden dürfen.
Um verständlich zu machen, welch absurde Situation und Konstellation hier vorgeführt wird, sei verraten, dass diese Schülerin offenbar nicht die einzige ist, kein Einzelfall also, der kurios genug wäre, darum ein wie auch immer geartetes Theaterstück zu bauen. Es scheint ganze Scharen von Schülerinnen zu geben, die die elementarsten Dinge nicht beherrschen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sie nicht dennoch offenbar alle das Abitur geschafft hätten. Wie ihnen das gelang, verrät Autor Ionesco nicht. Dennoch wäre die Frage, ob er ein Stück über das höhere Schulsystem in Frankreich und seine verheerenden Fehlleistungen schreiben wollte, keine völlig an den Haaren herbeigezogene Frage. Offen ist auch, warum zu diesem Professor nur Schülerinnen kommen, nie Schüler, jedenfalls haben alle Kritiker das mit größter Selbstverständlichkeit angenommen, obwohl der Text das keineswegs sicher belegt. Wenn auch am Ende noch eine weitere Schülerin an der Tür schellt, belegt das nichts darüber hinaus. Der seltsame Professor führt das Mädchen, das sagt, seine Eltern wollten für sie ein Studium an allen Fakultäten gleichzeitig, rasch in das Feld der Sprache. Er verwirrt das überraschte und überforderte Mädchen mit extrem verwirrenden Sätzen und Theorien.
Auch hier darf der Leser natürlich fragen, warum der Professor die unsinnige Absicht, an allen Fakultäten zugleich zu studieren, nicht umgehend als idiotische oder wenigstens als praktisch nicht mögliche und theoretisch auch nicht erlaubte zurückweist. Er lässt den Wunsch, der unerfüllbar ist, im Raum stehen und traktiert die Schülerin stattdessen mit Spielchen. Am Ende, viel mehr Inhalt hat der Einakter gar nicht, ersticht der Professor seine Schülerin, das Dienstmädchen hilft ihm, die Leiche aus dem Zimmer zu bringen, während die nächste Kandidatin schon vor der Tür steht. Bis hier wäre alles schon absurd genug, die Absurdität aber wird ins Unermessliche gesteigert dadurch, dass der Theaterzuschauer quasi als Pointe erfährt, dass der eben gezeigte Mord schon der vierte an diesem Tag, der vierzigste insgesamt in einem nicht näher bezeichneten Zeitraum gewesen sein soll. Auf der Bühne wird also allen Ernstes ein Massenmörder vorgeführt, der seine Taten in einer Dichte begeht, gegen die nur echte Amokschützen mit Schnellfeuerwaffen ankommen könnten. Vier Morde an einem Tag sind in der vorgeführten Form schlicht nicht denkbar. Der Literatur lässt sich zudem entnehmen, dass diese vier ein Kompromiss gewesen sein könnten mit einem denkenden Regisseur.
Ich zitiere abermals Ulrich Seelmann-Eggebert: „Aber das absurde Gespräch dieser beiden soll nur eine Folge von Stützen und Wegen sein, auf denen der Schauspieler fortschreiten und seine eigene innere Spannung befreien muss. Zuletzt, wenn der Lehrer von seiner eigenen Rhetorik mitgerissen wird, wenn er im Rausch der Worte zum Messer greift, ist das wie eine Pantomime in Worten. Wenn diese Szene der Ermordung wie ein Ballett konstruiert ist, wird die von Ionesco erstrebte mimisch-komödiantische Entfesselung des Absurden mit geradezu schaurigen Un-Sinnigkeit offenbar.“ Der Kritiker fühlt sich an frühe Farcen von Charlie Chaplin erinnert. Das darf er. Wir aber können uns einem anderen Kritiker zuwenden, einem Österreicher, den ich immer wieder gern zitiere: Friedrich Torberg. Der argwöhnte nämlich, der Rumäne Ionesco habe nahe an der ungarischen Grenze gelebt früher und war oft in Budapest. Die „Unterrichtsstunde“, die er sah und die „Die Nachhilfestunde“ hieß, ist für ihn „in Struktur und Pointierung ein Kabarettsketch von unverkennbar budapesterischer Technik, der mit Karl Farkas als Professor und Fritz Heller als Schülerin noch komischer wäre, als er es sowieso schon ist. Und er ist sowieso schon sehr komisch.“ Beliebigkeit der Assoziation?
„Dabei entlarvt Ionesco aus dieser entleerten Sprache das Nichtssagende unseres alltäglichen Lebens, die Vereinzelung und die Kontaktlosigkeit des heutigen Menschen, die – man möchte es wirklich so nennen – allgemeine Abtrennung von Gott. Er gibt Chiffren unserer nicht nur gefährdeten, sondern schon ins Nichts hinausgeworfenen Existenz, und er schreibt das Menetekel der Vereinzelung und der Angst an die eng versperrten Wände des Seins, man darf ihn mit gutem Gewissen einen radikalen Moralisten nennen, auch wenn die sinnbildhafte Verschlüsselung seiner Ideen sich nicht jedem sofort öffnet.“ Satz für Satz stehen in solcher Kritik Behauptungen über die tatsächliche Welt, die nicht unkommentiert bleiben dürften. Der heutige Mensch ist natürlich nicht kontaktlos, der heutige Mensch ist natürlich nicht vereinzelt, er ist wie immer und ewig ein gesellschaftliches Wesen, das sozial lebt, selbst wenn es asozial lebt. Was aber sind versperrte Wände des Seins? Wo nimmt ein Kritiker solch hellen Blödsinn her, ohne ihn als gekaperte fremde Gedanken zu kennzeichnen? Doch steht Ulrich Seelmann-Eggebert mit solchen Ergüssen nicht allein, auch bei Ernst Wendt oder Martin Esslin finden sich Behauptungen, die sprachlos machen.
Ein Beispiel? „Da ist, zunächst, ein zweites Sprach-Kunst-Stück, eine Unterrichtsstunde über die Möglichkeit und Unmöglichkeit, mit Hilfe von Sprache Sinn zu transportieren, ein Exkurs über das Misstrauen gegenüber der Wahrheit von Worten. Was sich nicht sagen lässt, lässt sich nur auf dem Theater sagen: dies ist die Probe darauf.“ Das kann man noch gerade so durchgehen lassen. Dann aber, über Sprache angeblich, angeblich bei Ionesco: „Zur Verständigung ist sie, weil entweder verfault, verdorben, abgesackt, zerplatzt oder mit individuellen Energien beladen, kaum tauglich, es sei denn auf dem Weg über die Poesie, den rauschhaften Höhenflug, befördert von zitterndem, zitterndem Wind.“ Man stelle sich das in der Wirklichkeit vor: Sprache tauge nur auf dem Weg über die Poesie zur Verständigung: Müssten Chefredakteure dann ihre Leitartikel reimen oder jedenfalls in Celan-Zeilen fassen? Müssten Theaterkritiker ihren Job nicht völlig aufgeben, wenn sie nicht einmal mehr mitbekommen, worüber und was sie eigentlich schreiben? Oder wollen Kritiker gar nicht verstanden werden? Hier stammen die Zitate von Ernst Wendt, der 1967 ein ganzes Büchlein über Eugéne Ionesco drucken ließ, der auch selbst Regie führte. Nun noch Proben Martin Esslins.
Er hat es mit „Das Theater des Absurden“ zu enzyklopädischem Ruhm gebracht, also Nachauflagen in „rowohlts enzyklopädie“, um genauer zu sein. „Hier wird bewiesen, dass eine Verständigung grundsätzlich unmöglich ist – Worte können keinen Sinn vermitteln, weil sie die persönlichen Assoziationen außer Acht lassen, die das jeweilige Individuum mit ihnen verbindet. Das scheint auch einer der Gründe zu sein, die den Professor daran hindern, sich seiner Schülerin verständlich zu machen.“ Worte können keinen Sinn vermitteln, weil persönliche Assoziationen unberücksichtigt bleiben? Worte lassen gar nichts außer Acht, allenfalls diejenigen, die sie nutzen oder missbrauchen. Wenn Verständigung grundsätzlich unmöglich ist, muss niemand die alberne Idee, Theaterstücke zu schreiben, realisieren, für wen denn? Niemand muss sie sich ansehen, er versteht ohnehin nichts. Noch weniger muss jemand, der nichts verstanden hat, davon schreiben, dass er nichts verstanden hat, weil das ja auch niemand verstehen würde. Glaubt jemand, der nicht vom Wickeltisch fiel, nachdem er vorher zu heiß gebadet wurde, dass Ionesco solchen Blödsinn „bewiesen“ habe?
Martin Esslin folgt in bestimmten Linien einer Interpretation, die Pierre-Aimé Touchard drucken ließ. Ihm zufolge stellt „Die Unterrichtsstunde“ „den im Lehrer-Schüler-Verhältnis immer enthaltenen Herrschaftsanspruch in karikierter Form dar. Der Professor tötet die Schülerin, weil die Zahnschmerzen ihr einen Vorwand lieferten, seinem Unterricht nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen. … Wenn Diktatoren spüren, dass ihre Macht über das Volk im Schwinden ist, wollen sie die rebellischen Elemente vernichten, wodurch sie aber auch die Objekte ihrer eigenen Herrschaft verlieren.“ Ist eine Unterrichtsstunde, eine Nachhilfestunde, auch nur in irgendeiner Hinsicht ein Modellfall für Macht und ihren Missbrauch? Als gäbe es nicht ganz andere Machtverhältnisse, ganz anderes Machtverhalten, das keineswegs über Sprache geregelt, noch nicht einmal sonderlich aufwendig über Sprache gerechtfertigt würde. Wo lebten diese Theoretiker und Deuter? Eine Schülerin umbringen, weil sie wegen Zahnschmerzen nicht richtig zuhört, mehr nicht? Sie hört nicht etwa gar nicht zu, nur eben nicht richtig? Natürlich muss es hier einen Aufschrei geben: Man kann ein absurdes Drama doch nicht so lesen! Wie aber sonst, bitte schön? Man kann.
Schon ein schlagender Lehrer ist im Lauf der Jahre immer mehr in Verruf geraten, ein undenkbarer Fall heute, er würde sofort fristlos und womöglich unter Verlust seiner Pensionsansprüche entlassen. Einer aber, der einen Schüler umbringt, weil der nicht ordentlich zuhört, wäre ein kombinierter Fall für Staatsanwalt und Psychiater mit Sicherheitsverwahrungs-Option. Ionesco hätte gar einen lehrenden Massenmörder auf die Bühne gebracht, wofür sollte das Modell sein? Für nichts natürlich. Er hat ein aufregendes, verrücktes, eben ein absurdes Stück geschrieben. Über das man lachen darf nicht zwingend muss. Man höre diese These des Professors: „Man muss nicht immer nur zusammenfassen wollen, man muss auch auflösen. So ist das Leben. So ist die Philosophie. So ist die Wissenschaft überhaupt. Das nennt man Fortschritt. Zivilisation.“ Man lese diesen Dialog: „Sind die Wurzeln der Worte quadratisch?“ fragt die Schülerin, und der Professor antwortet: „Quadratisch oder kubisch, je nachdem.“ Das ist absurdes Theater in Reinkultur. Wenngleich sehr viel weniger neu in den fünfziger Jahren, als alle gern glaubten, weil man es ihnen glauben machen wollte. Nicht umsonst verhedderten sich Deuter auffällig oft an Worten wie grotesk oder surreal.
Man könnte die Frage aufwerfen, warum gerade in den fünfziger und bis in die sechziger Jahre das Surreale, das Groteske mit neuen Klebeetiketten eine frische Konjunktur hatte und dann aus der Aufmerksamkeit so radikal verschwand, dass man heute die besten Stücke des absurden Theaters durch die Bank wieder gut spielen könnte und sehr wahrscheinlich höchst vergnügt aus dem Theater kommende Besucher hätte dabei. Die Frage ist vermutlich sogar schon irgendwo beantwortet, wo es niemandem auffällt. Noch einmal Martin Esslin: „Während sich die Sprache weiterhin auf der Ebene von Frage und Antwort, von erbetener und erteilter Auskunft bewegt, wird die Handlung immer gewalttätiger, sinnlicher und brutaler. Alles, was von dem komplizierten Wissensgebäude, von der Unterweisung (in ihrer parodierten Form) und dem Begriffssystem übrigbleibt, ist die grundlegende Tatsache, dass der Professor seine Schülerin tyrannisieren und besitzen will. Ionesco hat „Die Unterrichtsstunde“ als „drame comique“ bezeichnet. Das Stück hat zweifellos viele burleske Züge, aber es ist gleichzeitig ein sehr starkes und pessimistisches Drama.“ Bleibt am Ende kaum mehr als Sex und Gewalt auf der Bühne? Das wäre in der Tat ein starkes Stück in den 50ern.
„Wie kommt es zustande, dass die Leute im Volk sich untereinander derartig gut verstehen und doch nicht wissen, welche Sprache sie eigentlich sprechen?“ Das fragt der Professor und ist damit an einer wohl entscheidenden Stelle: Das Volk ist von dieser Problemlage gar nicht betroffen, es ist eine Problemlage einer sehr kleinen Menschengruppe, der Intellektuellen, noch nicht einmal aller aus dieser Großgruppe. Es gehört zur Verständigung mit Sprache eben nicht das allergeringste philologische, linguistische, semiotische, semantische, semiologische (nach Belieben zu ergänzen!) Wissen. Schon im Kindergarten verstehen sich Kleinstkinder aus diversen Sprachherkünften zum Teil sogar noch nonverbal bestens. Falls die Theorie-Komiker des allgemeinen und vollständigen Sprachzweifels eigene Kinder (und Enkel) haben, werden sie das leichter in Erfahrung bringen als sie je im Leben ein Nagel werden einschlagen können, ohne vorher Michel Foucault zu lesen oder Pierre Bourdieu (wahlweise Wittgenstein). Georg Hensel schrieb: „Niemand hätte wohl vermutet, dass ausgerechnet das Darmstädter Theater der direkten Wirkung einer Spielart des Theaters zum Durchbruch verhelfen könnte, die von der indirekten Wirkung lebt, dem „absurden Theater“.“
Und genau das ist das Schöne an der Theatergeschichte: Sie ist eben nicht voraussehbar, in ihren besten Momenten jedenfalls nicht. Dennoch haben einige Zuschauer den Skandal entweder geahnt oder absichtlich herbeigeführt. Im Theater gilt nicht die Regel, die in der Rechtsprechung den Unterschied macht zwischen Mord und Totschlag: der erkennbare Vorsatz. Wer mit Trillerpfeife ins Theater geht, macht sich des Vorsatzes verdächtig. Aber es gibt ja auch Menschen, die nur deshalb zu einer Premiere gehen, um sie vorsätzlich verlassen zu können. Dabei werden sie gesehen, bei der dritten Vorstellung würde es allenfalls registriert. Gesehen werden ist alles, lautet die Abwandlung der olympischen Idee im Felde des Theaterwesens. Selbst der Kritiker, der Reihe 6, Parkett Mitte einnimmt, wartet, bis alle sitzen, ehe er sich durchzwängt, auch er will gesehen werden. Martin Esslin fand es übrigens keineswegs seltsam, dass ein Professor 41 Schüler an einem Tag am Ende einer Unterrichtsstunde ermordet haben soll. Er hätte den Mathematiktest bei diesem Professor auch nicht bestanden, er hätte 24 Stunden mit 41 Morden ins Verhältnis bringen müssen. Nicht zu reden von der Beseitigung all der Blutspuren nach jedem Einzelmord, von der Bevorratung mit Särgen.
„Es ist erlaubt, über dieses makabre Drama zu lachen, denn es nennt sich selbst ein komisches Drama. Nur braucht man zum Lachen hier doch wohl sehr viel ontologische Leere (oder Schnaps). Niemand wird Ionesco tadeln, weil er den Menschen vorexerzieren möchte, wie wenig (oder gar nicht) sie noch am Leben sind. Tatsächlich aber befördert er den beklagenswerten Zustand einer ontologischen Leere mit seinen abgezweckt absurden Theaterstücken, in denen nirgend Gegenkräfte einer ontologischen Fülle spürbar werden, nicht einmal als Reservoir eines heilsamen Spottes. Seinem Feind, den er zu bekämpfen vorgibt, ist Ionesco längst zum Opfer gefallen, mit Haut und Haaren und in jeder Gehirnwindung.“ Heinz Beckmann schrieb das, der auch den Ionesco-Abend mit beiden Stücken sah in Darmstadt offenbar. Auch ihn verwunderte es nicht weiter, wie einer an einem Tag vierzig Schülerinnen ermorden kann, der zunächst schüchtern und zurückhaltend ist und später immer agiler und mörderischer wird. Der also immer wieder bei Null beginnen muss und das 40mal an einem Tag. Es scheint am besten zu sein, exemplarische Werke des absurden Theaters einfach mit mild perverser Lust zu genießen und dann einfach nicht mehr darüber nachzudenken.